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N°3/2024
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«We of the craft are all crazy.»

Die Rolle und das Bild des*der Kunstschaffenden in der Gesellschaft? Fühlt alles, spürt alles, ist aber auch allem ausgesetzt. Ein Streifzug durch die Künstler*innenseele von den Griechen bis in die woke Gegenwart – mit einem Seitenblick auf die Gesundheitsdebatte in der normativen Gesellschaft heute.

Text

ist Wissenschaftsjournalist und Kurator in Basel

Unlängst in einem Online-Austausch, es ging um den Unterschied zwischen neurodivers und neurodivergent. S. setzte mir kenntnisreich auseinander, dass Neurodiversität alle Menschen betreffe, während der Begriff neurodivergent von einer schwarzen autistischen Bloggerin geprägt worden sei. Hier gehe es um «eine konstruierte Norm», die gewaltvoll wirke, genauso wie andere Ausschlussmechanismen. Neurodivergente Personen seien diejenigen, die sich nicht in diese konstruierte Norm einfügen können – «aus diversen Gründen». Inzwischen bin ich auch schon über den Begriff neurospicy gestolpert, als positiv besetzte Selbstzuschreibung.Was davon ist krank, was ist gesund? Wir wissen spätestens seit Foucault, dass das keine objektiv medizinische, sondern eine gesellschaftlich einordnende Frage ist. Was in diesem Text interessiert, ist die Geschichte dieser Normierung – und die Geschichte des Aus-der-Norm-Fallens, der Faszination des Divergenten, des Nonkonformen, des Abweichenden und der Verbindungen zur Kunst. Man könnte auch sagen: die Geschichte der Narrenfreiheit des*der Kunstschaffenden. Und die reicht weit zurück.

Die griechischen Philosophen
«Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?» Nach antiker Lesart ist die Melancholie nicht einfach analog zu unserer süssen Schwermut, sie ist eines der vier grundlegenden Ungleichgewichte in der Körpersäftelehre, charakterisiert (auch der Wortherkunft nach) durch zu viel schwarze Galle. Vor allem aber ist sie Voraussetzung für den «göttlichen Wahnsinn» (griechisch-lateinisch mania). Ohne diese Manie gibt es keine künstlerische Inspiration, keine, würde man heute wohl sagen, kreativen Geniestreiche. Die aus einem Fragment zitierte Frage wird oft Aristoteles zugeordnet, stammt aber vermutlich von Theophrast. Egal, wer die Verwunderung damals in die Welt gesetzt hat, sie sollte sich als überaus prägend für die abendländische Geistesgeschichte erweisen und in die romantische Genieästhetik münden.Sprung ins Heute – kein wesentlicher Unterschied zu bemerken (bloss die Begriffe für Manie verschieben sich leicht). Der Kritiker und Essayist Clement Greenberg notiert 1961 in seinem Tagebuch: «The best American artists + writers of my time = alcoholics or on the verge of alcoholism; or megalomaniacs; or hysterics. Pollock, Faulkner, F. Lloyd Wright, Still, Newman, de Kooning, Rothko. On the other hand, the manic-depressives: Cal [Robert] Lowell, Delmore Schwarz … David Smith a hysteric? Ken Noland a manic-depressive like me.»

Häufigere Psychosen?
Man darf also wohl zurecht die Frage stellen, mit zeitgenössisch klinischem Blick: Sind Kunstschaffende eher von psychischen Störungen betroffen? Tatsächlich zeigen Studien zumindest eine starke Korrelation auf, kreativ Schaffende und Psychosen, das überlagert sich. In Fachartikeln liest sich das dann etwa so: «Artistically creative groups share the unusual and sometimes chaotic thought processes which typify both mild and severe psychopathology. Indeed, their scores on measures of these traits are essentially as high as patients with a diagnosis of schizophrenia.»Man hat den Zusammenhang verschiedentlich genetisch zu erklären versucht. Zunächst vor allem bei Schizophrenie, unlängst auch bei manisch-depressiven Störungen. Meistens suchen solche Studien Genvarianten, die sowohl eine Disposition für kreative Fähigkeiten bedeuten wie auch für die jeweilige psychische Störung. Um diese verschiedenen Welten zusammenzubringen, definiert man Kreativität in solchen klinischen Kontexten gern auch als «divergent thinking» – soll man das auf Deutsch mit «abwegigem Denken» übersetzen? Dieses stelle, so die Vorstellung, eine mentale Grundkonstitution dar, die im Zusammenhang mit Kunst (oder verwandten Berufen wie der Forschung) Kreativität ermögliche, sich aber auch häufiger in Psychosen äussere.

Kreativität in der Evolution
Biologistisch betrachtet stellt sich bei einem solchen Befund immer die Frage, warum sich eine Störung, sofern sie eine stark genetische Komponente hat, über längere Zeit in einem Genpool hält. Eigentlich müsste sie, so die Evolutionslogik, allmählich verschwinden, sofern sie ihre Träger*innen «unfitter» macht, also für weniger Nachkommen sorgt. Kreativität wäre da ein Ausweg, sie würde den evolutionären Vorteil darstellen, der dafür sorgt, dass Schizotypie und andere Störungen uns über Generationen begleiten.Man nennt solches in biologistischer Logik auch Trade-off: Der Gewinn auf der einen Seite muss mit einem Handicap woanders erkauft werden. Sind Künstler*innen also Randständige im Spektrum psychischer Gesundheit, muss man sie sich als mentale Extrembergsteiger*innen vorstellen, als Tänzer*innen auf einem Vulkan, in dem dauernd die Lava potenzieller Psychosen brodelt? Das wäre alter Wein in neuen Schläuchen: Das klingt, naturwissenschaftlich verbrämt, wieder ganz nach der romantischen Idee des Künstlergenies. Oder wie der britische Dichter und Romantiker Lord Byron schrieb: «We of the craft are all crazy. Some are affected by gaiety, others by melancholy, but all are more or less touched.»Schon ein-, zweihundert Jahre vor Byron hatte die Irr- und Narrheit eine seltsame Blüte erlebt in den Künsten. In der Literatur steht der Wahnsinn im Mittelpunkt von Werken wie Das Narrenschiff von Sebastian Brant (Bestseller aus dem 16. Jahrhundert) oder Jacob van Oestvorens De Blauwe Schuit, beide spielen auf bis heute sprichwörtlichen ships of fools. Viele Gemälde aus der Zeit sind bevölkert von Wahnsinnigen, man denke nur an Bruegel. Und auch Grimmelshausens Simplicissimus oder Cervantes’ Don Quijote haben von ihren Schöpfern ein solches Mass an Exzentrik bekommen, dass es ihnen heute bestimmt eine medikamentöse Behandlung eintragen würde.

Die wahnsinnige Romantik
Es war aber die Romantik, die den Wahnsinn geradezu adelte, als reinere, freiere Art des Erlebens und Weltverstehens: Nur der Wahnsinnige, weder von der Vernunft noch von gesellschaftlichen Konventionen gezügelt, hatte Zugang zur Essenz der Dinge. Den Romantiker*innen war Subjektivität und Individualismus alles, sie feierten die Wahnsinnigen als Helden, die nur ihre eigenen Regeln kennen. Und wenn man die These unterschreibt, dass jedes Genie ein wenig wahnsinnig sein muss, dann ist es zum Umkehrschluss nicht weit: Echte Werke des Genies können nur die tatsächlich Verrückten, die Divergenten, schaffen. Foucault nennt es die «romantische Identifizierung des Wahnsinns».Die Romantik übertrieb es vielleicht ein wenig mit dem Pathos, die Aufklärung mochte es nüchterner. Gerade deswegen sollte die Idee des Borderline-Genies einflussreich bleiben, bis ins Zeitgenössische hinein. Anfang des 20. Jahrhunderts waren es die Surrealisten, die, von Freud inspiriert, das Unbewusste, das Träumerische, das Irrationale erkunden wollten. Sie mochten das Dunkle, das Verstörende und ersannen verschiedene poetische Techniken (wie die écriture automatique), um Zugang zu diesen der bürgerlichen Welt verschlossenen kreativen Territorien zu gewinnen. Die Wahnsinnigen wiederum brauchten diese Tricks nicht, sie hatten einen direkten Zugang.

Der wahnsinnige Surrealismus
André Breton schrieb im Surrealistischen Manifest: «Bleibt der Wahnsinn, ‹der Wahnsinn, den man einsperrt›, wie man so trefflich gesagt hat (…). Tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine gering zu achtende Quelle des Genusses (…). Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und einer Unschuld, die sich nur mit der meinen vergleichen lässt. Kolumbus musste mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken.» Auch der französische Dichter Paul Éluard schlug sich vorbehaltlos auf die Seite der Wahnsinnigen: «Wir, die wir sie lieben, verstehen, dass die Geisteskranken nicht geheilt werden können. Wir wissen sehr wohl, dass wir es sind, die eingesperrt sind, wenn sich die Tür des Irrenhauses schliesst: Das Gefängnis ist ausserhalb des Irrenhauses, die Freiheit ist im Inneren zu finden.»Freiheit – und vielleicht sogar geistige Gesundheit? Es ist ein buchstäblich irres Spiegelkabinett. Erleben wir nicht eben gerade immer wieder, wie nah das «Irrationale» zum Geisteskranken rückt, im Abqualifizieren Andersdenkender? Umgekehrt kam schon mit Marx die Vorstellung auf, dass nicht mit den Unangepassten etwas verkehrt ist, sondern dass die kapitalistische Gesellschaft die Neurose verkörpert, dass also an der Norm etwas schief ist. Spätestens in den krisenhaften Jahrzehnten nach Fortschrittseifer und Wirtschaftswunder wurde das zur Chiffre: 1973 schreibt Michael Schneider in Neurose und Klassenkampf vom «pathogenen Charakter der entfremdeten Arbeit» selbst. Eine wirksame Psychotherapie besteht deshalb nicht mehr in der Anpassung des vermeintlich «Kranken» an eine «gesunde» Gesellschaft, Aufgabe einer emanzipativen Psychoanalyse sei es, den in der psychischen Krankheit sich äussernden passiven Widerstand (die unbewusste Verweigerung) in aktiven Widerstand gegen die krank machenden Verhältnisse umzuwandeln.

Krank machende Norm
Geisteskrank wäre demnach nicht das Sich-nicht-einfügen-Wollen oder -Können in eine Norm, krank oder zumindest krank machend ist die (kapitalistische) Gesellschaft, also die Norm selbst. Und gesund kann nur sein, wer sich deren Grundlogik und dem bürgerlichen Leistungsethos verweigert. Es ist kein Zufall, dass im selben Moment die Antipsychiatrie-Bewegung aufkommt: Sie will keine Reformen der Psychiatrien, sie hat das radikale Ziel, die Wahnsinnigen aus den Kliniken zu befreien, sie in die Gesellschaft zurückzuholen, ähnlich wie es im Mittelalter noch gang und gäbe war. Und noch eine Gleichzeitigkeit: Mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) wurde ab den 1950er-Jahren erstmals versucht, die «Landschaft» der psychischen Störungen wissenschaftlich exakt zu vermessen. Dass dieses Manual wiederum für eine wissenschaftshistorische Beweisaufnahme taugt, war den Verfassern wohl nicht bewusst: Die Broschüre sollte über die Jahre zu einem dicken Wälzer anwachsen (2022 947 Seiten mit über 300 Diagnosen) (fig. I). Wurden wir tatsächlich immer kränker in den letzten siebzig Jahren oder haben wir gelernt, genauer hinzuschauen? Oder sind diese Manuals der Inbegriff der Intoleranz (und gleichzeitig Machtinstrument) der modernen Gesellschaft allem Unangepassten gegenüber?

In diesem geistesgeschichtlichen Kontext schrieb Michel Foucault seinen Klassiker Wahnsinn und Gesellschaft, in dem er aufzeigt, wie die psychisch Kranken seit dem Mittelalter allmählich aus der Gesellschaft abgesondert wurden, bis sie schliesslich wegen ihrer Dysfunktionalität – die sich parallel auch erst manifestieren musste – eingesperrt wurden. Foucault hat aber auch bemerkt, dass die Wahnsinnigen nicht einfach – aus den Augen, aus dem Sinn – weggesperrt wurden, sie sind keine aus der Gesellschaft Verdrängten (im Sinne von Freud), sie haben weiterhin eine Rolle zu spielen, wie sie es schon im Mittelalter taten: Sie versichern die Norm ihrer Normalität, sie konturieren das fade bürgerliche Mittelmass.

Kunstschaffende im Prekären
Und damit wieder zur Kunst: Waren es im Mittelalter noch die Verrückten, die Narreteien begehen durften, die für Unterhaltung und Spektakel sorgten, so sind es heute vielleicht die Kunstschaffenden? Drängt die heutige Gesellschaft die Künstler*innen also ganz bewusst ins Prekäre, in den Wahnsinn einer freien, aber ungesicherten Existenz? Tatsächlich lässt sie sich ja gern von den Theaterbühnen herab, zwischen Buchdeckeln hervor, an Kunsthappenings kritisieren, aber so richtig beeindrucken (oder gar verändern) lässt sie sich von diesen Verrücktheiten nicht. Die Norm spürt sich umso besser, je deutlicher man den Rand sieht. Im wohligen Gefühl, dass andere da balancieren müssen, dass der Absturz nur den Nonkonformen droht. Es ist ein fauler Deal, weil die Kunst an ihm nicht wirklich etwas zu gewinnen hätte. Ob es letztlich das schwelende Bewusstsein ist, dass man sich so über den Tisch ziehen lässt, das krank macht?In eben diesem gesellschaftspolitischen Kontext kündigt die Performance-Kunst das Recht auf (eigene) körperliche Unversehrtheit auf, mit Vehemenz und wenn’s sein muss, mit Waffengewalt. Chris Burden schiesst sich in den Arm, Marina Abramović malträtiert sich auf immer ausgefallenere Weise, die Wiener Aktionisten veranstalten Schweinereien, die auch spitalreif enden dürfen. Kathartisch könnte das womöglich noch sein, gesund ist es bestimmt nicht. Dem Publikum gefällt’s, also etabliert sich ein ganzes Borderline-Kunstgenre. Inzwischen mag es die Performance-Kunst ritueller, man könnte auch sagen: gruppentherapeutischer. Self-Care statt masochistischer Provokation.Es könnte alles aber auch noch viel einfacher sein: Prekär leben heisst dauernd Stress haben – nach einem Bonmot des kürzlich verstorbenen Musikers Kinky Friedman: «Künstler sind ihrer Zeit voraus und mit der Miete im Rückstand» – und Stress macht krank. Erst in jüngster Zeit beginnt man, das Randständige der Kunst auch ökonomisch ernst zu nehmen. Eine Untersuchung von Sally Anne Gross und George Musgrave legt nahe, dass die hohe Rate an selbstdeklarierter anxiety und Depression bei Musiker*innen zumindest teilweise auf ihre Arbeitsbedingungen zurückzuführen ist.Vulnerabel oder resilient? Man kann es so oder so drehen: Nur wer über grosse Stresstoleranz verfügt, kann sich ein Leben im Nonkonformen überhaupt vorstellen. Nur wer Verletzlichkeit zulässt, bekommt ein Sensorium für die Abgründe, die Quelle der Inspiration sind, eine*n aber auch gefährden können. Wenn nun aber von den Kunstschaffenden verlangt wird, stellvertretend für das weiterhin stumpfe Mittelmass, auch noch besonders verletzlich zu sein, dann könnte der Deal, der nie besonders vorteilhaft war, endgültig zuungunsten der Kunst ausfallen.