Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°4/2021
i

Perlenkettenbrief Vol. 10

Gesendet: Samstag, 30. Oktober 2021 um 16:46 Uhr

Text

Der Name ist der Redaktion bekannt 

Liebe*r  Perlenfischer*in des Vortextes 

in Deinem Text schreibst Du von Liebeskummer – das ist mein Spezialgebiet oder war es zumindest bis zu meiner Heirat. Der Kummer war verhältnismässig gross im Vergleich zum Liebeserwerb, wenn ich das mal etwas merkantilistisch anmerken darf. Richtig schlimm wurde es nach ersten Erfahrungen mit ungefähr vier Jahren (das war in einem Tessiner Hotel mit meinen Grosseltern, der kleine Junge hiess Stefan und ich weinte im Schlaf, er würde das Mädchen, das tatsächlich Bära hiess, mehr mögen als ich, obwohl ich beim Mittagessen im kleinen Spielzeugzug im Hotelgarten mit ihm zusammen mit nur einer einzigen Gabel das Dessert vespeist hatte) in der Zeit, in der andere junge Menschen die Pubertät durchlaufen: meine fand so – genau genommen – nicht statt, ich kämpfte mit Minnebriefen an irgendwelche interne Kollegianer, die ausserhalb unseres Inzestpools z.B. von Zürich herkamen, gegen das Unbemerktbleiben an.  Das Ritual lief folgendermassen ab: Ich erspähte einen jungen Gymnasiasten und bemühte mich in der typisch katholischen Mischung zwischen übersteigerter Mystik und selbstbestrafender Schüchternheit, mich ihm zu nähern. Meistens baumelte eine Geige an meinem Körper, was die Angepeilten wahrscheinlich eher verunsicherte. Hatte das Treffen stattgefunden, merkte ich mir schon während des Gesprächs alle Details, die ich anschliessend schriftlich noch nachliefern musste. Die Niederschrift der Briefe fand in unserer alten Waschküche im Wohnblock statt, es roch immer gut da und ich kannte mich in dem Untergeschoss des Gebäudes wohl besser aus als in meiner eigenen Psyche. Die Briefe wurden selten beantwortet, trotz meiner innigen abergläubischen Selbstkasteiungen («Wenn Du nun auf die rechte Strassenseite wechselt, hast Du wieder keine Post im Briefkasten», «wenn Du jetzt die Trioloenfigur nicht astrein beherrschst, kommt nie, nie, nie ein Brief zu dir»). Der Liebeskummer hatte aber auch etwas Gutes: ich lernte meine eigenen Grenzen gegen aussen und meine Abgründe gegen innen immer besser kennen. Leider machte es mich auch zu einer recht rationalen Person, die wenig Träume für die Zukunft hat. Je älter ich werde, umso stärker wird ein seltsames Mitteilungsbedürfnis in mir, meine misslungenen Verliebtheiten der Jugend irgendeinmal in einem Jugendbuch zu verewigen. Ich sprach darüber mit unserer zwölfjährigen Tochter, sie meinte nur, dass ich ihr das Buch aber unbedingt vorher zum Gegenlesen überlassen solle, nein, eigentlich wünsche sie sich bei besonders peinlichen Erzählungen doch bitte einen heutigen Kommentar von ihr selbst einfügen zu dürfen.  Seither bin ich beruhigt und auch etwas versöhnt mit meinem eigenen kleinen Ritual – Ich der Jugendjahre.
Nun, lieber nachfolgender Schreiber, liebe nachfolgende Schreiberin – aus welchen Abgründen möchtest du herausgehievt werden?