Zurück in die Gegenwart: Wirtschaftlichkeit, Kulturförderung und Gesellschaft
Vor gut zehn Jahren hat der Diskurs über Kreative und Kreativität als Wirtschaftsfaktor in der Schweiz an Fahrt aufgenommen. Wo steht die Kreativwirtschaft heute, am Ausgang einer Pandemie, die einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel evoziert? Die HKB- Zeitung hat mit Hedy Graber und Christoph Weckerle gesprochen, die an Schaltstellen der Kreativwirtschaft in der Schweiz agieren.
2008 erschien die Studie Kreativwirtschaft Schweiz. Daten. Modelle. Szene im Birkhäuser Verlag. Sie wurde von der Research Unit Creative Industries, einer Einheit des Departements Kulturanalysen und -vermittlung, umgesetzt, das Christoph Weckerle zwischen 2007 und 2010 an der neu formierten Zürcher Hochschule der Künste etablierte. Der Begriff «Kreativwirtschaft» wurde in der Zürcher Studie als Paradigma verwendet, um die Situation Kulturschaffender in der Schweiz im europäischen Kontext in den Blick zu nehmen. Mit dieser Studie wurden definitorische Grundlagen geschaffen und Handlungsempfehlungen für eine Förderung der Kreativszene formuliert, die bis heute zitiert werden: «Unter Kreativwirtschaft versteht man in der Schweiz diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und medialen Verbreitung von kulturellen und kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen.» 1 Anstelle eines Fazits wurde aufgezeigt, wie das Ergebnis der Studie, eine Vorgehensweise für die Schweiz in vier Phasen, umgesetzt werden könnte, für die eine Dachorganisation zu gründen wäre, die als Förderagentur für Innovation des Bundes den Wissens- und Technologietransfer zwischen Unternehmen und Hochschule unterstützt.2 Diese Dachorganisation gibt es heute nicht. In der Rückschau markiert 2008 das Jahr, in dem die Olympischen Spiele in Peking feierlich eröffnet wurden, die chinesische Provinz Sichuan von einem folgenschweren Erdbeben heimgesucht wurde, die globale Finanzkrise ihren Höhepunkt erreichte, Barack Obama sein Amt als President of the United States of America antrat und in der Schweiz die Einbürgerungsinitiative abgelehnt wurde. Während ein Massnahmenpaket auf Bundesebene und eine damit verbundene Zentralisierung ausblieben, wurden einzelne Kantone und Städte mit unterschiedlicher Intensität aktiv. In der Folge haben sich Zürich und Basel um die Erhebung von Daten, den Austausch und die Diskussion mit Akteur*innen bemüht. An die Stelle von Angst, dass die Kultur flächendeckend ökonomisiert, von der Wirtschaft ohne jedwede Chance auf Aushandlung von Interessen vereinnahmt werden könnte, trat das Interesse, sich mit den Realitäten auseinanderzusetzen, Untersuchungsmethoden wie mündliche Interviews und quantitative Befragung zu verschränken, zu evaluieren und Handlungsfelder aufzuzeigen.
Auskommen in Strukturen und Förderpolitiken
Im Wirtschaftsbericht des Kantons Basel-Stadt 2007/2008 wurde die «Kreativwirtschaft» neu neben den Lifesciences, der chemischen Industrie, der Logistikwirtschaft und den Finanzdienstleistungen in den Status der Zielbranche zur Weiterentwicklung des Wirtschaftsstandorts Basel erhoben. Der Studie, die im Auftrag des Amt für Wirtschaft und Arbeit, Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt des Kantons Basel-Stadt erstellt und im Mai 2010 publiziert wurde, liegen drei Fragen zugrunde: «Braucht Basel die Kreativwirtschaft? Welche wirtschaftliche Rolle und Bedeutung haben die Kreativen? Lohnt es sich aus einer ökonomischen Perspektive die Kreativwirtschaft oder Teile davon staatlich zu fördern?» 3 Mit der Designwirtschaft, dem Architekturmarkt und dem Kunstmarkt wurden drei besonders ausgeprägte Märkte identifiziert, übergeordnete Handlungsfelder aufgezeigt und politische Entscheidungsträger*innen und Institutionen aufgerufen, die «kulturellen Leistungen der Kreativwirtschaft nicht nur aus der Sicht des Standortmarketings» zu betrachten, sondern als «umfassendes, heterogenes und dynamisches Wirtschaftsfeld».4 Die damaligen Sprecher*innen und Akteur*innen aus den drei Kernmärkten haben mehrheitlich ihren Platz und ein Auskommen in Strukturen und Förderpolitiken gefunden, die sie vorgeschlagen, mitaufgebaut haben, oder Möglichkeiten gefunden, sich aus den Abhängigkeiten der Kulturförderung zu emanzipieren. Schweizer Städte, insbesondere Zürich, haben in die Schaffung von baulichen, steuerrechtlichen und digitalen Infrastrukturen investiert, die für Creative Industries attraktiv und notwendig sind. Die Hochschulen bringen sich im innerschweizerischen, europäischen und globalen Wettbewerb in die Professionalisierung künftiger Kulturschaffender ein.
Neues Krisenbewusstsein
Mit der seit Ende 2019 weltweit grassierenden Pandemie ist deutlich geworden, dass derartige Studien historische Quellen sind – mit einem langen Schatten in die Gegenwart. Es zeigt sich, dass in ihren Prämissen Aspekte nicht vorkommen, die wie Krisenbewusstsein und Ökonomien, die sich von der auf Wachstum ausgerichteten Geldwirtschaft unterscheiden, zum Kulturschaffen dazugehören. Rechenschaftsberichte über die Nützlichkeit der Studien liegen nicht publiziert vor. Eine kontinuierliche Erfassung von Daten, wie viele Kulturschaffende in einem Kanton in welchen prekären, anteilig oder gesamthaft selbsttragenden Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, hat in den Verwaltungen nicht stattgefunden. Die Herausforderung wird konkret, die drängenden Fragen aus einer Gesellschaft für eine Gesellschaft und eine Kultur als Teil eines Selbstverständnisses zu stellen, das Themen wie soziale Ungleichheit, Rassismus, Klimawandel und Ethik nicht ausweicht. Was wird sichtbar, wenn man die Frage nach Wirtschaftlichkeit und Kulturförderung bewusst aus einer postpandemischen Zeit stellt und dabei berücksichtigt, dass das Forum Kultur und Ökonomie zu seinem zwanzigjährigen Bestehen Trends, Potenziale und Szenarien der Förderung für 2040 thematisiert und publiziert hat? 5 Vor allem, dass nach der Erholung der globalen Finanzmärkte viel Zeit mit Diskussionen vergangen ist, Symptome der Wechselwirkungen zwischen globalem Kapitalismus und Epidemiegeschehen unterrepräsentiert blieben und dass Akteur*innen aus der Anfangsphase der Sensibilisierung wie Hedy Graber (Leiterin Direktion Kultur und Soziales, Migros-Genossenschafts-Bund) und Christoph Weckerle (Leiter Zurich Centre for Creative Economies) nach wie vor in dem Feld tätig sind, das sie miterschlossen haben. Diese Prämisse macht sie zu interessanten Gesprächspartner*innen zu Fragen danach, wo sie aus ihren Erfahrungshorizonten die Erfolge und Defizite der Entwicklungen der letzten zehn Jahre sehen, was ihre Einschätzung zur gegenwärtigen Lage der Kreativwirtschaft in der Schweiz ist und wo sie sich an ihren aktuellen Stellen und mit den Verantwortlichkeiten aus ihrem eigenen Werdegang einsetzen.
Neue Fördermodelle
Hedy Graber übernahm 1990 die Co-Leitung der Kunsthalle Palazzo in Liestal gemeinsam mit Philip Ursprung, zwischen 1998 und 2004 war sie als Beauftragte für Kulturprojekte des Kantons Basel-Stadt tätig: Wir wollten einen Kunstraum betreiben, der Künstler*innen unserer Generation eine Plattform gibt, und setzten auf lokale, nationale und internationale Positionen. Heute können wir mit Stolz sagen, dass zahlreiche dieser Positionen ihren Weg gefunden haben und international bekannt sind. Es war für mich auch ein Ort, erste Erfahrungen als Kuratorin, aber auch als Geschäftsführerin zu machen. Die Kunsthalle Palazzo funktionierte wie ein Offspace: Wir hatten wenig finanzielle Mittel und machten deshalb fast alles selbst – eine wertvolle Erfahrung. (…) Als Beauftragte für Kulturprojekte war ich für die sogenannte freie Szene zuständig: Da galt es, neue Fördermodelle zu konzipieren und Festivals weiterzuentwickeln. Weckerle war Anfang der 1990er-Jahre Mitglied eines Advisory Board des Europarats, der sich mit Forschung im Bereich Kulturpolitik befasste. Ebenfalls hatte er in den 1990er-Jahren für das NFP 42 die kulturellen Aussenbeziehungen der Schweiz analysiert. Es war augenfällig, dass sich der Kulturbegriff im Wandel befand. Auch wurde erkennbar, dass sich die Definition der Künstlerin, des Künstlers, der Kunst und die Art über Kunst zu sprechen, dynamisch entwickelte. Mir war es unter dem Einfluss der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst und ihrer Studierenden ein Anliegen, die Dynamiken so abzubilden, wie sie sich nah am Geschehen präsentierten. Seit 2004 leitet Graber die Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund, verantwortet die nationale Ausrichtung des Migros-Kulturprozent und den Migros-Pionierfonds, ist Präsidentin des Vereins Forum Kultur und Ökonomie und Mitglied verschiedener Jurys, Stiftungs- und Verwaltungsräte. Die Lage der Kreativwirtschaft hat sich im letzten Jahr dramatisch verändert. Wie sich die aktuelle Situation auswirken wird, ist noch nicht abschätzbar. Mit dem Forum Kultur und Ökonomie organisieren wir am 22. Juni eine Online-Tagung für Kulturfinanzierende, die sich spezifisch mit den anstehenden Transformationen auseinandersetzen wird: Wir beleuchten die Pandemie als Prüfstein und als Chance zur Transformation für Kultur, Publikum und Kulturfinanzierung.
Verpasst: interessantere Konzepte
Als einer der drei Autoren der Studie zur Kreativwirtschaft Schweiz sieht Weckerle kritisch, welche Konsequenzen aus der Verankerung der Debatte in der Schweiz gezogen wurden: Es ist sicherlich gelungen, die Debatte in der Schweiz breit zu verankern. Es gibt kaum mehr Verbände, Städte, Regionen, Ausbildungsgänge, welche den Begriff nicht auf die eine oder andere Art in ihren Konzepten, Leitbildern oder Strategien erwähnen. Gleichzeitig hätte die Schweiz mit ihrer Kleinräumigkeit und der hohen Dichte an interessanten Organisationen und der Ausstattung mit Ressourcen die Voraussetzung für interessantere Narrative und Konzepte geboten. Grabers Einschätzung der gegenwärtigen Lage setzt die Erfolge der Professionalisierung in ein Verhältnis zur Qualität der Inhalte: Die Kreativwirtschaft hat sich in den letzten Jahren professionalisiert: Wirkungsorientierung und Nachhaltigkeit sind in den Fokus gerückt, gekoppelt an Strategien, die auf ein zeitgenössisches gesellschaftliches Bild abzielen. Es gibt Ausbildungsgänge, Weiterbildungen, Vernetzungsangebote für unterschiedliche Akteur*innen der Kreativwirtschaft.
Das Versagen der Kreativwirtschaft
Weckerle wird konkreter, er bezieht seine Beobachtungen während der Zeit der Pandemie in die Einschätzung der aktuellen Situation ein: In statistischen Analysen braucht die Schweiz keinen Vergleich zu scheuen. Es gibt jedoch Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen: Wir sollten uns nun von der definitorischen Debatte (Was zählen wir alles zur Kreativwirtschaft?) lösen und mehr auf die Ebene von Praktiken und Prozessen fokussieren: Wer gehört eigentlich zur Kreativwirtschaft und was tun diese Leute? Eine solche Sichtweise eröffnet interessante Schnittstellen mit dem hochkarätigen Forschungsbereich der Schweiz, mit Initiativen zu sozialer Innovation, mit interessanten Labs. Es ist während Covid-19 nicht gelungen, Kunst/Kultur als systemrelevant zu definieren. Hier hat auch die Kreativwirtschaft versagt. Grabers Äusserungen zum aktuellen Tätigkeitsfeld stehen selbstbewusst in einer Erfolgsgeschichte von Fördermassnahmen und -methoden, die wie die Kulturbüros, der Leitfaden zur Evaluation in der Kultur und die Edition Digital Culture umgesetzt wurden und werden 6: Es ist uns ein Anliegen, den aktuellen Bedürfnissen der Kunstschaffenden Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich unsere Förderformate und unsere eigenen Projekte stetig weiter. Letztes Jahr lancierten wir die Ideations- und die Diffusionsförderung, dieses Jahr für audiovisuelle Formate das Migros-Kulturprozent Story Lab: Wir sehen uns einerseits als Ermöglichende. An den Stellen, an denen wir Akzente setzen wollen, sehen wir uns andererseits als «Driver». In Weckerles aktuellem Tätigkeitsprofil als Leiter des Zurich Centre for Creative Economies (ZCCE) durchdringen sich Aufgaben, zu denen auch die Lehre im Studiengang Kulturmanagement an der Universität Basel und an der Universität Lausanne gehört: Ich unterrichte an der Uni Basel, an der Uni Lausanne, gebe Workshops für Länder der arabischen Welt oder für Programme in Hongkong. Es ist mir wichtig, den direkten Austausch mit der «next generation» zu haben, weil ich von ihr viel lerne. Dabei stehen die Länder, in denen ich unterwegs bin, auch für die Tatsache, dass die Creative Economies nur als globales Phänomen verstanden werden können. So unterschiedlich die Kontexte und Rahmenbedingungen sind, so verschieden sind die Verständnisse von Kunst, von Kultur, von Wirtschaft, von Creative Economies. Dies ist auch eine meiner Hauptbotschaften: Es gibt kein fertiges Modell, welches übernommen oder kopiert werden kann.»
Creative Core in Creative Business
Im Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 1/2019 hat Weckerle den Beitrag «Kreativwirtschaft – schillernd, unscharf, neu zu denken» veröffentlicht. In diesen Beitrag sind Überlegungen zu einem Verständnis von Innovation eingeflossen, das sich vom technologischen Fokus und von linearen Logiken emanzipiert, transdisziplinär und iterativ gedacht ist. Der Beitrag mündet in der Vorstellung eines Modells der Creative Economies, das als «dynamisches Zusammenspiel von drei Sphären, dem Creative Core, der Collocated Sphere und der Extended Sphere, gedacht ist. (…)» 7
Der Creative Core ist zugleich weiter und enger gefasst als im Verständnis der Creative Industries: Weiter insofern, als wir wissen, dass Inventions-, Realisierungs- und Vermittlungsprozesse meist zwischen den traditionell definierten Branchen der Kreativwirtschaft und anderen gesellschaftlichen Feldern wie Wissenschaft, Technologie oder Industrien stattfinden. Enger insofern, als kein unscharfer Kreativitätsbegriff postuliert wird, sondern spezifische Praktiken und Prozesse der Kreation, die sich empirisch beschreiben lassen. Diese Fundierung der postulierten sozialen Innovationskraft der Kreativwirtschaft ist notwendig, wenn die Diskussion über die Creative Economies zukunftsfähig bleiben soll. Wird der Blick von 2040 als anvisiertem Datum der Studie des Forums Kultur und Ökonomie zurück in die Gegenwart gerichtet, zeigt sich Gouvernementalität (gouvernementalité) als Teil eines Prozesses, der gerade erst begonnen hat. 8 Dazu gehört das Interesse, Foren und Förderformate selbst anzubieten, die Ende der 2000er-Jahre noch von politischer Seite erhofft wurden. In diesem Prozess unterzieht sich ein (kleiner) Teil des Kulturbetriebs und seiner Akteur*innen einer Selbstreflexion auf Machtstrukturen, Ausschlussmechanismen und Ökologie. Das ist ein Anfang mit offenem Ausgang, in dem neu verhandelt wird, was kulturell relevant ist, und nach einer Pause die Gesellschaft wieder als Faktor in den Blick rückt, vor dem es sich zu verantworten gilt.
Fundamentaler Generationenwechsel
Dass für die documenta 15 mit ruangrupa ein Künstler*innenkollektiv aus Indonesien verpflichtet wurde, dass sich konsequent dem ökologischen Handeln verpflichtet sieht, mag ein Zufall sein. 9 Es zeigt aber in aller Deutlichkeit, dass sich im Kulturbereich ein fundamentaler Generationswechsel vollzieht. Darin liegen auch die Chancen eines Umbaus von Verwaltungs- und Förderstrukturen. Diese Transformationen werden begleitet von Forschung und einer vertiefenden Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichem Arbeiten und Künstler*innen-Kollektiven aus einer globalen Perspektive.