Remember Remember – Kuchen essen und Erinnerungen teilen
Celia und Nathalie Sidler loten in ihren Installationen das Potenzial des Materials Lebensmittel aus. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der HKB1 werden ihre künstlerischen Arbeiten von der Konservatorin-Restauratorin Bruna Casagrande dokumentiert. Ein Auszug aus einem von vielen Gesprächen im Projektteam.
(1982) ist Konservatorin-Restauratorin für zeitgenössische Kunst und wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Institut Praktiken und Theorien der Künste der HKB. Sie hat die Dokumentationsmethode «multiperspektivischer Zeugenbericht» entwickelt, mit der mündliche Berichte zu veränderlichen Kunstwerken erstellt werden.
Die nächste künstlerische Arbeit mit dem Titel «Remember Remember» ist im Kunstraum Dreiviertel in Bern geplant. Celia und Nathalie, was reizt euch an diesem Ort?
Celia Sidler: Der Kunstraum Dreiviertel ist ein Offspace, der sich für die Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft interessiert, das passt zu uns als künstlerisch Forschenden sehr gut. Wir werden an drei Tagen ausstellen, Ende Februar.
Natalie Sidler: Es ist eigentlich keine Ausstellung, sondern eine künstlerische Intervention, die punktuell stattfindet und nach ein paar Tagen wieder verschwindet. Wir haben den Raum gewählt, weil er sehr klein ist, wir arbeiten fokussiert auf eine Sache hin.
CS: Das grosse Schaufenster gefällt uns, dass man hineinschauen kann und dass der Raum sich neben einer Bäckerei befindet, an einer stark frequentierten Strasse, das heisst, unsere Arbeit wird auch sichtbar werden für vorbeigehende Menschen.
NS: Ein kleiner Innenraum, der gross sichtbar ist. Die Bäckerei hat mittags viel Kundschaft, und sie ist über die gleiche Treppe erreichbar wie der Raum Dreiviertel, das hat uns inspiriert und ist für die geplante Installation sehr passend.
Welches Setting werden die Besucher*innen im Raum vorfinden?
NS: Zu Beginn einer Arbeit machen wir uns gemeinsam ein Bild der geplanten Installation, in diesem Fall sieht das ungefähr so aus: In der Mitte des Raums steht ein runder Tisch mit Stühlen, darauf befindet sich ein Tuch, kein gewöhnliches Tischtuch, sondern ein ausgemustertes Laken aus dem Unispital Basel. Dieses Bettlaken ist golden bestickt und darauf steht ein Kuchen, der gegessen werden kann.
CS: Das Motiv der Stickerei sind Blumen und die Schleife eines Trauerkranzes. Hinten im Raum sind weitere Kuchen auf einem Regal aufgereiht. Es sind insgesamt acht Kuchen, denn wir haben mit acht verschiedenen Frauen Gespräche über Familienrezepte geführt, und im Verlaufe dieser Gespräche kamen wir immer auf biografische Ereignisse zu sprechen, die den Frauen in Zusammenhang mit dem Backen dieses Kuchens und mit dem Sprechen darüber wieder in den Sinn gekommen sind. Vielfach ging es um Veränderungen im eigenen Leben, Migration, Verlust, Tod. Textfragmente aus diesen Gesprächen werden im Raum sichtbar oder hörbar sein. Die Kuchen, welche angeboten werden, werden von diesen Gesprächspartnerinnen für die Ausstellung gebacken.
Die Besuchenden sind eingeladen, von den Kuchen zu essen. Wie explizit werdet ihr diese Einladung machen?
NS: Der Moment, wenn in dem Bild, wie wir es beschrieben haben, eine Handlung entsteht, interessiert uns. Wann und wie kommen die Besucher*innen ins Handeln, dieser Frage gehen wir in unserer Arbeit nach.
CS: Vielleicht wird der Kuchen in Stücke geschnitten sein als Einladung, sich davon zu nehmen. Oder eine Aufsichtsperson wird Anweisungen geben und neuen Kuchen aufstellen. Wir möchten trotz Corona die Gelegenheit bieten zum bewussten multisensorischen Wahrnehmen.
NS: Wir nehmen ja nicht nur visuell wahr, sondern immer auch olfaktorisch, auditiv, haptisch und gustatorisch, und wir möchten, dass all diese sensorischen Wahrnehmungsformen explizit möglich sind in dem Raum, dass die Besuchenden die Stoffservietten auffalten, vom Kuchen kosten und so weiter.
Was wird zu hören sein?
CS: Wahrscheinlich wird es auch eine Audiokomponente geben, und es werden verschiedenste Geräusche entstehen, vielleicht Stühle rücken, Gespräche unter den Besucher*innen …
NS: Die Arbeit wird sich im Spannungsfeld zwischen «unantastbarer Installation» und «sozialem Raum» bewegen. Es kann dort eine Interaktion stattfinden, durch Handlung kann ein neues Setting kreiert, das Bestehende
verändert werden.
CS: Für unsere Gespräche haben wir die Frauen zu Hause besucht, wir haben bei ihnen am Tisch gesessen, zusammen Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und geredet. Dieses Setting wiederholen wir jetzt im Dreiviertel und geben den Besuchenden die Gelegenheit, eigene Erinnerungen hervorzuholen und mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen.
NS: Bei all unseren Gesprächen stand das Familienrezept am Anfang: Woher kommt es, zu welchen Anlässen wird es gebacken, wozu braucht man Erinnerung, was macht mich aus und was gebe ich weiter?
CS: Immer kamen die Familiengeschichte und die eigene Biografie zur Sprache, anhand eines Kuchens haben wir Lebensgeschichten erzählt bekommen.
NS: Deshalb ist es wichtig, dass die Kuchen gegessen werden, im besten Fall haben die Besucher*innen darüber Erinnerungen an ihre eigenen Lebensgeschichten, sodass ein Netz an Erinnerungen entsteht.
Auch diese zweite Arbeit innerhalb unseres Projekts werden wir mittels Zeugen-berichten dokumentieren. Worüber könnte diese Dokumentation euch als Künstlerinnen Aufschluss geben?
CS: Uns interessieren die Aussagen von Personen, die offen und interessiert an die Installation herangehen, sich hinsetzen, selbstreflexiv wahrnehmen und sich vielfältig ausdrücken können.
NS: Die den Mut haben, den eigenen Wahrnehmungen Gewicht zu geben. Mich würde es auch interessieren, jemanden zu hören, der oder die sich nicht hinsetzt, sich nicht auf diese Weise involvieren mag.
CS: Die Rolle der Rezipient*innen ist uns sehr wichtig.
NS: Wie lässt sich das Potenzial von Kunst mit Lebensmitteln ausloten, wie ist das Verhältnis zwischen Rezipient*in und Kunstarbeit? Solche Reflexionen in Zeugenberichten sind für uns als Künstlerinnen interessant.
Neben den Zeugenberichten und der Fotografie werden auch Videos zum Einsatz kommen für die Dokumentation. Welches Potenzial seht ihr darin?
CS: Video wird uns Aufschluss geben können darüber, wie sich die Besucher*innen im Raum bewegen, wie sie haptisch involviert werden.
NS: Fotografie hingegen zeichnet nur einzelne Momente auf. Problematisch ist in beiden Fällen die Anwesenheit einer Kamera, besonders in diesem kleinen Raum. Wir sind überzeugt, dass sich das irritierend auf die Besucher*innen auswirkt.
CS: Die Idee einer kaum sichtbaren Raumkamera gefällt uns besser, weil sie weniger störend ist. Aber natürlich ist ein ausführlich dokumentierter zeitlicher Ablauf als Ergänzung zum sprachlichen Zeugenbericht spannend. Die Frage, wie unsere partizipativ-performativen Interventionen dokumentiert werden sollen, das treibt uns um und ist ja auch deshalb Gegenstand des Forschungsprojekts. Auch diese Arbeit ist wieder ein Experiment und liefert uns bestenfalls weitere Ansätze oder gar Antworten.