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N°1/2021
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Wortschatz im Wandel

Ein Gespräch mit der Linguistin Christa Dürscheid über trendige, konservierte und vergessene Wörter. 

Interview

Guten Tag, Frau Dürscheid, Sie sind Linguistin und verfolgen unter anderem Trends in der Gegenwartssprache. Welches ist Ihr Lieblingsbeispiel für ein Wort, das plötzlich in Mode gekommen ist?
Was die Pandemiesituation betrifft, gibt es eine ganze Sammlung von Neologismen, nicht nur aus dem Englischen – «Lockdown» oder «Shutdown» –, sondern auch Wörter wie «stosslüften» oder «Virusvariantengebiet». Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache hat schon um die 1000 neue Wörter rund um die Corona-Pandemie gesammelt. 1 Unabhängig von aktuellen Entwicklungen gibt es hingegen Wörter wie «spannend», «kreativ» oder «das Narrativ», die in Mode kommen, ohne dass man weiss, warum. Man braucht sie nicht aufgrund neuer Sachverhalte. Für «spannend» gibt es Wörter wie «interessant» und «anregend». Wozu muss man dieses Wort so überstrapazieren? 

A propos «stosslüften»: Die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften setzte diesen Begriff auf Platz 3 der Wörter des Jahres 2020 2 
Ich hatte in meinem Twitteraccount Variantengrammatik3 bereits vor ein paar Monaten über «stosslüften» geschrieben. Viele Leser*innen aus dem Ausland konnten mit diesem Wort gar nichts anfangen, weil sie das Konzept «stosslüften» nicht kannten. Erst mal muss man dieses Konzept haben, dass man öfters das Fenster öffnen müsste, um etwas gegen die Aerosole in der Luft zu tun. 

Oder nach dem Mauerfall waren in Deutschland Wörter wie «Ossi», «Wessi» oder «die neuen Bundesländer» neu im Sprachgebrauch. Die wurden viel häufiger gebraucht als heute, weil es einfach wichtig war, zu benennen, wovon man spricht. 

Es gibt die Datenbank Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. 4 Da kann man sich die Karriere eines Wortes über die Jahrzehnte anschauen. Ich habe das für «knorke» gemacht. Das ist ein älteres Wort, das vor 50 Jahren in Deutschland verwendet wurde, heisst so viel wie «super», «mega», «cool», «geil». Ich habe mir so eine Wortverlaufskurve anzeigen lassen und da sieht man sehr schön, wann «knorke» populär wurde und wann die Kurve wieder abgefallen ist. Für historische Entwicklungen kann man da interessante kleine Studien anstellen. 

Da muss ich an den bekannten Satz von Ludwig Wittgenstein denken: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» So gesehen, bedeutet Wortschatzwandel ja auch eine Verschiebung dieser Grenzen, bedeutet zugleich Erweiterung und Verlust von Wahrnehmung, von Ideen. Hat das für Sie etwas Besorgniserregendes?
Wenn die Wörter nicht mehr im Gebrauch sind, heisst das ja noch nicht, dass wir sie nicht mehr kennen. Der passive Wortschatz ist bei Muttersprachler*innen viel grösser als der aktive. Andere Wörter wiederum sind noch im Gebrauch, aber haben eine Bedeutungsveränderung erfahren, beispielsweise «Frau» meinte im Mittelhochdeutschen eine Adelige («frouwe»). Unsere Sprache ist so dynamisch. Für mich als Linguistin ist es interessant, zu sehen, wie sich der Sprachgebrauch verändert, wie er sich auch anpasst, wie wir immer wieder neue Ausdrucksweisen finden.  

Ein Plädoyer für die Lebendigkeit!
Ja, das kann man so sagen. Manches wird ja auch konserviert in der Sprache. Zum Beispiel wenn man beim Telefonieren sagt: «Ich lege auf.» Die Wenigsten haben noch einen Telefonapparat, wo man den Hörer auflegt. Oder man sagt «das Licht löschen», aber es ist keine Kerze mehr da, die man ausbläst.  

Wie erforschen Sie Wortschatzwandel und Veränderungen in der Gegenwartssprache?
Man kann Korpora durchsuchen, etwa Zeitungsdatenbanken, muss aber unterscheiden, ob man induktiv oder deduktiv vorgeht. Deduktiv würde heissen, man vermutet, dass bestimmte Wörter populär geworden sind, und durchsucht dann das Korpus danach. Wenn die Datenbank aus Texten zusammengestellt ist, die im Zeitraum von zehn oder zwanzig Jahren veröffentlicht wurden, kann man so vielleicht eine Entwicklung feststellen. – Aber wie findet man Wörter, auf die man noch gar nicht aufmerksam wurde? Das ist schwieriger. Man könnte bei der Suche sagen: Zeige mir alle Adjektive, die im Kontext eines Substantivs vorkommen, zum Beispiel mit dem Wort «Covid-19». So wird man feststellen, dass es bestimmte Adjektive gibt, die in einem bestimmten Kontext immer verwendet werden. Neben Zeitungskorpora könnte man auch untersuchen, welche Wörter auf Twitter besonders häufig verwendet werden und welche Hashtags im Gebrauch sind. Hashtags spiegeln ja auch gesellschaftliche Entwicklungen – «me too» zum Beispiel ist schon zu einem neuen Wort geworden. 5  

Beobachten Sie auch Trendverschiebungen, weil Wörter zu trendig werden, mit der Zeit «verbraucht» sind?
Das hat man zum Beispiel in der Jugendsprachforschung untersucht. Wenn Wörter, die zur Jugendsprache gehören, immer häufiger von Erwachsenen oder in der Werbung verwendet werden, zum Beispiel «geil» oder «mega», kann das dazu führen, dass Jugendliche dieses Wort nicht mehr als ihr eigenes ansehen und deshalb nach anderen Möglichkeiten suchen, sich auszudrücken, um ihre Gruppenidentität zu stärken. 

Auf Twitter schreiben Sie auch über Plastikwörter. Was ist das für ein schöner Fachausdruck?
Ein Kollege aus Deutschland, Uwe Pörksen, hat vor Jahren eine Arbeit zu verschiedenen Wortkategorien geschrieben. Plastikwörter sind Wörter, die zeitlos sind. Man könnte sagen, sie sind in bestimmten Kontexten schon lange im Trend: «System», «Kommunikation», «Aktion». Es sind Worthülsen, die besonders häufig verwendet werden, gerade auch in administrativen Kontexten oder im Firmenjargon. Pörksen bezeichnet diese Wörter als Plastikwörter, weil sie fast bedeutungslos geworden sind. Man kann sie als Ausdrücke einsetzen, um einem Text einen intellektuellen Touch zu geben. 

Hat Ihr aktuelles Forschungsprojekt rund um Trauer im Internet mit einem Trendphänomen zu tun?
Es gibt an der Uni Zürich den neuen Forschungsschwerpunkt Digital Religion(s). In diesem Rahmen leite ich das Teilprojekt Online-Trauern. Das hat jetzt besondere Aktualität bekommen, was wir aber gar nicht wussten, als wir dieses Projekt beantragt haben. Es gab damals schon virtuelle Friedhöfe oder Gedenkstätten im Internet und jetzt, bedingt durch die Pandemie, gibt es noch ganz neue Formen des Online-Trauerns, weil Begräbnisse vor Ort nur mit wenigen Personen möglich sind. Online zu kondolieren oder zu einem virtuellen Grab zu gehen, bekommt nun, wo man nicht mehr reisen kann, eine neue Popularität. Für mich als Linguistin ist das interessant, denn auch bei diesen Trauerangeboten spielt die Sprache – neben Bildern und Musik – eine wichtige Rolle.