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N°4/2021
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Perlenkettenbrief Vol. 1

Gesendet: Dienstag, 19. Oktober 2021 16:55 Uhr

Text

Der Name ist der Redaktion bekannt

Wir kennen uns nicht, trotzdem sind wir uns verbunden, mit einer Perlenkette. Ich kenne Deinen Namen, aber weiss nicht wer Du bist. Ich habe gegoogelt und wie schön: das Resultat lässt mich zweifelnd zurück. Dein Name und Vorname ist alles – viel in der kleinen Welt der Kunst, aber nicht ganz ausreichend für eine einwandfreie Identifikation. So bin ich auf wackeligen Füssen. Was soll, kann ich Dir, mir unbekannte Person, schreiben? 

 Prosa: kann ich nicht. Lyrik: noch viel weniger. Essay: puh, nicht schon wieder an dieser Stelle. Rumours: Klingt gut, aber nein, hm, geht, mit mir, bei mir, also auch nicht. Gossip: noch viel weniger. Fake-News. Nein. Nein. Nein. Mich befällt eine Scham, angesichts der Tatsache, dass ich nun innert 24 Stunden an eine mir zwar namentlich, aber sonst weitgehend unbekannte Person, die mir auf eine bestimmte Art und Weise, nämlich als Angehörige*r der gleichen Institution, verbunden ist, schreiben soll und dass diese Schreibe in der HKB Zeitung veröffentlicht wird. Gut, ich bleibe ja auch anonym – wenn denn meine Sprache und Inhalt meines Mailing mich nicht verraten. Trotzdem fühle ich mich nicht frei, in dieser Schreibe. Das mag in Rolle begründet sein, die ich in dieser Hochschule einnehme. Oder ist es viel mehr? Eine allgemeine Scham vor unbekannten, aber dennoch persönlichen Dingen und Prozessen?   

Kürzlich war ich an einem Theaterabend. Es ging in diesem Stück um Scham.
Was ist Scham?
Wo und wie hast du sie erlebt?
Warum überhaupt?

Geschichten zum Thema wurden erzählt, von den Performer*innen, aber auch aus dem Publikum. Jede*r hat sie, Schamgeschichten. Mich hat diese Vorstellung der anstehenden Theatervorstellung interessiert: Jede*r hat sie, Scham, und keine*r will sie teilen. Irgendwie hat es mich auch genervt. Ach, lasst doch die Scham dort wo sie ist und hingehört. In unserem Innersten. Weil artikulierte Scham uns entblösst. Muss das auch im Theater sein? Muss denn alles auf die Bühne gezerrt und verhandelt werden? Und dazu wird man im Publikum noch befragt? Igitt.  

Gut, der Abend war vergnüglich. Ich musste lachen und schmunzeln, manchmal waren die Stories auch beinhart, Kriege und dergleichen. Die können auch Scham erzeugen. Und dies zu sagen, fühlt sich schamhaft an. 

Anyway, meine Geschichte: Jahrelange ging ich in das gleiche Brockenhaus einkaufen. Der dortige Geschäftsführer war sehr aufmerksam, hat mich immer umständlich begrüsst, ja schon fast devot. Mir auf jeden Fall war’s lästig, und ich habe versucht, dem Typen aus dem Weg zu gehen, wenn ich das das Brocki betrat. Was mir fast nie gelang. Ich ging aber trotzdem hin, aus lauter Bequemlichkeit, das Brocki lag gleich um die Ecke. Einestages schnappte ich mir einen Mantel – er gefiel mir sehr.
Ich habe ihn noch heute, allerdings arg verschlissen. Aber der Preis? Eine Zumutung! 90 Franken. Im Brocki, Secondhand. Geht’s noch, dachte ich, und streifte mir den Mantel über, ging an der Kasse vorbei, straight zum Ausgang. Ja klar, an dieser Stelle wartete der Geschäftsführer, ich war ein bisschen aufgeregt, weil… er aber nickte freundlich und wünschte mir alle Gute. Als ich draussen war, entdeckte ich am Kragen handgrosses Schild: «Frisch gewaschen». Mich packte eine angstvolle Scham. 

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil ich sie nie vergessen, sie mir an diesem Theaterabend  in den Sinn gekommen ist, und nun erneut, wo ich diese Zeile zu schreiben habe. Es ist wohl wahr: Scham ist gut oder schlecht, aber vor allem kann man sie nicht vergessen. 

Denn sind nicht gerade diese Ereignisse, die zu inneren und äusseren Konflikten führen, wertvollste Nahrung für den tätigen Geist? Was wäre mein Leben ohne die alltäglichen Peinlichkeiten, die mich auf mich selbst, und auf die Conditio Humana zurückwerfen. Im Grunde bin ich nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine immerzu schwärende Möglichkeit, ein stetig drohendes Fiasko, ein nie ganz beschriebenes Blatt. 

Yeah, nun nimmt mich wunder, liebe*r (der Name ist der Redaktion bekannt), wie Deine Perlenkette weitergeht. Ich werde es lesen, in der HKB Zeitung. 

Bis Dann, beste Grüsse, Dein (der Name ist der Redaktion bekannt)