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N°4/2023
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Olivier David

Auch wenn derzeit viel von Klasse die Rede ist, Hochschulen sind oftmals Orte, an denen sich Eliten reproduzieren. Ein paar Gedanken zu sozialer Durchlässigkeit.

Text

Autor und Kolumnist. 2022 erschien sein Debüt Keine Aufstiegsgeschichte. Olivier studiert kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und war Gast im Kurs «Politischer Puls» der HKB.

Was haben die Worte Armut, Klasse, Bildung und Kunsthochschule gemein? Bis vor ein oder zwei Jahrzehnten nicht allzu viel, ausser, dass die beiden erstgenannten Worte, Armut und Klasse, so etwas wie eine Verneinung der letztgenannten Worte, Bildung und Kunsthochschule, bildeten.Armut und Bildung schlossen sich genauso aus wie Klasse und Kunsthochschule. Wobei, das Zweite stimmt nicht ganz, an einer Kunsthochschule ging schon immer vor allem eine soziale Klasse ein und aus: die Klasse des kulturaffinen Bürgertums. Nur die Klasse der Armen war und ist nur wenig vertreten an Orten der künstlerischen Bildung.

Foto: Martin Lamberty

In Armut geboren
So war es auch bei mir. Mein Leben ist in zwei Teile geschnitten, der eine Teil fängt mit meiner Geburt an und geht bis zum dreissigsten Lebensjahr. Dort beginnt der zweite Teil, der bis jetzt anhält. Ich bin in Armut geboren und aufgewachsen, in den ersten dreissig Jahren habe ich höchstens mal für ein paar Monate nicht unterhalb der Quote gelebt, die im Deutschen Armutsgefährdungsquote heisst und bedeutet, dass einem Teilhabe am gesellschaftlichen Leben versagt bleibt.
Im zweiten Teil meines Lebens habe ich ohne Abitur und nach zehn Jahren prekärer körperlicher Arbeit den Quereinstieg in den Journalismus geschafft. Nach einem journalistischen Volontariat habe ich angefangen, frei zu arbeiten, ich habe ein Buch geschrieben und studiere seit zwei Jahren kreatives Schreiben im Bachelor. Mit diesem Lebenslauf bin ich an meiner Universität die Ausnahme.
Und doch, etwas verändert sich. Während meiner Aufnahmeprüfung im Sommer 2021 gab es einen Moment, der vor zehn oder fünfzehn Jahren so nicht möglich gewesen wäre. Die Eignungsprüfung lief Corona-bedingt digital ab und eine Dozentin fragte mich durch den Bildschirm, wie ich denn zu Lyrik stünde.

Lyrik in Jogginghose
Ich antwortete, dass ich, obwohl ich mehr als zehn Jahre gerappt hatte, also eigentlich selbst Lyrik schrieb, mich beim Lesen von Lyrik so fühlte, als würde ich mit ungewaschener Jogginghose ins Museum gehen. Fehl am Platz, nicht zugehörig. Die Dozentinnen lachten und noch im Gespräch machte man mir klar, dass meine Chancen gut seien. Und so kam es, ich wurde angenommen. Vielleicht nicht wegen der Antwort auf die Frage nach der Lyrik, sondern trotz dessen, aber es hatte geklappt. Und ich dachte mir, dass diese Antwort mich noch ein paar Jahre vorher ins Aus gekickt hätte.Vor zehn Jahren erschien in der Zeit ein Text des Lektors und Hildesheim-Absolventen Florian Kessler, in dem es um Konformität an Schreibschulen ging. Seine These, die womöglich genauso gut zum Literaturinstitut in Biel gepasst hätte: «Immer jüngere Autoren verhalten sich immer braver immer älter.» Kessler schrieb: «Die Erfolgsgeschichte der deutschen Schreibschulen ist also die Dominanzgeschichte eines einzigen beharrenden Milieus.» Mit diesem «einzigen Milieu» ist das Bildungsbürgertum gemeint.Ich glaube, man kann die Situation der Schreibschulen zu der Zeit synonym setzen, mit den Universitäten der Künste und den Kunsthochschulen im Allgemeinen. Denn wer aus der unteren Klasse hat die Zeit, oder das Interesse, sich fünf oder sechs Jahre lang mit Gedichten, Collagen oder den Fallstricken visueller Kommunikation zu beschäftigen, während die eigenen Eltern auf die Unterstützung durch ihre Kinder angewiesen sind, da das Geld für das Nötigste nicht reicht? Geschweige denn, wer wird überhaupt angenommen, wenn die Ästhetiken des Bürgertums, die an Kunsthochschulen oft produziert (und reproduziert) werden, quer zu dem verlaufen, was Menschen in der unteren Klasse für ästhetisch wertvoll halten?

Plötzlich Mensch mit anderem Habitus
Und jetzt, zehn Jahre später? Obwohl ich den Eindruck habe, Kunsthochschulen werden noch immer vor allem von einem akademischen, bürgerlichen Milieu frequentiert, gibt es an meiner Uni, und auch an anderen Hochschulen, plötzlich Menschen mit ganz anderem Habitus, also anderen Gewohnheiten, zu sprechen, sich zu bewegen, sich zu verhalten. Man kann, wenn man über meinen Campus spaziert, den Eindruck bekommen, das System Kunstuniversität sei durchlässiger geworden.Die Frage, die sich anschliesst, lautet: Ist das wirklich so? Oder unterliege ich dem Irrtum, dass ich das sehe, wonach ich suche? Habe ich einen bestimmten Bias, mit dem ich schaue? Es ist schwer, an spezifische Zahlen zu Arbeiterkindern an Kunsthochschulen zu kommen. Die generellen Zahlen besagen, zumindest für Deutschland, dass auf hundert Arbeiter*innenkinder einundzwanzig ein Studium beginnen (gegenüber vierundsiebzig Akademiker*innenkindern). Den Master schliessen dann nur noch acht Arbeiter*innenkinder ab und die Promotion schafft genau eine einzelne Person.

Versprechen und SelbstausschlussIch denke, es gibt zwei Bewegungen, die gleichzeitig geschehen und sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Einerseits steigt der Druck auf Hochschulen, das Versprechen einzuhalten, Zugänge für alle Teile der Bevölkerung zu ermöglichen. Von diesem Phänomen habe ich in meiner Eignungsprüfung profitiert. Es gibt sie, die Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse an Hochschulen. Gleichzeitig produziert unsere Gesellschaft permanent Ausschlüsse, die viele junge Menschen gar nicht erst in die Lage versetzen, künstlerische Berufe attraktiv zu finden. Im deutschen Bildungssystem wird das relevanteste dieser Ausschlussphänomene als Selbstausschluss bezeichnet.Als Selbstausschluss wird das inkorporierte Wissen bezeichnet, dass bestimmte Räume nicht für einen gemacht sind. Das Wissen, das einem sagt, wo der angestammte Platz ist. Dass der eigene Körper eher in eine Kfz-Werkstatt gehört als in ein Atelier. Dass die mittlere Reife reicht und man nicht erst das Abitur machen muss. Dass man es besser haben will als die Eltern, aber sich kulturell auch nicht zu weit von ihnen wegbewegen möchte.Und hier kommen wieder die Hochschulen ins Spiel. Klar, ein grosser Teil der Ausschlüsse wird bereits vorher produziert, sodass es oftmals gar nicht erst zu der Situation kommt, dass Arbeiter*innenkinder in den Aufnahmeprüfungen aufgrund ästhetischer Entscheidungen angenommen oder abgelehnt werden. Aber die Kunst- und Kulturszene, und damit auch die Orte, an denen diese Künste hervorgebracht werden, arbeiten mit ihrer Bemühung um ästhetische Abgrenzung zur Massenkultur permanent daran, Ausschlüsse zu produzieren.Die Art und Weise, wie diese Ausschlüsse sich vollziehen, geschieht verdeckt, manchmal sogar unter dem Mantel des progressiven, aber das soll nicht über die fortwährenden Statuskämpfe hinwegtäuschen, bei denen meist diejenigen den Kürzeren ziehen, die über weniger materielle und kulturelle Ressourcen verfügen. Und das sind in der Klassengesellschaft, in der wir leben, all jene, die durch kulturelle, geschlechtliche und soziale Marker ausgegrenzt, am unteren Ende der Hackordnung stehen. Diese Räume werden sie uns, die wir um die Zugänge zu ihnen kämpfen mussten, nicht ohne Weiteres hergeben. Wir werden sie uns nehmen müssen.