Schatten von Vögeln vor gemaltem Horizont
Kunstwerke, mit denen die Zoologie versucht, die Natur zu ordnen. Das Forschungsprojekt Die Tiere Afrikas hinter Glas untersucht die Geschichte der Afrika-Dioramen im Naturhistorischen Museum Bern. Über das spezielle Verhältnis der Ordnungssysteme von Natur und Kunst.
Hyänen und Wildhunde, die sich gierig um ein totes Zebra scharen, wunderschöne Bongos in einem Bambuswäldchen, die mit grossen Augen und unschuldigem Blick das Publikum betrachten, ein Löwenmännchen, das in einer kargen Steppenlandschaft sein Revier und seine Weibchen vor einem Konkurrenten verteidigt, das sind mehrdimensionale Bilder einer Ausstellung, schön, scheinbar unschuldig und doch auch unheimlich, nicht unähnlich einer lebensnahen Installation eines Duane Hanson oder den fotografischen Inszenierungen eines Gregory Crewdson, der grossformatige Szenen amerikanischer Vorstädte kreiert.Die auf illusionistischen Prinzipien beruhenden, aber hyperreal erscheinenden Habitatdioramen in der Dauerausstellung «Tiere Afrikas» sind seit bald 100 Jahren der grosse Stolz und der Publikumsmagnet des Naturhistorischen Museums Bern. Befand sich das Natur- noch bis in die 1930er-Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kunstmuseum, so wurden mit der Eröffnung eines modernistischen Neubaus im Jahr 1936 Natur und Kunst zumindest räumlich voneinander getrennt. Im Ordnungssystem des Naturhistorischen Museums versuchten Wissenschaftler*innen, hier konkret Vertreter*innen von Naturgeschichte bzw. Zoologie und Biologie, in den folgenden Jahrzehnten, die Natur und ihre innewohnenden Lebewesen aus der Schweiz und von anderswo in wissenschaftlichen Systemen zu arrangieren und zu zeigen.
Dioramen als Kunstwerke
Jedoch: Die Ausstellungsobjekte, Schaukästen und Kojen, sie sind im Grunde Kunstwerke – vor allem wenn man sich intensiver mit ihnen beschäftigt. Für die Herstellung der Dioramen, also diesen minutiös nachgebauten Landschaften scheinbar urwüchsiger Wildnis, perfekt rekonstruiert mit Pflanzen, Tierpräparaten, der Malerei im Hintergrund, war das Museum im engsten Sinne auf künstlerische und kunsthandwerkliche Fertigkeiten angewiesen. Maler*innen und Präparatoren*innen waren mit am Werk und sie sind es bis heute.In den 1920er-Jahren, als diese gewissermassen auf naturwissenschaftlichen Grundlagen fussenden Kunstwerke in Bern entstanden, legte Franz Baumann, der damalige Direktor des Museums, Zoologe und Universitätsprofessor, viel Wert darauf, präzise «Lebensbilder» herzustellen. 1 Die Zeit war geprägt von Wirtschaftskrisen und politischen Unwägbarkeiten. Reisen führten deshalb für die meisten Menschen eher in die nähere Umgebung, z.B. ins Dählhölzli, manchmal in das Berner Oberland, oder – schon seltener – in den Basler Zoo, wo einzelne Wildtiere zu bewundern waren. Zuweilen kamen Schaubuden oder Zirkusse vorbei, die Bären mit sich führten. Kurzum: Aussereuropäische Tiere waren noch selten zu sehen. Umso intensiver musste die Imagination des Hintergrundmalers und des Präparators, die die Dioramen herstellten, angekurbelt und zum Einsatz gebracht werden, umso beeindruckender mussten die Skulpturen, in der Form von Löwen, Gazellen, Zebras u.a. aus Grosswildjagden oder Zoos, auf die Besuchenden wirken.
Kein Fuss in Afrika
Ein renommierter Präparator, Georg Ruprecht, war in Deutschland rekrutiert und ein weitherum bekannter Berner Landschaftsmaler, Heinrich Würgler, war für die Hintergrundmalerei engagiert worden. Ihre Kunst bestand darin, Tiere und Landschaften so zu erstellen und zu kombinieren, dass für das damalige Publikum die vermeintliche afrikanische Wildnis glaubwürdig vorgeführt werden konnte. Ebenso wenig wie dem Direktor Franz Baumann selbst war es den beiden jedoch vergönnt, je einen Fuss auf den afrikanischen Kontinent zu setzen. Wissenschaftlichen Ansprüchen zu entsprechen, war unter diesen Umständen eine Herausforderung. Umso dankbarer war Baumann darüber, dass das Naturhistorische Museum von den Jagdreisen beispielsweise des in London lebenden Bernburgers Bernard von Wattenwyl in britisches und belgisches Kolonialgebiet profitieren konnte, «Die Resultate seiner Forschungsreise sind gross und von bleibendem wissenschaftlichem Wert», schrieb Baumann im Nachruf auf Bernard von Wattenwyl. 2 Wattenwyl war im Jahr 1923 zusammen mit seiner Tochter Vivienne auf eine Safari nach Kenia, Uganda und in den Kongo aufgebrochen.Baumann freute sich in dieser Hinsicht auch über «… eine ausserordentlich wertvolle Kollektion südafrikanischer Huftiere in prachtvollen Bälgen mit Schädeln und Beinknochen», die Arnold Theiler, ein Schweizer Veterinärwissenschaftler, der im südlichen Afrika wirkte, nach Bern geschickt hatte. 3 Diese traf mit «vollständigen Masstabellen der einzelnen Tiere» im Museum ein. Eine solche half dem Präparator, die Fantasie zu zügeln: «Die dermoplastische Aufstellung werde dadurch wesentlich erleichtert.» 4 Wie durchlässig die Grenzen zur Kunst waren, zeigt sich darin, dass auch Malerei – beispielsweise des damals bedeutenden Tiermalers Wilhelm Kuhnert – und Fotografie – etwa die von Vivienne von Wattenwyl während der Reise mit ihrem Vater gemachten und von Kenia nach Bern geschickten Bilder oder ihre an vielen Stellen äusserst poetisch verfassten Reiseberichte – bei der Erstellung der Dioramen eine bedeutende Rolle spielten.Dass das Ordnungssystem des Naturhistorischen Museums Bern auch auf künstlerischen Praktiken fusste, war dem Museumsdirektor Baumann durchaus bewusst: Dies zeigt sich an einer Negativbewertung, die er in seinem Tagebuch vermerkte, als es darum ging, einen geeigneten Präparator für sein Vorhaben zu finden. Einen Interessenten für die Stelle hielt er aus diesen Gründen zur Arbeit an den Dioramen für ungeeignet: «22. September: Besuch des Präparators A. Pfenninger in Zürich. Scheint ein guter gewissenhafter Arbeiter zu sein, ohne bessere Bildung und ohne eigentlich künstlerische Begabung.» 5
«Skizzen nach der Natur»
Lobend erwähnte er hingegen die kleinen Plastiken im Massstab 1:10, die der Präparator Ruprecht jeweils von den Tieren erstellte. Baumann fügt hinzu, dass dieser auch ein vorzüglicher Zeichner sei. Er erwähnt seine Skizzen aus dem Zoologischen Garten «nach der Natur». 6 Das Wirken Georg Ruprechts wurde denn auch nachhaltig geschätzt, zu seinem 70. Geburtstag schien dessen Arbeit klar einordenbar: «Ein Präparator muss heute vor allem Tierbildhauer sein. Ruprecht verbindet hohes künstlerisches Können mit eingehender Kenntnis nicht nur des Baues, sondern auch der Lebensweise der Tiere. Darum haftet seinen Werken nichts Steifes, Unnatürliches an. Ob es sich um das gespannte Lauern eines Tigers oder um das scheue Sichern einer Antilope handelt, immer weiss er das Tier in seiner kennzeichnenden Haltung oder Bewegung darzustellen. Und deshalb fühlen wir uns bei Betrachtung der afrikanischen Landschaftsausschnitte jedes Mal wirklich in ein fernes, tropisches Tierparadies versetzt.» 7
Ordnungssysteme der Kunst und der Wissenschaft
Diese hier eher skizzenhaft bleibenden Schilderungen der Entstehung von Habitatdioramen am Naturhistorischen Museum Bern und ihres Beitrags an koloniale Blickregimes erinnern daran, dass Ordnungssysteme der Kunst und der Wissenschaft kaum trennscharf betrachtet werden können und immer auch mit Machtstrukturen in Zusammenhang stehen. [8] Vordergründig scheint für Franz Baumann die Realisierung der Dioramen eine wissenschaftliche Sache gewesen zu sein. So attribuierte er dem Donator der Tierhäute, -hörner und -felle, die den Von-Wattenwyl-Saal bestückten, dem Grosswildjäger Bernard von Wattenwyl, wie erwähnt grosse wissenschaftliche Fähigkeiten. Aber es ist erhellend zu sehen, dass neben dem engagierten Präparator, Georg Ruprecht, und dem Hintergrundmaler, Heinrich Würgler, sogar Bernard von Wattenwyl eigentlich als Kunstmaler und nicht als Naturwissenschaftler ausgebildet war.Unsere Forschung hat zudem gezeigt, dass die tierischen, auf «wissenschaftlichen Prinzipien» beruhenden Ordnungssysteme ständig neu arrangiert, dass Fehler entdeckt und Interpretationen korrigiert, Tiere neu in die Dioramen eingefügt oder wieder entfernt wurden. Bis heute kann das Verwelken bzw. Abfallen der künstlichen Plastikblumen beobachtet werden. Schliesslich haben wir sogar feststellen können, dass Schatten in den Bildern dieser geordneten Natur auftauchen, wo sie nicht sein sollten, nämlich als Schatten von präparierten Vögeln vor dem (gemalten) blauen Horizont. [9] Damit gelingt es genau hinguckenden Zuschauer*innen, zu entlarven, dass diese Naturbilder, die möglichst echt wirken sollten, von Menschen gemachte Kunstwerke sind.