«Wir müssen leistungsbefreite Freiräume schaffen, um die Selbstdarstellung fallen lassen zu können.»
Zum Roundtable der HKB-Zeitung im Botanischen Garten trafen sich an einem tropisch anmutenden Morgen im Juli: Nicole Hinder, Sozialwissenschaftlerin und Bereichsleiterin bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein, und Benjamin Schwander, Student im Master Art Education an der HKB. Bei ihrer erstmaligen Begegnung tauschen sich Hinder und Schwander über die Gesundheit der Jugend, das Verhältnis von Kunst und Körper, von Körper und Geist aus.
Könnt ihr euch bitte kurz vorstellen?
NH: Ich heisse Nicole Hinder und arbeite bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein als Bereichsleiterin Child Rights Advocacy und Mitglied der Geschäftsleitung. Ich bin in Schaffhausen aufgewachsen, wohne jetzt auch wieder dort und habe zwei Kinder. Den Bachelor in Soziologie habe ich an der Uni Luzern gemacht, den Master in Sozialwissenschaften und Sozialpolitik an der Uni Fribourg.
BS: Mein Name ist Benjamin Schwander. Ich habe meinen Bachelor im Bereich Kunst – Vermittlung von Kunst und Design – an der HKB gemacht und nach einem Zwischenjahr den Master in Art Education begonnen, den ich gerade beende. Ich bin vielseitig interessiert, sowohl im Bereich Kunst als auch im Bereich Gesellschaft. Ich komme ursprünglich aus Burgdorf und lebe seit einigen Jahren in Bern. In meiner Freizeit koche ich sehr gern, soziale Kontakte und Sport sind mir sehr wichtig. Mentale Gesundheit ist ein Thema, welches mich sehr interessiert.
Nicole, was hast du für einen Bezug zu Kunst und zum Kunstschaffen?
NH: Diese Frage bringt mich zum Schmunzeln. Tatsächlich muss ich mich als Kunstbanausin bezeichnen. Ich interessiere mich für Gesellschaft und Politik, dafür, wie in der Gesellschaft Dynamiken entstehen. Darum habe ich Soziologie studiert. In meiner Freizeit gehe ich nicht in Museen oder Theater, sondern ich beschäftige mich mit Menschen. Ich lese gern, vor allem Zeitungen, und setze mich so mit der Gesellschaft auseinander. Kunst ist in meinem Leben wenig integriert. Das kommt jetzt aber über meine Tochter, die unbedingt Ballett tanzen will. Sie ist erst vierjährig und man merkt bei ihr, wie durch das Ballett ein Prozess in Gang gesetzt wird, wie sie kreativ wird und sich ausdrückt. In der Kinderrechtskonvention ist in Artikel 31 (Erholung, Spiel, Kultur und Kunst) der Zugang zu Kunst und zum kulturellen Leben verankert. Über die Kunst und den Zugang zur Kunst lernt man, kreativ zu sein, sich Meinungen zu bilden, mit der Welt kritisch auseinanderzusetzen und gesellschaftliche Prozesse mitzugestalten und mitzuprägen.
Wir wollen in diesem Gespräch über die Beziehung zwischen Gesellschaft und Kunst nachdenken. Wie wirkt die Gesellschaft in die Kunst und vor allem: Wie wirkt die Kunst auf die Gesellschaft? Kunststudierende sind zu einem öffentlich verhandelten Rollenmodell geworden: gesellschaftskritisch, hochsensibel, engagiert. Kannst du aus jugendsoziologischer Sicht etwas dazu sagen?
NH: Was ist zuerst, das Interesse für die Gesellschaft und die gesellschaftskritische Haltung, um sich dann über die Kunst auszudrücken? Oder das Interesse für Kunst, um dann über die Kunst mit einer Community in Kontakt zu kommen, welche gesellschaftspolitische Fragestellungen aufwirft, thematisiert und bearbeitet? Im jungen Alter bei einem Studienbeginn ist vieles noch nicht definiert. Man steckt in einem Entwicklungsprozess, wobei auch die sekundäre Sozialisation über die Peergroup für die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen sehr bedeutend ist. Damit einher geht die Ablösung von der eigenen Familie. Über das Studium kommt man dann in eine Community, die sich dezidiert mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinandersetzt. Man kann dies auch als Bubble bezeichnen. Wenn man zu studieren beginnt, wird man mit unterschiedlichen Weltbildern konfrontiert und beginnt, sich darüber selbst ein Bild von der Welt zu machen.
BS: Kunst ist sehr eng mit der Gesellschaft verwoben. Wir haben alle eine Vorstellung davon, was Kunst ist oder sein könnte. Beim Eintritt in eine Kunsthochschule muss dieser Begriff stetig neu verhandelt werden. Als ich an die Kunsthochschule kam, merkte ich sehr bald, dass es auch dort Typen gibt, die angesagt sind, und andere, die gar nicht hineinpassen. Dass es zum Beispiel nicht angesagt ist, ins Fitnesscenter zu gehen. Darüber habe ich unter anderem auch in meiner Masterthesis geschrieben. Ich glaube, dass die Kunstszene manchmal doch nicht so offen ist, wie sie gern wäre oder wie sie sich selbst kommuniziert. Kunst kann dann hilfreich sein, wenn man sie als Mittel oder Zugang sucht, um über etwas offen oder besinnlich nachzudenken.
Du hast eine Masterarbeit gemacht, die sich mit Gym und Bodybuilding und in dem Sinn auch mit Gesundheits- und Körperfragen befasst. Wie bist du dazu gekommen?
BS: Ursprünglich ging es mir sehr stark um die psychische Gesundheit. Ich habe verschiedene soziologische Texte gelesen zu Beschleunigung, Schlaflosigkeit usw., also ganz verschiedene Ansätze, um Überforderung in der Gesellschaft zu thematisieren. Dies in einer Masterarbeit als Ganzes zu fassen, wäre überambitioniert gewesen. Das Fitnesscenter erwies sich als interessanter Ort. Es ist ein stabiler Raum, wo sich sehr viel bündelt und sich nicht vieles dauernd verändert. Es ist strikt vorgegeben, wie man mit den Sachen umgehen muss. Man kann einen eigenen Plan erstellen, man hält eigene Regeln ein, setzt sich eigene Routinen und baut Selbstkontrolle auf. Interessant für mich ist, dass sich ein Ort, der sich mit einem Körperbild auseinandersetzt, als Ort mit sehr vielen Aspekten entpuppt, die auch der psychischen Gesundheit helfen können. Dabei handelt es sich nicht um einen Nutzen oder Wettkämpfe, sondern um eine eigene Auseinandersetzung und ein eigenes Körpergefühl.
Überforderung: Nicole, was hast du aus soziologischer Sicht und aus der Arbeit mit Jugendlichen dazu zu sagen?
NH: Junge Menschen sind heutzutage mit vielen Sachen konfrontiert, die meine Generation so nicht erlebt hat. Stichwort Multikrise: all die Kriege, die ausgebrochen sind, die Corona-Pandemie, die wir bewältigen mussten, die Klimakrise, die eine gewisse Hilflosigkeit auslöst. Deine Generation muss mit dem klarkommen und umgehen können. Das ist sicher ein Faktor, der sich aufs Wohlbefinden auswirkt und darauf, wie es den Jugendlichen geht.
Wie würdest du die Generation der 20- bis 30-Jährigen soziologisch beschreiben oder benennen?
NH: Wenn man von einer Generation spricht, spricht man in der Regel von einer Zeitspanne von 15 Jahren, hier also von 15 bis zu 30 Jahren. Die Kinderrechtskonvention gilt für Kinder von 0 bis zu 18 Jahren. Positionieren wir uns zu Jugendthemen, so beziehen wir uns vermehrt auch auf junge Erwachsene bis zu 24 Jahren. In der Betrachtung von Hirn- und Jugendentwicklung sieht man, wann sich die Persönlichkeit ausbildet, deshalb gehen wir bei vielen Themen auch von jungen Erwachsenen bis 24 aus.
Kannst du aus deiner Arbeit etwas zum Gesundheitszustand dieser Generation sagen?
NH: Der Mehrheit geht es gut. 80 Prozent der Jugendlichen sagen, sie sind psychisch und physisch gesund. Wir registrieren aber bei der psychischen Gesundheit alarmierende Anzeichen. Bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein haben wir 2021 zusammen mit Unisanté eine Umfrage zur psychischen Gesundheit der Jugendlichen durchgeführt: 37 Prozent der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben Anzeichen einer Angststörung und/oder einer Depression. Diese Zahlen beziehen sich aber nicht auf Diagnosen, sondern auf das individuelle Wohlbefinden. Wir beobachten eine Zunahme. Die Frage ist dann, wem das geschuldet ist. Sind es die Multikrisen oder andere Lebensereignisse, mit denen man umgehen muss? Ein Teil der Zunahme ist sicher auch erklärbar dadurch, dass ihr als Generation offener geworden seid. Ihr könnt heute besser darüber sprechen, wie es euch geht. Du sprichst darüber, du reflektierst und suchst dir selbst Massnahmen.
BS: Angst und Depression sind meiner Erfahrung nach stark verbreitet. Ich kenne in meinem Umfeld mehrere Personen, die damit konfrontiert waren, und habe es selbst auch schon erlebt. Es gibt viele Gründe, etwa die Social Media bzw. die Möglichkeit, sich selbst dauerhaft zu inszenieren, den Druck, dauerhaft zu performen – und plötzlich schaut jemand hinter die Kulissen und man fliegt auf: das Impostor- respektive Hochstapler-Syndrom. Ich habe das Gefühl, dass unsere Generation Ruhephasen vermisst. Man steht auf, geht direkt ans Handy, konsumiert sofort das Leben der anderen, was ja längst nicht alles Realität ist. Und dann noch der Anspruch, den man an sich selbst stellt, dem allem auch entsprechen zu müssen. Oft sieht man den Sinn der Sache nicht und man merkt, es bringt gar nichts, dem allem nachzustreben.
«Das Hochstapler-Syndrom: der Druck, dauerhaft zu performen – und plötzlich fliegt man auf.»
Nicole, macht denn das Handy mit der Generation Z etwas anderes als mit älteren Generationen?
NH: Ich habe da eine persönliche Meinung und kann mich wenig auf Zahlen stützen. Wir bei UNICEF fokussieren auf Kinder und Jugendliche. Die Geschwindigkeit in der Verbreitung von News oder von Kompetenzen, die man braucht, um zu bewerten, was wahr ist und was nicht wahr ist – Stichwort Fake News, das betrifft nicht nur eine Generation, das betrifft uns als Gesellschaft. Man hat es jetzt auch beim Anschlag auf Donald Trump gesehen. Diese Nachricht verbreitete sich in kürzester Zeit. Das ständige Aufsaugen von Informationen, andererseits muss man sie auch irgendwie verarbeiten können.
BS: Geschwindigkeit ist ein interessanter Aspekt. Ich habe mich in letzter Zeit mit Medientheorie auseinandergesetzt. Was unterscheidet Videokunst von Malerei? Uns werden dauernd News vorgesetzt. Oft sind es Reels,
kurze Videos, Informationen, Bild um Bild, wo uns der Zeitfluss vorgegeben wird, wo vorgegeben wird, du musst das in zwei Sekunden konsumieren und verstehen, dann kommt schon das Nächste. Es ist ja so aufgebaut, dass eines sofort nach dem anderen kommt und man gar keine Zeit hat, sich mit etwas kontemplativ auseinanderzusetzen. Nicht wie bei einem Bild, vor dem man eine halbe Stunde stehen kann. Vom Empfinden her, wie man damit umgeht, ist es ganz anders, wenn man vor etwas Stabilem steht, das in seiner Form geschlossen ist, wie eine Malerei oder ein Zeitungsbericht.
NH: Der schnelle Konsum von News macht auch kognitiv etwas. Pisa-Studien zeigen auf, wie rückläufig die Lesekompetenzen sind. Inwiefern ein Zusammenhang zur Digitalisierung und Schnelllebigkeit von News besteht, muss man gut beobachten und untersuchen. Kunst kann da ein Gegengewicht sein. Daher ist es auch wichtig, den Bereich Kunst bei Kindern und Jugendlichen nicht zu vernachlässigen.
BS: Schnelle Entscheidungen führen oft zu emotionalen Entscheidungen. Reflektieren, das Hinterfragen war früher noch eher gang und gäbe. Kunst bietet Möglichkeiten, weil sie es ganz anders angehen kann: Sie ist ein sinnliches Erlebnis und nicht nur eine Information. Als Künstler*in hat man auch die Chance, die Zeit vorzugeben. Man kann Langeweile in die Gesellschaft zurückbringen. Ein Gefühl, das in unserer Gesellschaft stark unterdrückt und nicht zugelassen wird. Langeweile, Ruhepausen, Zeiten, die keinen klaren Zweck haben, sind nicht nur enorm wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch um über das Leben und die eigene Haltung nachdenken zu können. Man muss nicht immer im Zwang sein, sich zu zeigen und zu positionieren, sondern auch überlegen können, wo man eigentlich hingehört.
Müsste das Recht auf kulturelle Teilhabe mehr gewichtet werden, weil Kunst gerade für junge Menschen zentrale Möglichkeiten bietet?
NH: Das Kinderrecht selbst ist das Recht auf Freizeit und kulturelle Teilhabe und damit verbunden den Zugang zu künstlerischem Schaffen und zur Kunst. Langeweile aushalten, Zeit haben, die Welt zu entdecken, etwas zu schaffen und sich mit der Umgebung auseinanderzusetzen, das ist sehr zentral für die Persönlichkeitsentwicklung und auch für die kognitive Entwicklung, und es fängt bereits im Babyalter an. Ab der Geburt ist es wichtig, dass Kinder die Möglichkeit haben, die angeborene Neugier auszuleben. Als Gesellschaft müssen wir viel mehr bewusst den Entscheid fällen, Musse zu haben oder sich Zeit zu nehmen, um einfach einmal nichts zu tun. Beim Kind spielt das auch in die Autonomieentwicklung hinein, dass ein Kind selbst Entscheidungen trifft, dass es sich die Welt selbst aneignet, eigene Ideen entwickelt und diese umsetzt. Über das Recht auf Freizeit und das Recht auf kulturelle Teilhabe findet die Gestaltung der Gesellschaft statt.
Benjamin, kennst du die UNO-Kinderrechtskonvention?
BS: Ich würde nicht sagen, dass ich jeden Artikel kenne, aber ich habe sie gelesen.
Was hältst du von der Überlegung, dass kulturelle Teilhabe und der Zugang zur Kunst ein Recht sind, dem man Gewicht geben muss?
BS: Ich finde es wichtig, dass man alle Aspekte und Menschen jeden Alters ernst nimmt. Recht auf Kunst und Recht auf Freizeit sind ja sehr weit gefasst. In verschiedenen kulturellen oder sozioökonomischen Kontexten gestaltet sich das Recht ganz unterschiedlich. Ich finde zum Beispiel auch das Recht auf Ruhe interessant oder ein Recht auf Stille. Stichwort John Cage: Als Musik in jeglichem Kontext aufkam – im Zug, in Kaufhäusern, in Fabriken, wo sie ein Tool war, die Leute unter Kontrolle zu haben und das Kaufverhalten anzukurbeln –, da wurde ein Recht auf Stille gefordert, weil das nicht mehr gegeben war.
Was sind denn umgekehrt aus deiner Sicht, Nicole, die Ansprüche an die Kunst? Was kann die Kunst bewirken oder ermöglichen?
NH: Das Recht auf Freizeit und kulturelle Teilhabe ist sehr kontextabhängig. Bei uns geht es um andere Themen als im globalen Süden. Dort ist beispielsweise Kinderarbeit eine grosse Herausforderung. Es ist aber nicht so, dass bei uns jedes Kind Zugang zu kultureller Teilhabe hat. Das ist auch sehr ökonomisch geprägt, wie ein Kind aufwächst, welche finanziellen Ressourcen man hat, um an der Gesellschaft und am kulturellen Leben teilzuhaben. Und nicht zuletzt auch, welche Förderung man zu Hause hat. Ich sehe da eine Barriere: Passt man in die Welt der Kunst oder nicht? Initiativen wie in Zürich, wo man auf dem Sechseläutenplatz eine Oper hören konnte, bauen Hürden ab. So wird die Möglichkeit geschaffen, dass Kunst zugänglicher wird und dass man partizipieren kann und somit auch Kinder aus allen sozioökonomischen Kontexten partizipieren können.
Kunst selbst muss die Zugänglichkeit zur Kunst auch von sich aus ermöglichen.
BS: Objektive Möglichkeiten für den Zugang sind bei uns grundsätzlich gegeben. Alle dürfen zur Kunst hingehen. Aber wie es mit dem Zugang oder mit der Teilhabe in der realen Welt aussieht, ist etwas anderes, abhängig von der Schicht, aus der man kommt, davon, welche Sprache man spricht, wie weit man sich selbst anmutet, Kunst zu kritisieren. Durch das Kunststudium eignet man sich auch ein Selbstvertrauen an, kritisch über Kunst zu sprechen. Von vielen Bekannten und auch von Kindern höre ich: «Ich verstehe Kunst nicht. Das darf man nicht anfassen, das ist doch Kunst.» Da ist grosser Respekt vor der Kunst vorhanden und damit ein eingeschränktes Bild, eine Vorstellung, es ist zu hoch, als dass ich es verstehen kann.
NH: Das ist auch eine Form von Zugänglichkeit. Es ist nicht nur die physische Zugänglichkeit, sondern auch die intellektuelle und die Möglichkeit, mit der Kunst inmitten der Gesellschaft zu sein. Nicht dass man das Gefühl hat, man muss erst in eine andere Community eindringen, damit man überhaupt mitreden oder etwas kritisieren darf. Oder überhaupt Teil der Kunst sein darf.
Wir haben über den Zustand und gesundheitliche Phänomene der Generation von 15- bis zu 30-Jährigen gesprochen und dass es in dieser Generation Z zunehmend zu psychischen Gesundheitsproblemen kommt. Was muss man aus Sicht der UNICEF machen?
NH: Wir haben in der Schweiz keine systematische Datenerhebung zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen, insbesondere auch nicht zum Thema psychische Gesundheit. Auch die Zahlen, die das Bundesamt für Statistik erhebt, beginnen oftmals bei 10- oder 15-Jährigen. Wir wissen sehr wenig über den effektiven Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Mit einer systematischen Evidenzbasis über einen längeren Zeitraum könnten wir die Gesundheitsentwicklung verfolgen. Eine systematische Datengrundlage ermöglicht dann auch, evidenzbasiert Massnahmen zu ergreifen. Wir legen in unserer Gesellschaft den Fokus stark auf Therapierung und könnten viel früher ansetzen.
Wir haben bei unserer Erhebung gesehen, dass viele Kinder von psychischen Probleme betroffen sind. Wenn man dann aber fragt, mit wem sie darüber sprechen, dann sagen rund 30 Prozent, sie haben niemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Über 50 Prozent derjenigen, die psychische Problemen benennen, nehmen keine professionelle Hilfe in Anspruch. Wie können wir professionelle Stellen positionieren und mit dem Auftrag versehen, dass auch Jugendliche – da geht es wieder um die Zugänglichkeit – den Weg dorthin finden?
BS: Ich habe viele Freunde, die Smart Watches tragen, um ihre Schritte zu zählen sowie ihren Puls und ihre Kalorienverbrennung zu messen. Das sind alles eigene Projekte, die Sinnhaftigkeit verleihen. Gleich ist es, wenn man seinen Körper gestaltet, seine Haut pflegt, seine Beweglichkeit verbessert, wenn man verschiedene Muskelgruppen formt. Wie wichtig sind solche Sachen für die psychische Gesundheit? Kann man sagen, dass Jugendliche, die viel Sport treiben, eine bessere psychische Gesundheit aufweisen? Wie würdest du diese Fokussierung auf den Körper beurteilen?
NH: Ich kann es nicht mit gesicherten Daten unterlegen, aber es ist definitiv so. Nur schon Beziehungen oder physische Freundschaftsbeziehungen wirken sich positiv auf die psychische Gesundheit aus. Bewegung wirkt sich positiv auf die psychische Gesundheit aus. Auch die Natur, Grünes, in der Natur sein wirkt sich positiv auf das körperliche und psychische Wohlbefinden aus. Der Trend in Richtung Körperbewusstsein ist aber ein zweischneidiges Schwert. Es geht darum, die Balance zu finden zwischen dem, was mir guttut, mir hilft, mich erdet und mir einen Bezug zur Realität gibt, und dem, wo es dann in Richtung eines Suchtverhaltens oder eines übermässigen Körperbewusstseins oder auch wieder in eine Selbstdarstellung kippt.
Benjamin, was machst du konkret für deine Gesundheit?
BS: Ich mache viele Sachen, die nicht gut sind. Ich bin kein Vorzeigemodell. Aber ich glaube, ich bin jemand, der sich damit auseinandersetzt und versucht, herauszufinden, was guttut und was nicht, und die Kunst dafür braucht, Erfahrungen zu teilen und auch eine gewisse Offenheit zu haben. Ich selbst mache viel Sport. Ich habe es auch schon übertrieben und weiss, was es heisst, wenn es in einen Zwang mündet, wenn es mit Identität und selbst auferlegtem Zwang zu tun hat. Ich trainiere jedenzweiten Tag in einem Fitnesscenter in sehr kontrolliertem Rahmen, der vom Kunsthistoriker Jürg Scheller auch mit dem Kirchgang verglichen wird. Ich werde demnächst aber wieder mit Boxen anfangen. Als Student habe ich gemerkt, dass mir die körperliche Auseinandersetzung fehlt. Permanent vor dem Laptop sitzen, permanent schauen, dass der VPN funktioniert, dann wieder zwei Mal authentifizieren, man rennt von Handy zu Laptop und ist die ganze Zeit in einem Stress, immer hinter dem Bildschirm, ist immer erreichbar. Das sind Sachen, die mich belasten und für die der Ort des Fitnessstudios ein Gegengewicht sein kann.
Nicole, wie sieht das bei dir aus?
NH: Ich fühlte mich gerade ein bisschen zurückversetzt in die Zeit, als ich Studentin war. Ich lief die Halbmarathondistanz, bevor ich Kinder hatte. Es hat mir geholfen, mich zu erden, wieder zu mir zurückzufinden, es wurde aber auch ungesund, indem ich mich über die Massen körperlich aktiviert habe. Seit Kindern und Job und politischem Engagement hat sich der Sport sehr reduziert. Es tut mir aber gut, in die Natur zu gehen.
BS: Mir ist das als Nachtrag zu der Frage, was heute fehlt, noch wichtig: soziale Kontakte, Leute, mit denen man sein kann, und ein Ort, wo man sich nicht immer darstellen muss.
NH: Leistungsfreie Räume.
BS: Genau. Communitys, wo man sich austauschen kann, wo es Offenheit gibt und keinen Konkurrenzdruck wie im Job, wo das leider viel zu oft der Fall ist. Wo man die Ansprüche an sich selbst und die Selbstdarstellung fallen lässt.
«Kinder und Jugendliche können es gut benennen: Stress, zu viel los, keine Zeit.»
Der Druck, dass man sich stets gegenseitig über die Leistung vergleicht und gar nicht easy zusammen sein kann, war früher weniger gross. Muss man der kindersoziologischen Perspektive gesellschaftlich Raum geben?
NH: Genau, das ist das, was Kinder zurückmelden. In unserer Erhebung Kinderrecht aus Kinder- und Jugendsicht war eines der grossen Themen: Stress, zu viel los, keine Zeit. Kinder und Jugendliche können das relativ gut benennen. Da müssen wir als Gesellschaft hinschauen.