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N°1/2022
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«Wir kommen der Kunst immer näher»

Sie haben ihre Ausbildung gleichzeitig gemacht, aber eine ganz andere Karriere eingeschlagen: Rebecca Clopath, als Naturköchin in Lohn in Graubünden bekannt geworden, und Alain Vögeli, Küchenchef im Buffet Nord an der HKB in Bern. Wie teilen sie ihre Profession und ihre Vision? Ein Gespräch auf Zoom.

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Leiter Kommunikation und Publikationen der HKB. Kürzlich hat er fünf Kilogramm Salzzitronen hergestellt.

Illustration

Meine erste Frage geht an Alain: Welche Ausstellung hast du dir zuletzt angesehen?
Alain Vögeli: Wegen Corona war ich schon lange nicht mehr in einem Museum. Ich denke, das war die Ausstellung über das Altern im Berner Generationenhaus.

Was hast du in dieser Ausstellung gesehen?
AV: Den Rechner, der einem ausrechnet, wie lange man noch zu leben hat, fand ich sehr
interessant.

«Forever Young» hiess diese Ausstellung. Rebecca, was läuft auf deinem Plattenteller?
Rebecca Clopath: Am meisten höre ich Techno. Was Musik angeht, war ich lange sehr einseitig. Seit ich Spotify habe, wächst die Vielseitigkeit, weil man einfach, ohne zu überlegen, an neue Musik kommt. Das ist auf der einen Seite schön, auf der anderen auch etwas unheimlich. Man merkt, da ist ein System dahinter, das genau weiss, was ich gut finde.

Ich habe Spotify abgestellt, weil ich nicht will, dass mir irgendein Algorithmus sagt, was ich zu hören habe. Welches Buch liegt auf deinem Nachttisch?
RC: Zum einen «The Art of Fermentation» von Sandor Ellix Katz. Das andere ist ein Buch des Psychologen Alfred Adler. Ich bin noch nicht sehr weit, aber so wie ich es verstehe, ist Adler der Ansicht, dass einige Mechanismen, die man mit der Zeit als Charakter ausbildet, oder auch Neigungen, die man entwickelt, schon als Kleinkind oder pränatal ausgebildet werden. Das beeinflusst dann die Entscheidungen, die man im Leben trifft.

Rebecca Clopath

Die nächste Frage geht an Alain: Was kochst du im Februar?
AV: Lagergemüse, das aktuell vorhanden ist. Wir arbeiten mit dem Foodwaste-Projekt «Gmüesgarte» zusammen und wollen möglichst nur Schweizer Produkte verarbeiten. Da kommen Karotten, Sellerie, Chabis, Lauch zum Zug, die momentan erhältlich sind. Ich freue mich aber auf den Frühling, wenn endlich das frische Gemüse kommt.

Der Februar ist der schwierigste Monat, was Gemüse angeht?
AV: Ja, man hat alles schon zwei-, dreimal gemacht. Und in der Migros gibt es schon Spargeln und Erdbeeren. Die Leute freuen sich darauf. Aber es ist einfach noch nicht Saison dafür.

RC: Gibt es schon Spargeln?

AV: In der Migros gibt es schon seit Dezember Spargeln.

RC: Gruusig. Im Sommer und im Herbst haben wir viel eingemacht. Jetzt können wir daraus schöpfen. Aber es ist schon so, wie Alain sagt. Man hat die einen oder anderen Gemüsesorten, die einem schon fast zur Nase raushängen. Dennoch gibt es eine Vielfalt. Es ist an uns Köch*innen, etwas zu kreieren, das man zu Hause vielleicht nicht so kennt, dass man die Pastinaken oder den Sellerie etwas anders zubereitet, als man sich gewohnt ist. Das ist spannend, weil man dadurch wieder eine eigene Vielfalt generieren kann.

Vielfalt generieren in der angebotsschwachen Saison?
RC: Genau. Wir konzentrieren uns auf den alpinen Raum und verzichten auf Kaffee, Schokolade, Zimt, Nelken und so weiter. Dadurch haben wir ein viel schmaleres Angebot, aber wir setzen es mit mehr Varietät um.

AV: Wenn wir Sachen machen, die die Leute zu Hause kochen, dann bestellen sie es nicht. Wenn man etwas macht, das die Gäste selber weniger kochen, ist das Interesse grösser, es auch auswärts zu essen.

Rebecca, für dich wird oft der Begriff Naturküche verwendet. Ich weiss nicht, ob er von dir stammt oder auch von dir gebraucht wird. Was sagst du zu diesem Begriff?
RC: Der Ausdruck wurde mir so zugeteilt, ich habe ihn nicht selber erfunden. Am Anfang hat es mich ein wenig genervt, weil der Begriff mich schubladisiert. Mittlerweile bin ich ganz zufrieden damit. Ich finde es schön, mit einem Begriff zu arbeiten, der neu ist. Auf diese Weise kann ich auch eine eigene Schublade kreieren.

Du sprichst ja von Wertschätzung für den ganzen Prozess. Was heisst das?
RC: Mir geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Deswegen nennen wir unser Acht-Gang-Menü «Esswahrnehmung». Das heisst, man nimmt wahr, was man isst. Wir reden darüber, woher die Zutaten kommen, wie wir sie zubereiten oder herstellen wie zum Beispiel Mascarpone, den man ja selten selber macht. Damit kann man ein Bewusstsein für lokale Produkte entwickeln. Indem wir sozusagen aufklären, indem wir Geschichten erzählen, nicht nur über Essen, sondern auch über Kultur und Kunst im alpinen Raum.

Deine Geschichte wird mit einem Produkt erzählt?
RC: Wir haben jedes Mal ein neues Thema, zurzeit Graubünden in hundert Geschichten: Dabei geht es nicht immer nur um das Essen. Wir stellen auch verschiedene Künstler*innen vor oder Sportler*innen oder Ortschaften. Einfach alles, was kulturell so passiert ist. Zum Beispiel jetzt haben wir Origen in unserem Dessert als Geschichte. Wir reden darüber, wie Origen von Giovanni Netzer, der rote Turm auf dem Julier Pass, entstanden ist und interpretieren dann das Ganze auf dem Teller. Das heisst, das Dessert ist rot und wirkt mehr visuell als sprachlich. Die Ohren nehmen auf, was man hört, die Augen, was man als Farbe auf dem Teller sieht, und der Gaumen, was man schmeckt. Einmal hatten wir auch ein Menü «Pioniere der Alpen.» Ein anderes Beispiel ist Albert Einstein, der in Bern die Relativitätstheorie entwickelt hat. Wir haben uns gefragt, was denn sein Lieblingsessen gewesen war, und haben es auf den Teller gebracht.

Du hast erzählt von der Inspiration aus Kunst, Sport, Farben. Es sind Geschichten, die in der Küche inszeniert werden. Könnte man das so sagen?
RC: Ich esse sehr gerne, finde es aber auch schön, wenn man wie ein Stückchen weiter geht. Meine Idee ist es, Kunst, Kulinarik und Kultur zu vereinen, indem man wirklich alle Sinne an den Tisch nimmt.

Wenn die Küche eine Inszenierung ist, dann kommt es der Kunst schon sehr nahe: ein Theaterstück, eine Performance?
RC: Ja, ich denke, der Kunst kommen wir immer näher. Wie in einem Theaterstück erzählen wir auch immer etwas, bevor es den nächsten Gang gibt. Alain, du warst ja auch schon bei uns. Ich weiss nicht, wie du das in Erinnerung hast.

AV: Es geht um mehr, nicht einfach nur essen. Die Geschichte dazu ist wichtig.

Naturküche ist ein Trend, der gegenwärtig viele beschäftigt: natürliche Prozesse, Produkte aus der Region etc. Alain, kannst du dich mit der grassierenden Landliebe anfreunden?
AV: Ich finde es interessant, dass man sich zurückbesinnt auf den Ursprung und nicht versucht, alles zu importieren, sondern man versucht, mit den Produkten, die es in der Schweiz gibt, die hier wachsen, etwas Tolles zu machen, und nicht mit dem Seeteufel aus Übersee. Das ist eine interessante Bewegung.

Alain Vögeli

Aber wo bleibt das Künstliche, wenn man Naturküche betreibt? Das Künstliche wäre ja etwas kreieren, etwas erstellen, erarbeiten, was in der Natur so nicht vorkommt. Ist das für dich ein Gegensatz?
AV: Nein, eigentlich nicht. Sobald man ein Produkt nimmt und es verarbeitet, beginnt ja der Prozess.

RC: Ich sehe es auch so: Sobald man etwas in die Hände nimmt und auf eine Art und Weise verarbeitet, ist es ein Prozess. Wenn ich jetzt eine weisse Leinwand habe und einen Pinselstrich mache, dann ist das auch etwas, das jede*r kann. Aber nicht alle können es für hunderttausend Franken verkaufen. Man kann aber auch ein Bild malen, das komplex ist, und alle sagen: Wow, das würde ich nie hinkriegen. Kochen hat mit Intuition zu tun, sprich intuitiv auch mit Kunst. Es muss nicht unbedingt ein Schokoladeschaustück sein, das einen Meter gross ist und an dem man zehn Jahre gearbeitet hat.

AV: Die Leute nehmen sich keine Zeit mehr, um Produkte zu bearbeiten. In den letzten Jahren ist die Zeit, die Leute zum Kochen aufwenden, immer kürzer geworden.

Kochen ist Kreation. Fühlst du dich als Künstlerin, Rebecca?
RC: Auch, aber nicht nur. Ich bin primär eine Handwerkerin. Kochen ist eine Mischung aus Handwerk und künstlerischem Dasein – je nachdem, in welchem Segment man arbeitet. Wenn ich in einer Grossküche arbeite, dann bin ich vor allem eine Handwerkerin. Wenn ich dagegen in einem Lokal arbeite, das wenig Gäste hat, das sich Zeit nimmt für jedes einzelne Produkt und auf die Gäste eingehen kann, dann würde ich mich eher als Künstlerin bezeichnen. Was wir in Lohn machen, ist eine schöne Mischung. Wir sind noch viel im Garten, wir basteln je nachdem unser Geschirr selber, wir sind draussen am Kochen auf dem Feuer. Wir haben den Bauernhof und so weiter.

Wie bist du dorthin gekommen, wo du heute bist?
RC: Ich bin meinen Interessen gefolgt. Ich bin auf dem Bauernhof aufgewachsen, in Lohn in Graubünden. Wir waren viel draussen und da habe ich viel mitgenommen. Meine Mutter hat gekocht, ich habe von ihr gelernt. Meine Lehre habe ich bei Chrüteroski in Bern gemacht. Danach habe ich kurz an zwei Stationen woanders gearbeitet, war für zwei Jahre in der Junioren-Nationalmannschaft und bin dann zu Stefan Wiesner, dem Alchemist aus dem Entlebuch. Dann habe ich mich selbstständig gemacht, die Bäuerinnenschule besucht und einige Zeit als Bäuerin, im Gemüsebau, und als Käserin gearbeitet. Seit ein paar Jahren bin ich wieder zurück zu Hause in Lohn.

Wie ist das bei dir gelaufen, Alain?
AV: Aus Bern bin ich bisher nie rausgekommen. Für die Lehre im Restaurant Frohegg bin ich nach Bern gezogen. Dann war ich Jungkoch im Restaurant Büner und im Casa Novo. Ich hatte die Chance, recht jung im Restaurant Ringgenberg Küchenchef zu werden. Danach war ich sechs Jahre im Schloss Köniz. Jetzt habe ich mich entschieden, eine Weiterbildung zu machen. Damit ich dafür genug Zeit oder geregelte Arbeitszeiten habe, wechselte ich letztes Jahr an die HKB.

Was für eine Weiterbildung machst du?
AV: Betriebsleiter mit eidgenössischem Fachausweis.

Deine Küche, Alain, ist das Buffet Nord an der HKB, die Kantine an einer Kunsthochschule. Du kochst am Mittag Menüs, die im Preis eng begrenzt sind. Wenn du zurückdenkst an dein Berufsziel: Ist es der richtige Ort, an dem du gelandet bist?
AV: Ja, in dem Sinn, dass das Buffet Nord keine klassische Kantine ist, in der man Fertigprodukte verarbeitet, sondern dass wir, wie Rebecca auch, das Handwerk noch leben können. Zum Beispiel stellen wir unsere Desserts selber her und backen auch unser Brot selbst. Es ist nicht die klassische Kantine, die Chicken Nuggets und Pommes frites verkauft, sondern wir verarbeiten frisches Gemüse und stellen die Sachen selber her.

Alain kocht Mittagsmenüs für 14.50 und du, Rebecca, machst auf deinem Hof die «Esswahrnehmung» für 290 Franken.
RC: Ich will die Gastronomie ein wenig verändern. Es ist Zeit für eine neue Generation. Wir brauchen diese strenge Hierarchie nicht mehr. Bei uns pflegen wir eine flache Hierarchie. Auf den ersten Blick erscheint die Ess-Wahrnehmung wie ein super hochbudgetiertes Menü. Wenn man es aber herunterrechnet, kostet ein Gang ohne Wein 26 Franken – für ein Menü, das wir mehrere Wochen vorbereiten und dazu nur 16 Sitzplätze anbieten. So gesehen ist das Angebot eher tiefpreisig. Aber klar, summa summarum hat man 290 Franken ausgegeben – allerdings nicht nur fürs Essen, wie wir schon diskutiert haben, sondern auch für ein Erlebnis, eine Erfahrung. Ein bisschen wie ein Theaterstück. All diese Faktoren machen «Esswahrnehmung» zu etwas, das aussergewöhnlich ist.

Hast du nicht nur eine kulinarische, kulturelle und künstlerische, sondern auch eine soziale Vision für deine Küche?
RC: Ja, ich denke, es ist eine soziale Vision für alle Angestellten. Für dieses Qualitätssegment arbeiten verhältnismässig wenig. Es sind 10-Stunden-Tage, wir haben Mittagsservice und der Umgangston ist sehr leger. Das ist der soziale Aspekt, den ich sehr wichtig finde, um die Gastronomie in eine neue Richtung zu lenken. Aber auch für unsere Gäste möchten wir eine Wahrnehmung schaffen, dass Essen nicht nur da ist, um zu überleben, aber auch kein Luxusgut ist mit Kaviar, mit Hummer und so weiter. Diese Wertschätzung am Essen, das für uns ja lebensnotwendig ist, möchten wir vermitteln.

Alain, was ist deine soziale Vision?
AV: Wir wollen für die Leute, die bei uns essen kommen, etwas Gesundes und Frisches zubereiten, das ohne E-Stoffe auskommt.

Und die Vision der Küche der Zukunft?
AV: Ein grosses Problem, das wir aktuell haben, ist der Food Waste. Wir leben im Überfluss. Ein Drittel der geernteten Lebensmittel wird weggeschmissen. Das ist ein grosses Problem, das wir gemeinsam anpacken müssen.

Und was sagst du dazu, Rebecca?
RC: Huh! Das ist ein riesiges Thema. Es muss auch hier zu einem Ausgleich kommen. Wir müssen in der Küche vom Militärischen loskommen. Die Gastronomie muss sozialer werden – und eben auch der Food Waste, den Alain angesprochen hat, ist wichtig. Das sind die zwei Hauptprobleme, die in der Gastronomie in den letzten Jahrzehnten verdrängt wurden – gerade auch in der Schweiz. Da hat man sich auf den Lorbeeren ausgeruht.

Könnte man sagen: In der Küche müssen Antworten auf die Verschwendung und die Ausbeutung gefunden werden?
AV: Das kann ich total unterschreiben.

RC: Man hat sehr lange daran festgehalten, dass in der Küche eine strenge Hierarchie herrscht. Dadurch ist die Arbeit immer weniger attraktiv geworden, aber der Rest der Welt hat sich weiterentwickelt. In vielen Berufen, ich sage nicht in allen, aber in vielen Berufen hat man sich mehr und mehr mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Welche Bedürfnisse gibt es? Was ist wichtig? Da muss die Gastronomie noch einiges aufholen, weil man zu lange in dieser militärischen Struktur verhaftet blieb.