Rebecca Gisler
Rebecca Gislers Leben ist geprägt von Literatur, ob sie nun liest oder schreibt. Dass ihr Romanerstling «D’Oncle» mit dem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde, gibt ihrer Arbeit Schub – nicht nur, weil das Preisgeld für Freiräume sorgt.
hat Soziologie und Rechtswissenschaft studiert und als Journalistin auf der Redaktion von NZZ Campus gearbeitet sowie in Luzern 041 – Das Kulturmagazin geleitet. Aktuell ist sie als freie Journalistin, Moderatorin und Dozentin für Kommunikationskompetenz an der Hochschule Luzern – Wirtschaft tätig.
«Es gibt Dinge, die kannst du dir nicht ausdenken!», lacht Rebecca Gisler, als ich sie auf den Job der Erzählerin ihres Erstlings anspreche. Die namenlose junge Frau übersetzt einen schier unendlichen digitalen Katalog einer Tierhandlung, der Menschen die merkwürdigsten Dinge für ihre haarigen Lieblinge schmackhaft zu machen versucht. So wie die Erzählerin im Roman «Vom Onkel» ihr Geld verdient, bestreitet auch die Autorin Rebecca Gisler einen Teil ihres Lebensunterhalts. «Mit Literatur haben diese Übersetzungen nichts zu tun», betont Gisler. Und doch sind selbst die irrwitzigen Texte eine Quelle der Inspiration – wie fast alles, was Gisler erlebt, beobachtet und liest.
Das mit dem Schreiben habe schon am Gymnasium angefangen, erzählt die 30-Jährige, mehr oder weniger parallel mit dem vielen Lesen. Die beiden Tätigkeiten hängen für Gisler eng zusammen, prägen sich gegenseitig. Nach der Matura zog es die gebürtige Zürcherin darum nach Biel, wo sie am Schweizerischen Literaturinstitut studierte. «Ich habe es sehr genossen, mich ins Schreiben vertiefen zu dürfen, das Studium machte es sozusagen legitim, sehr viel Zeit in die Arbeit an Texten zu investieren», sagt Gisler. Während des Studiums begann sie auch, vielfältige Anlässe rund um Literatur zu organisieren, entstanden sind viele Freundschaften, die sie bis heute begleiten. «Es war wichtig, mich ausprobieren zu dürfen, auch mal zu scheitern mit einer Idee oder einem Versuch. Und sehr hilfreich, eigene wie auch fremde Texte zu diskutieren», erinnert sich Gisler an die intensive Zeit zurück.
Sprache der Institutionen
Zunächst habe sie auf Deutsch geschrieben, in der Sprache also, die sie sich in der Schule erarbeitet hat. «Hochdeutsch ist für mich ein Stück weit die Sprache von Institutionen, die Verbindung dazu ist nicht so emotional wie zum Schweizerdeutsch; und lange stand ja in der Schule im Vordergrund, wie man diese Sprache korrekt benutzt», sagt Gisler. Bereits in Biel hätten sie Dozierende ermuntert, auf Französisch zu schreiben, in der Muttersprache ihrer Mutter, in der eigenen Familiensprache, die in ihrem Zuhause gesprochen wurde. Lange habe sie gedacht, dass ginge ja gar nicht; weil sie die Sprache nicht beherrsche, Fehler mache, Sätze formuliere, die nicht richtig klingen. Eine Muttersprache, die nur in der Familie gepflegt wird, ist reich an vielem und schränkt doch stark ein, was man zu sagen in der Lage ist.
Doch dann fasste Gisler Mut und schrieb sich für einen Master in kreativem Schreiben an der Universität Paris 8 ein. Literatur interessiere sie als Leserin oft da, wo sie sich in eine «ungemütliche Zone» vorwage, sagt Gisler, und so habe auch sie den Schritt aus der Sicherheit der Sprache gewagt, die sie – zumindest grammatikalisch – einwandfrei beherrschte, an der sie jahrelang gefeilt hatte. «Ich begann dann, ausschliesslich französischsprachige Literatur zu lesen», erzählt sie, spricht begeistert von komplett neuen Welten, die sich ihr eröffnet haben. Parallel dazu wagte sie sich daran, auf Französisch zu schreiben. Es ist kein Zufall, dass ihr Debütroman «D’Oncle» eine Familiengeschichte ist, schliesslich ist Französisch für Gisler die «langue familiale». Wie sie selbst, ist auch Gislers Erzählerin in der Schweiz aufgewachsen. Das gab der Schriftstellerin die Möglichkeit, ihrer Figur eine ganz eigene Sprache in den Mund zu legen, die sich weniger um Korrektheit kümmert als um den Klang, die Musikalität und jene Poesie, die selbst Ausdrücke wie «ausrollbare Leinen» oder «bunte Kackbeutel» entwickeln können, wenn man sie richtig zu ordnen vermag.
Auf Deutsch neu verfassen
Nachdem ihr Debüt auf Französisch erschienen war, machte sich Gisler daran, die Geschichte vom Onkel ins Deutsche zu übertragen – oder vielmehr auf Deutsch neu zu verfassen. Der Onkel, der irgendwie ein Kind geblieben ist und doch in einem Körper lebt, der altert und mehr Fürsorge brauchen würde, als er bekommt, die erwachsenen Kinder seiner Schwester, die mit ihm zusammen in einem Haus am Meer in Frankreich leben, wo sie nicht wirklich hingehören, die halb verdrängten Fetzen aus Erinnerungen, die plötzlich im Jetzt neue und doch vertraute Formen annehmen – all die Figuren hat Gisler zu einer Familiengeschichte gewoben und in eine wunderbare Sprache gegossen. Die Leichtigkeit, die das Loslassen von Regeln im Französischen in ihren Text gebracht hatte, nun nicht zu verlieren, ihre verspielte und poetische Sprache nun neu auf Deutsch zu erfinden, stellte Gisler vor eine grosse Herausforderung. Dass sie am Berliner Wettbewerb für junge Literatur Open Mike mit einem ersten Ausschnitt der deutschen Fassung den ersten Preis gewann, zeigte schon vor der Fertigstellung des Textes, dass sie in die richtige Richtung losgelaufen war. Schliesslich sei auch die Unterstützung ihrer Lektorin beim Atlantis-Verlag sehr hilfreich gewesen.
Dass ihr Debütroman – genauer: dessen französische Fassung – nun als eines von fünf Büchern mit dem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde, sei eine grosse Ehre, sagt Gisler. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass viele tolle Autor*innen nicht immer das Glück hätten, eine solche Bestätigung für ihr Schreiben zu bekommen. «Schreiben ist sehr oft auch mit Zweifeln verbunden», gibt Gisler zu bedenken. Die Anerkennung habe ihr ungemein gutgetan, habe einen Motivationsschub ausgelöst. Natürlich sorge auch das Preisgeld für Freiräume, die sie für die Arbeit an einem nächsten Buch nutzen will – später dann, wenn die Aufmerksamkeit etwas abgeklungen ist. Zurzeit stehen viele Lesungen an, die Begegnungen mit Leser*innen eröffnen immer wieder spannende Perspektiven: «Der Austausch bringt mich weiter», ist Gisler überzeugt. Doch eigentlich führe sie einfach ein ganz normales Leben, sagt sie lachend. Neben der konzentrierten Arbeit am Schreibtisch sorgt möglichst viel Bewegung an der frischen Luft für einen Ausgleich: «In einer idealen Welt würde ich jeden Tag drei Stunden mit Laufen verbringen!» Was als Nächstes kommt, worauf darf sich ihre Leser*innenschaft freuen? Zurzeit arbeitet sie an ersten Skizzen für Figuren, notiert noch fragile Ideen, schreibt Gedichte. Ob sie wieder zuerst auf Französisch schreiben wird oder ihr nächstes Buch den umgekehrten Weg durch Gislers Sprachen nehmen wird – das wird sich erst in Zukunft zeigen.