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N°2/2022
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Wortprotokoll eines Austausches im Kriegsexil

Sofiia Zinchenko, Polina Ternovskykh, Anna Yashna, Mary Shapochka und Sasha Snitko, fünf Studentinnen der Theaterschule in Charkiw, haben als Gaststudierende Aufnahme gefunden im Fachbereich Theater der HKB. Polina Solotowizki, selbst Theaterstudierende an der HKB, hat mit ihnen über den Kriegsausbruch, Angstzustände, Popsongs und Kunst gesprochen. Wir geben die Aussagen möglichst integral und ungefiltert wieder.

Interview

Ist zwischen Heidelberg und Moskau aufgewachsen. Sie hat in Moskau einen Bachelor in Theaterregie gemacht und in Russland zwei Jahre als Regisseurin gearbeitet. Sie lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg und studiert
im Master «Expanded Theater» in Bern. Das hier wieder gegebene Gespräch hat auf Russisch stattgefunden. Es ist ihre Muttersprache und auch die Muttersprache von einigen der Teilneh­menden. Charkiw ist eine russischsprachige Stadt. Einige der Gesprächsteilnehmerinnen bevorzugen untereinander Ukrainisch zu sprechen, seitdem Russland die angegriffen hat.

Polina Solotowizki: Wie hat der Krieg euch als Künstler*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen und überhaupt Theatermacher*innen beeinflusst?
Sofiia Zinchenko: Als ich mich entschieden habe, Schauspielerin zu werden, habe ich meinen Eltern gesagt, ich wolle die Möglichkeit haben, etwas zu leben, das ich mich sonst nicht trauen würde. Jetzt verstehe ich, wie schwer es ist, über etwas zu sprechen, was du nicht erlebt hast. Vor dem Krieg habe ich bei einer Übung in Theaterregie mitgemacht. Wir mussten spielen, wie wir erfahren, dass ein Krieg begonnen habe. Schon damals hatte ich das Gefühl, es sei schwer, zu spielen, was dir nie passiert ist. Jetzt hängt vieles davon ab, wie viele psychische Ressourcen du noch hast. Manche haben die Energie und die positive Einstellung, um Menschen vom Krieg abzulenken. Wie zum Beispiel die Puppenspieler*innen, die in der Charkiwer U-Bahn, in der Menschen warten, ob sie überleben oder nicht, etwas für die Kinder aufführen. Wie wir mit den Mädels angefangen haben, an unserem Projekt für die Bachelor-Abschlussproduktionen an der HKB hier zu arbeiten, wurde uns klar, dass wir über nichts anderes als den Krieg sprechen können – so sehr es auch schmerzt: Wir können an nichts anderes denken. Also haben wir einen Weg gesucht, es auszudrücken, damit wir den Menschen klarmachen können, was eigentlich los ist.

Mary Shapochka: Jetzt haben wir die Erfahrung als Schauspielerinnen. Wir wissen jetzt, was Krieg ist, auch wenn du das nicht unbedingt spielen kannst. Mich hat diese Situation viel empfindlicher und emotionaler gemacht. Manchmal geht es auch andersrum: Die Emotionen sind plötzlich blockiert.

Anna Yashna: Mein emotionaler Zustand ist so gestört seit Kriegsanfang, dass ich sogar wegen einem netten Bildchen weine.

Sasha Snitko: Früher hat man uns davon abgeraten, Ausschnitte über den Krieg zu
machen. Die Dozierenden sagten: «Die Kinder haben es nicht erlebt, wie können sie es spielen?» Jetzt haben wir es erlebt. Ich hatte noch nie solche Angst gehabt, ich habe gezittert, und es gab diesen Impuls im Brustbereich, er kam irgendwo von innen. Du kannst nichts machen. Weder trinken, essen noch klar denken. Ich habe diesen Zustand fixiert. Mir gemerkt, wie es ist. Ich weiss nicht, ob ich es jemals spielen werde, aber jetzt funktioniert es aufs Stichwort. Es ist schon eine Zeit lang her, und ich befinde mich in Sicherheit, aber immer wieder, wenn ich jemandem erzähle, wie wir um fünf Uhr morgens am 24. Februar aufgewacht sind, zittere ich wie damals.

AY: Wir waren dort nicht mal einen Monat, aber zwei Tage waren genug. Wir werden es niemals vergessen.

SZ: Bei mir ist es andersrum. Ich bin in dem Sinne kein repräsentatives Beispiel.

PT: Das ist eine besondere Geschichte. Sofiia und ihre Stressresistenz.

SZ: Wir sassen zwei Wochen in Charkiw unter Beschuss. Einmal hat uns nachts das Geräusch eines Jagdfliegers aufgeweckt. Ich sagte: «Kann ich bitte bleiben? Ich will schlafen. Wenn’s uns trifft, dann ist’s eben so. Kann ich bitte einfach liegen bleiben?» Aber meine Mutter hat sich grosse Sorgen gemacht, und so gingen wir in den Flur, wo es keine Fenster gibt. Ich sass auf dem Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die verriegelte Tür. Da wurde unsere Strasse bombardiert, die Tür wackelte tierisch wegen der Explosionswelle und traf mich heftig im Rücken, während ich ruhig dasass und einfach wartete, bis es vorbei war. Meine Mutter wurde hysterisch, die Freundin auch. Bei mir aber war es absolute Akzeptanz. Ich wusste einfach, ich kann nichts an dieser Situation ändern. Nur hatte ich immer Sorge um meine Eltern. Die Schiesserei hat mich auch mal auf der Strasse erwischt, ich wollte Gewürze für den Borsch kaufen. Eigentlich ganz lustig, dass wir Borsch kochten, das macht die Geschichte sehr ukrainisch. Ich habe mich unter einem Zaun versteckt und dachte: «Gut, dass ich allein bin und die Eltern zu Hause sind.» Ich hatte irgendwie mehr Angst um sie als um mich. Nicht weil ich unglaublich altruistisch bin. Ich habe einfach nichts gespürt. Als ich hierher an die Schauspielschule kam, war es eine Frage für mich, ob ich nach all dem jemals wieder auf die Bühne gehe und jemals wieder meine Emotionen anrühre.

SS: Bei mir ist es anders. Immer, wenn es um den Krieg geht, komme ich zum Ausbruch. Alles, was ich denke, alles, was mich besorgt. Meine Verfassung sagt mir: Ich werde dir nicht helfen. Du wirst es so viele Male erleben, wie du dich daran erinnerst.

AY: Das Schrecklichste ist, dass du dich daran gewöhnst. Und das passiert ziemlich schnell. Bis zu dem Tag dachte ich, ich hätte schon allen möglichen Stress und alle möglichen Ängste erlebt, aber nein. Was an diesem Tag war, kann man mit nichts vergleichen. Wir sind morgens aufgesprungen, es hat mich durchgeschüttelt und danach konnte ich nicht mehr schlafen.

SS: Du konntest nicht mal trinken oder essen.

AY: Und ihr habt Cornflakes in euch reingestopft!
SS: Ich hatte ja auch keinen Hunger, aber ich dachte, wenn es jetzt losgeht und ich hungrig bin, ist es doch noch schlimmer. Also habe ich diese Cornflakes einfach in mich reingestopft.

PS: Wart ihr zusammen, als es angefangen hat?
SS: Ja, wir wohnten zusammen mit Anja im Studentenwohnheim.

AY: Für einige Momente bin ich wieder eingeschlafen, aber sofort wieder aufgewacht, weil ich von Explosionen und Vibrationen träumte.

SS: Die Träume in den ersten Tagen waren etwas ganz Spezielles.

AY: Noch was über das Gewöhnen: Um fünf Uhr hat’s begonnen. Um zwölf Uhr sind wir mit einem Kumpel auf die Strasse. Da waren wieder irgendwelche Explosionen zu hören und Vibrationen zu spüren. Ich stand einfach in der Nähe von einem Supermarkt und dachte: «Mir ist es egal.» Dachte mir: «Vielleicht sollte ich ein Beruhigungsmittel nehmen?» Aber bei der Apotheke war eine lange Schlange und ich dachte: «Dann eben nicht.» Übernachtet haben wir in der U-Bahn. Als ich wieder auf die Strasse ging, war es unglaublich still. Ich hatte nie in Charkiw so eine Stille gehört. Ich stand einfach da, rauchte, und es war mir egal.

PT: Ich hatte auch so einen Moment, als man zum ersten Mal gesagt hat, dass das Atomkraftwerk angegriffen wurde, wisst ihr noch? Ich wollte schon schlafen gehen und habe die Nachricht im Bett gelesen. Und ich habe das Handy weggelegt mit dem Gedanken: «Na ja, mal sehen, ob ich aufwache oder nicht.»

SS: Wir sind aus Charkiw durch Poltawa und Lwiw nach Luzk zu Verwandten gereist. Explosionen habe ich davor nur in Charkiw gehört. In Luzk, am dritten Tag unseres Aufenthalts, gab es um fünf Uhr fünf Explosionen. Bei der ersten Explosion wachst du auf, bei der zweiten checkst du, was los ist, bei der dritten stürzt du zum Fenster. Da war so ein Feuerschein, so hell wie der Tag. Die Explosionen waren viel näher als da­mals in Charkiw. Meine Mutter war zuvor in Kiew, die haben dort die Explosionen irgendwo nur von weit weg gehört, aber sie hat sie nicht gese­hen. Ich denke, sie hat bis zu diesem Moment noch nicht ganz geglaubt, dass tatsächlich Krieg ist. Und sie bekam ganz stark Panik. Ich habe mich angezogen und gesagt: «Mama, beruhige dich bitte, wenn du willst, gehen wir halt in den Keller, aber ich möchte ehrlich gesagt einfach weiterschlafen, mir ist es egal.»

PT: Ich möchte etwas zum Thema «Kunst» sagen. Als Regisseurin habe ich mir in den letzten Jahren überlegt, welche Gedanken ich in die Welt set­zen will und was ich in diesem Beruf mache. Ich kann nicht sagen, ich hätte eine Antwort gefunden, aber es hat sich bei mir eine grosse Empathie für andere Kunstwerke geöffnet. Ich verstehe jetzt, dass hinter jedem Kunstwerk etwas steht. Früher war ich irgendwie distanzierter, aber jetzt lasse ich es mehr durch mich durch. Ich habe vor Kurzem
Erich Maria Remarques Roman Die Nacht von Lissabon besonders auf Bezug im nächsten Satz gelesen: Es liest sich ganz anders, wenn du es selbst durchgemacht hast. Ich habe angefangen, mir Gedanken zu machen, was den Menschen dazu brachte, dieses Werk zu schaffen. Und das bezieht sich auf alle Arten von Kunst. Literatur, Musik.

PS: Übrigens, was die Musik angeht, ich wollte euch bitten, Lieder zu teilen, die für euch eine besondere Bedeutung haben. Gibt es solche?
AY: Fast jede ukrainische Musik hilft mir, mich nicht in mich selbst zu verkriechen und mich nicht abzukapseln. Ich höre viel mehr ukrainische Musik als früher.

SS: Ja, zu hundert Prozent.

AY: Wenn ich Musik höre, bekomme ich gleich bessere Laune und überhaupt den Willen, irgendetwas zu machen.

SZ: Ich habe eine ganze Playlist.

MS: Ich auch.

AY: Und ich.

PS: Könnt ihr ein paar nennen, die euch lieb sind?
SS: Odin w kanoe (Alleine im Kanu): Ich habe kein Zuhause. Der Text: Ich weiss noch, aus welchem Stamm ich komme, weiss noch aus welcher Stadt, ich warte auf meinen Grammy, ich habe einfach keinen Platz, wo ich mich hinsetzen kann und meine Rede schreiben, ich habe kein Zu­hause … Und die Leute in Hunderten, über einen Tag sind sie in Waben aus Beton! Aber wo können sie sich sonst verstecken und trocknen? Die Menschen der ersten und zweiten Sorte? Und noch ein Lied, das mir unter die Haut geht, es ist zwar auf Russisch, und es heisst Die Kiewerin. Ich komme ja selbst aus Kiew, und ich sag euch, Mädels, wenn ich das Lied höre, während ich unterwegs bin, jetzt, wo der Flieder blüht und die Kastanien, ist es so, als wäre ich in Kiew, zu Hause.

PT: Okean Elzy (Elsas Ozean): Der Ort des Frühlings. Der Text: Warum träume ich, wie wir immer wieder in unserem heimischen Lwiw spazieren, es riecht dort nach Frühling, und die Sonne geht unter, am Ufer des Flusses, den es nicht mehr gibt (…). Meine Stadt des Frühlings atmet, das entmutigende Zeitalter lindert die Wunden, noch bevor man volljährig wird, wird man hier zum Veteranen … Ich habe diesen Song gefunden, als der Krieg schon angefangen hat, aber ich bin ganz überrascht, dass er noch im September rauskam und doch sehr zu der Situation jetzt passt. Aber was noch interessanter ist: dass derselbe Sänger noch im Oktober einen Song veröffentlichte mit dem Titel Der Sieg. Und ich habe ihn erst nach dem Kriegsbeginn gefunden.
MS: Auch von Okean Elzy, Alles wird gut. Dieser Song hat eine besondere Bedeutung für uns, wir haben ihn oft im Rhythmikunterricht gesungen. Auch am 24. Februar, als alles begonnen hat, sassen wir alle zusammen da und sangen ihn, um uns irgendwie abzulenken.

Alle singen zusammen: «Alles wird gut, für jeden von uns, alles wird gut, unsere Zeit kommt.»

SS: Aus Tik-Tok. Vom Sänger Dajte Tank (Gebt einen Tank) der Song Die Menschen lieben. Das ist ein russischer Sänger, aber den Song assoziiere ich mit uns.

SZ: Es gibt ein Video mit dem Song, in dem Selenskyi Kinder umarmt, mit alten Frauen redet, Kaffee im McDonald’s bestellt.

AY: Und bei mir noch der Song Another love von Tom Odell. Letztens haben es die Nachbarn gespielt, man hat es auf der ganzen Strasse gehört. Bei dem Song muss ich immer weinen.

MS: Noch was aus Tik-Tok. Man macht ein Video zum Song We’ll meet again. Auf der Seite unseres Jahrgangs gibt es auch so ein Video.

PS: Ist jetzt niemand da in eurer Hochschule in Charkiw?
SZ: Zwei Masterstudenten sind da und bewachen die Schule. Es gibt noch einen Song, zu dem man Zusammenschnitte mit Fotos von unseren Soldaten macht, in menschlichen Momenten, die nicht wirklich mit dem Militär assoziiert werden. Das ist ein Rap, da spricht der Mann zu seiner Mutter, und da ist so ein Text: Stefania, Mutter, das Feld blüht auf, und sie wird grau, sing mir Mama ein Wiegenlied, ich will deine lieben Worte hören.

MS: Ich mag noch den Song der ukrainischen Gruppe Tik Ich wollte dir nur alles Gute wünschen. Er hat keinen besonderen Inhalt, er handelt von Winnie-the-Pooh, aber er steckt dich positiv an: Ich wollte dir einfach nur alles Gute wünschen, einen grünen, grünen Luftballon schenken und ein Töpfchen, das nach Honig riecht. Und gleich am Morgen dich besuchen kommen, aber mein Freund kann nicht gut schiessen, und einige glauben nicht, ich sei der blaue Himmel.

AY: Haben alle den Unterstützungssong von Måneskin gehört?

SZ: Ich habe viele Fragen an sie. Sie haben auf die Situation erst nach der Tournee reagiert und erst nachdem man sich auf Twitter gefragt hatte, warum sie sich nicht zu der Situation in der Ukraine geäussert haben.

SS: Ich mag noch ganz gern diesen Song aus dem sowjetischen Film.

PS: Liebe im Büro. Ich liebte den Film als Kind!

SS: Da gibt so eine Strophe, Ich schwöre, ich würde alles aufgeben, und ich erinnere mich an mein ganzes Leben vor dem Krieg: In meiner Seele gibt es keine Ruhe, ich warte den ganzen Tag auf jemanden, ohne Schlaf begegne ich dem Sonnenaufgang, und alles wegen irgendjemandem, ich kann die ganze Welt quer durchlaufen, um jemanden zu finden.

PS: Was für Eindrücke habt ihr von der Hochschule hier? Fühlt ihr einen grossen Unterschied?
SZ: Alles super, aber man wünschte es sich unter anderen Umständen.

AY: Interessant, andere Methoden auszuprobieren, aber trotzdem möchte man zurück. Auch wenn man nicht weiss, wann es überhaupt möglich sein wird, zurückzukehren, die Verwandten und die Freunde wiederzusehen.

MS: Ich habe akzeptiert, dass es mir gelungen ist, auszureisen, und jemand anderem nicht. So ist das Leben. Aber in manchen Momenten würde man gerne teilen mit anderen, Freund*innen oder Kommilitonen*innen.

SZ: Wir denken jeden Tag an unsere Kommiliton*innen. Ja, hier sind tatsächlich wundervolle Pädagog*innen und überhaupt Menschen, die so viel für uns machen. Nach all den schrecklichen Dingen, die die russi­schen Soldaten jetzt tun, glaubt man kaum noch an das Gute im Menschen. Dann siehst du die Freiwilligen und Menschen, die helfen und unterstützen. Sie müssen ja nicht, aber sie machen es trotzdem.

SS: Weil sie Menschen sind. Zu Ostern kam uns unsere Freundin Sonya besu­chen, sie ist jetzt in Salzburg. Wir sassen auf der Bank, haben ein Eis gegessen und eine Frau kam aus dem Haus und hat uns irgendwas gesagt. Ich antwortete: «Sorry, ich spreche kein Deutsch.» Dann fragte sie auf Englisch: «Seid ihr aus der Ukraine?» Wir sagten ja. Und dann hielt sie eine Rede so nach dem Motto: «Wann hört dieser Krieg endlich auf, warum macht ihr das, legt eure Waffen nieder, Töten ist schlecht, warum liefern wir euch Waffen, ihr bringt doch einander um, je mehr Waffen, desto mehr Morde, Krieg ist schlecht usw.» Aber hallo, wir verteidigen uns ja.

SZ: Wenn dir dein Haus weggenommen wird und deine Familie umgebracht wird, hast du keine Wahl.

AY: Ja, es gibt solche Leute. Wir waren in Belgien in einer Bank und die Mitarbeiterin hat uns zwar nichts gesagt, aber durch ihre Haltung war klar, dass sie sagen würde: «Was habt ihr hier verloren? Könnt kein Französisch, und ich muss euch alles zweimal erklären.»

SS: Im Migrationscenter war eine Frau, eine Dolmetscherin, es sah so aus, als käme sie aus Russland und würde die Ukraine von ganzem Herzen hassen. Sie war unglaublich aggressiv. Und sie hat auf Russisch-Russisch gesprochen, nicht auf Ukrainisch-Russisch, sondern das Russisch, das man in Russland spricht.
PS: Nicht alle in Russland hassen die Ukrainer*innen.

SS: Diese Frau hat uns geradezu angeschrien.

SZ: Schon klar, dass nicht alle Russ*innen den Ukrainer*innen unrecht tun wollen. Es ist egal, woher man kommt, wichtig ist, was für eine Position man hat. Und ich finde es unbarmherzig, zu schweigen, wenn man sieht, was für eine Scheisse abgeht.

SS: Bei uns haben die Menschen dafür gekämpft. Sie haben auf dem Majdan ihr Leben dafür gegeben. In Russland haben die Menschen Angst, 15 Tage Arrest zu bekommen, und bei uns hatten sie keine Angst, zu sterben. Das ist der Unterschied zwischen uns.

PS: Das Gefühl von Angst wurde sukzessive durchgesetzt. 20 Jahre hat Putin Schritt für Schritt das Regime aufgebaut und verschärft. 2012 wurden die Wahlen falsifiziert. Es gab grosse Proteste, aber nichts änderte sich. Noch 2008 hat Russland Georgien angegriffen. Aber gab es damals ernsthafte Sanktionen? Nein, es war okay für alle. Man hat weiter mit ihm Geschäfte gemacht.

SZ: Zum Beispiel Angela Merkel und Nord Stream 2.

PS: Es ist furchtbar, jetzt zu beobachten, wie der Hass von allen Seiten wächst und diesen ganzen Krieg nährt. Alle Russ*innen mit Gewissen und klarem Kopf fühlen sich schuldig und verantwortlich für alles, was jetzt passiert. Vor allem, wenn man sein ganzes Leben und seine ganze Tätigkeit diesem Regime entgegenzusetzen versuchte. Die ganze Welt, und am meisten die Ukraine, leidet jetzt, weil man viele Jahre wegge­sehen hat. Ich glaube, vor allem wegen dem Geld. Das Korruptionsgeld, gewaltige Summen, floss auch in andere Länder. Dieses Monster, Putin und sein Apparat, ist aus der allgemeinen Geldgier entstanden. Des­wegen bin ich mit den Menschen, die sagen, man solle der Ukraine keine Waffen liefern, überhaupt nicht einverstanden. Wie soll sie sich gegen das Monster verteidigen?

AY: Wenn wir die Waffen niederlegen, dann ist es möglich, dass Russland weitergeht.

PS: Jedes Land hat seine eigenen Narrative. Ich überlege oft, warum glauben so viele Menschen in Russland der Propaganda? Weil dieses Narrativ vom Sieg über «Nazismus» benutzt wird. Eine andere nationale und vereinigende Idee ist in Russland nicht entstanden, nur diese. Aus welchen Geschichten entstehen Ideologien in den Köpfen? Jetzt spürt man besonders den Unterschied zwischen West- und Osteuropa. Osteuropa kann sich ja noch gut an die sowjetische Okkupation erinnern. Deutsch-
land hat den Zweiten Weltkrieg verloren, deswegen äussert man sich gegen Waffenlieferungen. Diese Ideologie ist komplett umgekehrt als der russische Slogan «Wir können’s wiederholen». Da heisst es eher «Nie wieder». Das ist ihr Narrativ, ihre Identität.

SS: So sehen sie den Krieg, von der anderen Seite.

PS: Genau. Die UdSSR hat ja auch viel gelitten und verloren, und Stalins Lager hat es auch gegeben, aber es sind immer noch Stalin-Denkmale im Land. Das alles wurde nie wirklich reflektiert nach dem Zerfall der UdSSR, und da haben wir das Resultat. Wenn der Krieg vorbei ist, kommt die Frage: Was soll man machen, damit so etwas nie wieder passiert?

SS: Ich denke, die Ukraine wird zu so etwas wie einem zweiten Israel, mit ganz viel Kontrolle an den Grenzen und starken Verteidigungsmecha­nismen.

SZ: Ich will kein zweites Israel. Ich will die Ukraine. Ich glaube, ein geschlossenes Land ohne Austausch ist nicht gut. Ich wünsche mir das nicht für die Ukraine.