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N°4/2021
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Perlenkettenbrief Vol. 4

Gesendet: Samstag, 23. Oktober 2021 um 15:47 Uhr

Text

Der Name ist der Redaktion bekannt 

liebe (der Name ist der Redaktion bekannt)

heute habe ich einen esstisch gekauft. vier rostrote tischbeine, wie zwei am rücken gegeneinander gelehnte ballerinas in der première position und eine marmorlandschaft aus koralle, elfenbein, anthrazit und hellgelb. ich bin morgens mit einem leichten kater in den 11. wiener bezirk gefahren, um ihn abzuholen. die verkäuferin, eine circa 50-jährige muslima und ihr circa 13-jähriger sohn haben mich empfangen. ich habe den tisch mit der hilfe des Sohnes in den lift gezogen und draussen auf einen freund gewartet.

wir mussten ein taxi bestellen, um die alte, schwere schönheit zu transportieren und hatten während der fahrt angst, die platte könne sich lösen und vom kofferraum aus schaden anrichten. als wir unter ächzen den zweiten stock meines wohnhauses erreichten, blickten uns aus einer offenen tür sechs junge augenpaare an, eines davon bebrillt. letzteres gehörte einem circa 25-jährigen fotografen, der mehrmals erwähnte, dass er „total dicht“ sei und mich daraufhin aufforderte, ihm mein ende der platte zu überlassen.

wir hatten angst, dass er aus seinem rausch heraus schaden anrichten könnte, doch er brachte die platte mit meinem freund unversehrt bis zum obersten stock. ich widmete mich derweil den ballerinabeinen, die viel leichter und etwas abgewetzt sind. die augen des fotografen wurden gläserner, je länger wir mit ihm sprachen. er sprach viel. es tat mir leid, die tür vor ihm zufallen zu lassen weil ich dachte, jetzt überlasse ich ihn sich selbst und seinem abflauenden rausch.

ich habe einen strauss purpurroter chrysanthemen auf den tisch gestellt und shakshuka gekocht, dass wir mit jasminetee runtergeschlungen haben. danach habe ich angefangen, das zimmer vom esstisch aus umzuräumen. jetzt sitze ich auf der couch und schreibe dir diesen kurzen ausschnitt aus meinem leben. der kater ist weg und ich werde vielleicht noch ein wenig arbeiten. grüsse aus einem sich verdunkelnden tag aus dem 160-grad-winkel