Pop, Patriarchat und Plattformen
Sie sind Mitte zwanzig, machen Pop und navigieren im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Selbstvermarktung. Wie geht es jungen Musikschaffenden in Bern?
«Will ich wirklich voll auf die Karte Musik setzen?» Diese Frage stellen sich derzeit viele junge Musikschaffende. Der Einstieg ins lokale Musikgeschäft ist härter denn je: Veranstaltungsorte und Auftrittsmöglichkeiten schwinden, zeitgleich verändert sich das Konsumverhalten des Publikums. Die Logik des digitalen Kapitalismus entfesselt einen Wettlauf um Aufmerksamkeit, der eine ständige Präsenz auf allen digitalen Kanälen voraussetzt. Das kann fokussiertem Musikschaffen im Weg stehen.Seit letztem Jahr gelten ausserdem neue Richtlinien bei der Kulturförderung der Stadt Bern. Kulturprojekte werden nicht mehr getrennt nach Sparten beurteilt und bei den Projektbudgets müssen marktübliche Gagen und Sozialabgaben in den Budgets aufgeführt werden. Ein lobenswerter Schritt, um Selbstausbeutung entgegenzuwirken. Doch gerade Newcomer in der Musik stehen dadurch auch vor neuen Herausforderungen. Denn statt sich in Projekten «auszuprobieren», müssen sie sich frühzeitig als Unternehmer*innen begreifen. Eine Ausnahme bildet das Förderprogramm Startstutz, das Unterstützung für unter 25-Jährige bietet und bis zu 3000 Schweizer Franken ohne detailliertes Budget genehmigen kann. Auch die Bernerin Juley weiss um diese Herausforderungen. Erste Songs schrieb sie mit elf Jahren auf dem Klavier, beeinflusst von Pop-Diven wie Miley Cyrus oder Lana Del Rey. «In der Schweiz ist es nicht üblich, nach der obligatorischen Schulzeit zu sagen: Ich werde Popkünstlerin. Aber genau das hatte ich vor», so Juley. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Friseurin, brach diese jedoch ab, als sie an der Swiss Jazz School aufgenommen wurde.
Mit GarageBand und Midi-Keyboard produzierte Juley in dieser Zeit zwei Instrumental-Alben, die sie bis heute nicht veröffentlicht hat. Mit 18 Jahren beginnt sie, ihre Musik auf SoundCloud zu teilen. Ausschliesslich Coversongs. «Meine eigenen Werke wollte ich aufsparen, bis ich sie professionell produzieren und abmischen kann», so Juley. 2021 veröffentlicht sie mithilfe des Produzenten und Komponisten Ben Mühlethaler «Body» und «True Love». Die Veröffentlichung ging mit einer Unmenge administrativer Herausforderungen einher: Anmeldungen bei Urheberrechtsgesellschaften oder dem Erstellen eines verifizierten Spotify-Accounts. «Als Independent Artist erledigst du das alles selbst», sagt Juley.
High End
«You start to dance, take a chance, ooh ooh. Feel the rush, oh boy don’t be scared of me …», singt sie im
Musikvideo zu «Body». Eine High-End-Produktion. Juleys intime Lyrics erzählen vom eigenen Körper, von ihrer Transidentität oder Crushes. Kurz nach der Veröffentlichung lernte sie «eine Promotionsfrau» kennen, wie sie sie nennt. Die von ihrem Sound begeistert ist und versuchte, «Body» bei gängigen Radiosendern unterzubringen. Erfolglos. Ihre Musik sei möglicherweise ein wenig «too much» für die Schweiz, wurde ihr einmal gesagt. Zweifelsohne können Menschen, die festlegen, ob ein Song im Radio gespielt wird, zu einem kräftigen Karriere-Boost verhelfen.Ein prominentes Beispiel dafür ist Sirens Of Lesbos. Die Berner Band landete 2014 einen internationalen Hit. Zuvor hatten die zwei Produzenten, Arci Friede und Melvyn Buss, über Jahre anspruchsvolle Musik gemacht, ohne relevante Reichweite zu generieren. An ihren Deep-House-Hit «Long Days, Hot Nights», der auf Spotify gegen 30 Millionen Streams verzeichnet, wollten sie musikalisch zwar nicht anknüpfen, mit dem Unterschreiben bei einem Ableger von Sony erhielten sie aber einen kräftigen Vorschuss – und auch heute erklingt der Sound der Band in der Radio-Abteilung der BBC.
Streaming vs. künstlerisches Tempo
Trotz ausbleibendem Radioplay erhielt Juley auf ihre ersten Veröffentlichungen viel positive Resonanz. «This should have been the Swiss Eurovision song» oder «I am so happy I found you on TikTok!!!! This song is so addicting and the video is just vibes», solche Kommentare lassen sich unter ihrem Musikvideo «Body» finden. Auch Anfragen für Live-Auftritte folgten. «Doch ich fühlte mich nicht ready», sagt Juley. Selbstvermarktungstechnisch wäre es damals gut gewesen, sie hätte ihre erste EP bereits fertig gehabt. Der Druck, kontinuierlich neue Releases zu liefern, sei gross, sagt die Musikerin. Früher hätten Künstler*innen auch mal vermisst werden wollen, heute würden sie so schnell «nachlegen», dass sie manchmal ihre eigenen Alben überschatten. Juley möchte sich hier nach einem traditionelleren Mindset richten: «Ich gebe meiner Musik den Raum und die Zeit, die sie braucht». Gerade steht sie jetzt kurz vor der Veröffentlichung ihrer ersten EP – mit Merchandising, CD und Plattendruck. Juley mag es, sich in Szene zu setzen, Videos zu drehen und «Content» zu generieren. Sie lässt die Community an ihrem Musikleben teilhaben, nutzte Instagram schon früh und hat zu Beginn ihres musikalischen Schaffens bereits einige Tausend Follower*innen. Social Media sieht sie trotzdem zwiespältig: «Ich finde es schlimm, dass so viel Wert auf das Äussere und die Performance gelegt wird. Besonders für Musiker*innen, die sich weniger gerne oder gar nicht inszenieren.»Ihr erstes Album hat Juley mit dem erwähnten Berner Fördermittel für Jugendliche und junge Erwachsene, Startstutz, finanziert. Trotzdem bleibt das Thema Geld ein «Drama», wie sie sagt. Gerade waren die Grammy Awards 2025, und Juley war beeindruckt von der Rede Chappell Roans. Die US-amerikanische Popsängerin wurde während der Covidpandemie von ihrem Label gedroppt, kurz nachdem sie einen Club-Song veröffentlicht hatte, der zu wenig Erfolg hatte. Und Roan sah sich gezwungen, nach einer Dekade im Musikbusiness zwischenzeitlich in einem Fastfood-Drive-in zu arbeiten. Während ihrer Dankensrede appellierte sie an die Mächtigen im US-Musikbusiness, respektvoll mit jungen Künstler*innen umzugehen, sie finanziell und gesundheitlich abzusichern. Juley hat zurzeit zwei Nebenjobs, will aber schnellstmöglich vollständig auf ihre Popkarriere setzen.
Finanziell von der eigenen Musik abhängig zu sein, das könne sie sich nicht vorstellen. Das sagt Léa Aimée Birrer. Dabei hat sie den Einstieg in die Berner Club- und Musikszene geschafft, zwei Musikprojekte, eine Partyreihe und ein Label ins Leben gerufen. Mit PS3000, einem DJ-Duo, begann die damals 19-Jährige vor fünf Jahren, an Raves in besetzten Häusern und an WG-Partys aufzulegen. Etwas später entstand Butterflyca, eine Kombo mit Silja Vögeli, mit der sie 2023 die EP «Bousteue i mir innä» veröffentlichte. 4000 Franken erhielten Birrer und Vögeli von Startstutz. Der Pop der beiden ist ungewöhnlich, schwebend zwischen verträumtem Mundart-Sprechgesang, Cloud-Rap und verzerrten Synthesizern. Die Texte handeln davon, emotional «nid available» zu sein und sich trotzdem danach zu sehnen, gehalten zu werden – oder vom Tanzen gegen den Frust. Das trifft in der Berner Musikszene einen Nerv. «Anfragen für Gigs erreichten uns, bevor wir überhaupt wussten, ob wir live spielen wollten», lacht Birrer.
«Uns interessierte das Unfertige, der Prozess. Aber natürlich waren wir auch offen für Rückmeldung», so Birrer weiter. Seine Songs lud das Duo Butterflyca auf die Musikplattform Mx3 und nahm an der Demotape Clinic des Festivals m4music teil. Dort erhielten sie Feedback von gestandenen Musikschaffenden, wie etwa dem Zürcher Musiker Stereo Luchs. In dieser Zeit macht Birrer eine entscheidende Beobachtung: «Egal ob am Rave in der Zwischennutzung oder im Vorstand eines Labels, die Musikszene ist durchwegs patriarchal geprägt.» Um dem etwas entgegenzusetzen, stiess Birrer zum Kollektiv Forcefield – welches das gleichnamige und schweizweit einzige Label gründete, das ausschliesslich aus Tinfa*-Personen besteht. Tinfa* steht für Trans-, Inter-, nichtbinäre Menschen, Frauen und Agender-Personen. Und der Stern für alle, die sich nicht mit den zuvor genannten Begriffen identifizieren, ausser cis Männer.
Do-it-yourself
In einem Kellerstudio in Ostermundigen fand ein Haufen Menschen zusammen, die sich schon länger als Veranstalter*innen, Musiker*innen oder DJs in der Berner Musikszene herumtreiben. «Erst war da das Bedürfnis nach einem Ort, an dem Material geteilt wird und Austausch stattfinden kann», so Birrer. Daraus erwuchsen Projekte wie Etoclit, eine energetische Rap-Crew, bestehend aus fünf Personen, die in unterschiedlichen Kombinationen auftreten. Forcefield Records fungiert mittlerweile auch als Booking-Agentur und Management. Mit einem Hauptsitz in der Zwischennutzung «Sollbruchstelle Dazwischen» beim Eigerplatz. 15 Künstler*innen haben beim Label unterzeichnet.Im Ressort «Label» betreut Birrer andere Künstler*innen, etwa die Dream-Popsängerin Alexia Thomas. «Die Bedürfnisse unterscheiden sich stark. Manchmal bin ich ein künstlerischer Resonanzraum, ein anderes Mal arbeite ich am digitalen Vertrieb oder bereite einen Release vor», so Birrer. Equipment, Netzwerke und Reichweite – zentrale Elemente für eine erfolgreiche Musikkarriere – kann Forcefield Records bereitstellen. Doch wie wird entschieden, welcher Sound ins Label passt? «Das ist eine schwierige Frage», räumt Birrer ein. «Uns interessiert mehr als nur Musik, die ‹den Vibe› hat. Wir möchten junge Künstler*innen, die etwas wagen.»Ein Label aufzubauen und zu betreiben, kostet. Bei Forcefield Records werden diese Kosten zu einem grossen Teil mit unbezahlter Arbeit gedeckt. «Das Ziel ist schon, dass wir uns faire Löhne ausbezahlen können», sagt Birrer. Zurzeit würde darüber nachgedacht, eine Stelle ausschliesslich für Fundraising zu schaffen. Parallel zu ihrem Engagement absolviert Birrer ein Praktikum beim Musiklabel Irascible Music. Und beobachtet, wie schnelllebig die Musikbranche ist. «Es gibt so viele digitale Kanäle, die Künstler*innen gleichzeitig bespielen müssen, wenn sie ‹relevant› sein wollen. Schon nur zu verstehen, wie der TikTok-Algorithmus funktioniert, ist eine riesige Herausforderung.»
Sicherheit und Respekt
Juley und Léa Aimée Birrer zeigen, wie unterschiedlich junge Musiker*innen in Bern mit den Herausforderungen der Branche umgehen. Während Juley sich auf traditionelle Produktionsweisen fokussiert, setzt Birrer auf Vernetzung und alternative Strukturen. Beide vereint die Forderung nach besseren Rahmenbedingungen. Juley bringt es auf den Punkt: «Wenn die Schweiz die Musik als wertvollen Bestandteil ihrer Kultur begreift, soll sie Bedingungen schaffen, unter denen Kreativität gedeihen kann – mit finanzieller Sicherheit, Respekt und einer langfristigen Perspektive.»