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N°1/2021
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Offen für Zwischenformen

Die Kulturförderung folgt den Trends der kulturellen Produktion, verstärkt oder bremst diese. Was heisst das konkret im Falle der Musik? Andri Hardmeier und Tobias Rothfahl von der schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia geben Auskunft.

Pro Helvetia erhält Hunderte von Musikgesuchen pro Jahr. Haben diese sich in den letzten Jahren inhaltlich oder stilistisch verändert?
Die Veränderungen sind massiv und widerspiegeln eine Reihe von ästhetischen Veränderungen. Wir beobachten eine zunehmende Breite und Relevanz der freien Szene sowie eine wachsende internationale Vernetzung und erstarkende Präsenz des Schweizer Musikschaffens im internationalen Kontext. Besonders in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht sind die Veränderungen enorm. Die musikalischen Genres haben sich stärker angenähert und durchmischt, gleichzeitig sind die Grenzen zu anderen Disziplinen immer durchlässiger geworden, und performative oder mediale Erweiterungen sind heute fast schon eine Normalität. Auch die Produktionsprozesse haben sich stark gewandelt, auffallend ist dabei vor allem der Trend zu kollaborativen Prozessen: Die klassische Trennung von Autor*in und Interpret*in – Komponist*in schreibt eine Partitur, Musiker*in führt sie aus – transformiert sich ins Gleichzeitige.

Gibt es neue Trends hinsichtlich der Bedürfnisse von Musikschaffenden, coronabedingte hier mal ausgenommen?
Ein ungestilltes Bedürfnis vieler Musikschaffender im Bereich der zeitgenössischen Musik sind verbesserte Aufführungsmöglichkeiten. Während es etwa im Jazz zumindest einige wenige kuratierte und subventionierte Clubs gibt, die bezahlte Auftrittsmöglichkeiten bieten, sind die veranstaltenden Institutionen im Bereich der Klassik traditionell die Orchester. Kuratierte Häuser für experimentellere Musik gibt es hingegen kaum, und wenn doch, dann verfügen sie meist über kein Programmbudget. Die freie Szene ist daher eine Welt der Eigenveranstaltungen: Infrastruktur, Material und Werbung müssen stets aus den knappen Projektmitteln gedeckt werden. In der zeitgenössischen Musik liegt man diesbezüglich weit hinter den Entwicklungen in Tanz und Theater zurück, wo in den letzten Jahren zahlreiche Produktionshäuser für freie Projekte entstanden sind.  

Will die Musikförderung von Pro Helvetia in dieser Situation selber bewusst Trends steuern oder initiieren oder eher den Bedürfnissen folgen?
Es geht unseres Erachtens in der Musikförderung nicht darum, Trends zu steuern, aber mit wachen Augen und Ohren solche aufzuspüren und zu fördern. Dies kann und soll natürlich dazu führen, dass gezielte Initiativen lanciert und Fördergefässe angepasst oder dass internationale Kooperationen aufgebaut werden, aber letztlich muss es immer um die Bedürfnisse der einzelnen Szenen gehen. Gerade was die Durchmischung der Stile und Produktionsformen betrifft, kommt uns zugute, dass die Fördergefässe von Pro Helvetia für jegliche Zwischenformen offen sind. In der Zusammenarbeit mit internationalen Festivals und Plattformen setzen wir auf die Kraft von langfristigen Kooperationen, die das Interesse am aktuellen Schweizer Musikschaffen fördern. 

Elektronische und mediale Erweiterungen konzertanter Musik sind seit 10–20 Jahren vermehrt zur Konstante geworden. Kann man hier noch von einem Trend sprechen oder wird sich das vielleicht auch wieder einmal zurückbilden?
Zurückbilden wird sich dieser Trend wohl kaum, aber wohin die weitere Entwicklung führt, bleibt unvorhersehbar. Sicher hingegen ist, dass junge Musiker*innen heute in ihrer musikalischen Sozialisierung stark vom Trend ins Mediale und ins Transdisziplinäre geprägt werden. Hatten früher viele einen definierten Hintergrund in Klassik, Jazz oder Pop, ist heute ein vielseitiges Kaleidoskop von Prägungen die Regel. Aber selbst wenn die Vergangenheit nicht mehr zurückkommt, wird auch die Zukunft ihre Retro-Trends bringen. Einer, der sich bereits deutlich abzeichnet: Vinyl kommt zurück, die Zahlen in diesem Bereich explodieren.  

Gibt es Trends in «eurem» Bereich, die man getrost übergehen kann?
Natürlich gibt es Eintagsfliegen und Trends, die dann wieder spurlos verschwinden. Aktiv ignorieren muss man sie aber nicht. Es ist manchmal ja auch interessant, zu beobachten, wie und warum sich Trends nachträglich als Modeerscheinung entlarven. Der Anfang unseres Jahrhunderts sah im Bereich der Klassik zum Beispiel einen Trend zum Crossover. Nur selten entstand daraus etwas wirklich Neues, und praktisch gar nie etwas Bleibendes und künstlerisch Einflussreiches. Es scheint, als wären manche Crossover-Projekte in PR-Abteilungen geboren worden mit dem Ziel, Visibilität und Aufmerksamkeit zu maximieren, was aber oftmals in gegenseitiger Anbiederung mündete. Trotzdem war jener Trend vielleicht ein Schritt hin zur heutigen Situation, die von wirklicher Offenheit und echter Durchmischung von Genres und Disziplinen geprägt ist – wenn auch nicht unbedingt in der philharmonischen Umgebung. 

Gibt es Trends, die ihr gerne sehen würdet, die aber noch nicht wirklich aufgetaucht sind?
Fernab experimenteller Nischen wäre der klassischen Musik ein Trend zu einem stärkeren Commitment gegenüber dem aktuellen Musikschaffen zu wünschen. Derzeit weist da der Trend eher in Richtung einer Spezialisierung auf das ausschliesslich historische Repertoire. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem heutigen Werkschaffen würde der klassischen Musik aber auch wieder zu mehr Relevanz für Fragen des Hier und Jetzt verhelfen, was für ein langfristiges Überleben des Bereichs wohl unabdingbar ist. Ein ganz anderer Trend wäre den freien Kollektiven und Ensembles zu wünschen: Zwar funktionieren sie mit ihren kollaborativen Kreationsprozessen mittlerweile ähnlich wie Theatercompagnien, die in mehreren Probenwochen ihre Produktionen erarbeiten. Im Gegensatz zu diesen funktionieren die Gagenmodelle und Finanzierungsstrukturen in der Musik jedoch zumeist noch so, wie es im bekannten Konzertmodell Usus war: Gagen für (wenige) Proben à 2 bis 3 Stunden sowie für den Auftritt. Zeitintensive kollaborative Produktionsprozesse sind so aber kaum finanzierbar und führen in der Regel zur Selbstausbeutung. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Um dies zu ändern, müssen sich sowohl die Musiker*innen wie auch die Kulturförderung bewegen, womit wir wieder beim starken Bedürfnis nach kuratierten und finanziell ausreichend ausgestatteten Produktionshäusern im Bereich der aktuellen Musik wären.