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N°2/2022
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Vom Verteidigen von Werten

Lasst uns zu einem Ort des kollaborativen Lernens werden, einem Ort, der uns allen Erfahrungen ermöglicht, die den menschenverachtenden Konzepten der Autokraten solche der gemeinsam getragenen Selbstbestimmung entgegensetzen.

Text

1970 in Bern geboren, ist Komponist, Fagottist, Verleger und vertritt die Dozierenden in der Departementsleitung HKB und in der Fachbereichsleitung Musik.

Bern bietet viele versteckte Sehenswürdigkeiten, eine davon ist das Grab Nr. 9201/000068 des Bremgartenfriedhofs. Der russische Anarchist Michail Bakunin (1814–1876) hat dort seine letzte Unruhe gefun­den und (nicht nur) mich von Kämpfen auf den Barrikaden dieser Welt träumen lassen. «Freiheit ohne Sozialismus = Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit; Sozialismus ohne Freiheit = Sklaverei und Brutalität» – mit dieser Losung war für viele im Kalten Krieg Geborene die Welt recht gut beschrieben und vor allem war klar, für welche Werte wir einstehen wollten: Chancengleichheit, Freiheit, kollektivistische Lebensweise.

Nachhaltiger geprägt hat mich ein anderer russischer Anarchist: Pëtr Kropotkin (1842–1921). Wie viele andere Revolutionär*innen stammte er aus privilegiertesten Verhältnissen. Seine Familie gehörte zum russischen Hochadel und Kropotkins Vater «besass» 1200 männliche Leibeigene, die auf den ausgedehnten Ländereien schuften mussten. Frauen waren so wenig wert, dass sie nicht einmal gezählt wurden. Diese ekla­tante Ungleichheit hatte früh Kropotkins Sinn für Gerechtigkeit
geweckt und später würde er «Wohlstand für alle» als Grundlage einer friedlichen Gesellschaft einfordern.

Standesgemäss hatte Kropotkin als 15-Jähriger ins St. Petersburger Pagenkorps einzutreten, um auf eine Karriere im Militär oder in der Verwaltung vorbereitet zu werden. Um der reaktionären Atmosphäre St. Petersburgs zu entkommen, liess er sich nach Sibirien versetzen. Fern der Autoritäten widmete er sich biologischen und geografischen Studien und leitete mehrere Forschungsreisen in damals völlig unbekannte Regionen. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Sozialdarwinismus zunehmend populärer. Dieser übernahm Teilaspekte der von Darwin aufgestellten Evolutionslehre und übertrug dessen Erkenntnisse in missbräuchlicher Art auf den Menschen. Zu dieser Theorie ging Kropotkin deutlich auf Distanz, denn die in Sibirien gemachten Erfahrungen liessen ihn am hohen Stellenwert des Konkurrenzkampfs zweifeln. Sein für mich wichtigster Text trägt den schönen Titel Mutual Aid: A Factor of Evolution, worin dem biologischen Determinismus der Sozialdarwinisten¹ das Konzept der gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt entgegengestellt wird. Kropotkins Kampf für eine
gewalt- und herrschaftsfreie Gesellschaft ist aktueller denn je. Wohin das Auge reicht, schränken Autokraten² die Meinungsfreiheit ein, werden Oppositionsbewegungen unterdrückt und als Konsequenz dessen müssen wir nun mitansehen, wie Putin und seine Schergen auf das Mittel brutalster Gewalt setzen.

Für Anarchist*innen wäre die Sache eigentlich klar: Wer staatliche Autorität abschaffen will, vertritt im Allgemeinen antimilitaristische Standpunkte. Zumindest in einem Fall sah Kropotkin dies anders: Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs schlug er sich auf die Seite Frankreichs, weil ein Sieg Deutschlands auch einen Sieg des Autoritarismus bedeutet hätte.

Heute können wir täglich lesen, dass in der Ukraine auch unsere westlichen Werte verteidigt würden, und es stellt sich uns dieselbe schreckliche Frage: Lassen sich Werte mit Mitteln verteidigen, die diesen im Kern widersprechen? Ich bin der Überzeugung, dass Werte gelebt werden müssen, damit sie manifest werden und so die Chance erhalten, sich durchzusetzen. Für mich als Pädagogikdozent bedeutet dies, dass ich schon die kleinsten Schüler*innen als selbstbestimmte Wesen verstehe, und ich sehe es als meine Aufgabe, Kindern Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Selbstverständlich gilt dies auch für Student*innen und ich weiss, dass ich von diesen mindestens so viel zu lernen habe wie sie von mir.

Das Militär ist bestimmt keine herrschaftsfreie Zone und der Krieg ist nicht die Zeit der Selbstwirksamkeit und schon gar nicht der Gewaltfreiheit. Deshalb kann in der Ukraine nur indirekt für diese Werte gekämpft werden und wir müssen hoffen, dass sie durch den bewaffneten Kampf gegen den Autoritarismus nicht selbst auf der Strecke bleiben. Umso wichtiger ist es deshalb, dass wir, die wir das Glück haben, fern des Krieges zu leben, die zu verteidigenden Werte manifestieren. Putin setzt auf das Recht des Stärkeren, wir müssen ihm dasjenige der gegenseitigen Hilfe entgegensetzen. Auch bei uns werden die Falken schon wieder lauter. Aufrüstungsvorhaben werden beklatscht und Nationalrätin Martina Bircher will Tunesier ausschaffen, um Platz für Ukrainerinnen zu schaffen. Die Gefahr ist real, dass die Welle der Solidarität verebbt, und wir sind aufgefordert, unseren Beitrag zu leisten, dass dies nicht passiert.

Ich bin dankbar für alle schon gezeigten Initiativen der HKB. Ich rufe aber dazu auf, dass wir darüber hinausgehende Aktivitäten planen, die den kulturellen Kern unserer Werte betreffen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Kompetenzen als Kunsthochschule einsetzen, um Menschen zusammenzubringen. Lasst uns pädagogische Formate erarbeiten, die geflüchtete Menschen (von A wie Afghanistan bis Z wie Zentralafrikanische Republik) und Menschen, die schon länger hier leben, mit Student*innen und Dozierenden zusammenzubringen. Lasst uns zu einem Ort des kollaborativen Lernens werden, einem Ort, der uns allen Erfahrungen ermöglicht, die den menschenverachtenden Konzepten der Autokraten solche der gemeinsam getragenen Selbstbestimmung entgegensetzen. Lasst uns diese Konzepte nicht nur im geschützten Rahmen der Hochschule andenken, sondern tragen wir diese nach draussen.

Damit die Zeit nach diesem Krieg nicht zu einer Zeit vor einem nächsten grossen Schlachten wird, müssen wir jetzt Gewalt- und Herrschaftsfreiheit lernen und üben. Wer den Frieden will, bereite den Frieden vor.