«No fuse need be followed by a detonation»
Anarchie heisst «Ordnung ohne Herrschaft». Was heisst das für die Musik? Eine kleine Polemik von Marc Kilchenmann, Dozent HKB Musik.
Der altgriechische Begriff anarchía bedeutet «Herrschaftslosigkeit», Anarchie beschreibt also einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft. Anarchist*innen wollen die Gesellschaft sich selbst regeln lassen, etwa über Räte, freie Übereinkunft oder rein funktionale Entscheidungen, mit den Worten von Pierre-Joseph Proudhon: «Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft.» Was also bedeutet das für die Musik?Ich war im Juli 2023 am anarchistischen Kongress in Saint-Imier auf Spurensuche: An fünf Tagen trafen sich etwa 4500 Anarchist*innen aus aller Welt zum Debattieren, Planen, Streiten und vor allem zum Feiern. Laut, ausgelassen, fröhlich waren die Konzerte. Die Freiheit wurde besungen, Ungerechtigkeit angeprangert, das Leben gefeiert – nur leider geschah dies fast ausschliesslich im 4/4-Takt und fast immer in Dur oder Moll. Die Ordnungssysteme der Musik wurden kaum hinterfragt, geschweige denn bekämpft. Egal, ob Elektrorock, Coldwave, Queercore Electro Punk, Post-Hardcore, Anarchistic Yodeling oder Electro-Tropi-Trash; die Melodie steht immer im Vordergrund, jeder dritte Akkord ist eine Dominante und statt Pogo zu tanzen, könnte zu dieser Musik auch marschiert werden. Ausser Dur und Moll scheint es gar keine Tonhöhensysteme zu geben und zu allem Übel wird für all diese Musik immer die gleiche Stimmung verwendet (ein industrieller Standard notabene). Warum zum Teufel stört dies freiheitsliebende Menschen nicht? Musik ist doch nicht automatisch anarchistisch, nur weil sie von Anarchist*innen gespielt wird.Wie aber könnte eine Musik aussehen, deren innere Struktur auf Hierarchien verzichtet?In der frei improvisierten Musik entfallen hierarchische Settings. Die Beziehung zu Klängen, zu Formen und zur Art und Weise, wie die Musiker*innen sich zueinander verhalten, können permanent hinterfragt werden. Es gibt keine vorgängigen Abmachungen, alle Musiker*innen sind gleichberechtigt und alle Klänge haben das gleiche Recht gehört zu werden, z. B. auch Tonhöhen, die das Klavier nicht produzieren kann. Soweit die Theorie. Der amerikanische Komponist John Cage soll improvisierte Musik nicht gemocht haben, weil Improvisator*innen sich selten von ihren Vorlieben lösen könnten und der Aufbau der Stücke sich deshalb doch wieder gleichen würde. Eine wirkliche Kritik an der frei improvisierten Musik ist das nicht, aber eine Aufforderung an Improvisator*innen, ihre Vorlieben zu hinterfragen und neue Strategien auszuprobieren.Die Beschäftigung mit John Cage kann dabei helfen. Er nahm den Zufall zu Hilfe, um eine Musik hörbar zu machen, die er noch nicht gehört hatte. Stücke können frei besetzt werden, Stimmen weggelassen, Tonsysteme verändert werden. Bei Cage gibt es auch Dirigent*innen, nur die Rolle ist eine völlig andere. Herbert von Karajan hatte noch absolutistische Macht, in Atlas Eclipticalis ist der*die Dirigent*in kein*e Diktator*in, sondern wird zur Orientierungshilfe. Statt herrischen Handbewegungen wird mit den Armen der Sekundenzeiger einer Uhr imitiert, um den Zeitverlauf zu visualisieren. Dass sich beim Ablesen dieser Uhr individuelle Unterschiede ergeben, ist gewollt.Selbst habe ich unter dem Titel «Ni compositeur – ni directrice» in Saint-Imier Workshops zur Konzeptmusik angeboten. Bei dieser handelt es sich um eine andere soziale Praxis des Musikmachens. Die Stücke werden nicht als fertige Werke verstanden, sondern als Vorschläge, Handlungsanweisungen, Interaktionsbeschreibungen. Notiert wird meist rein sprachlich, um möglichst allen Menschen einen Zugang zu eröffnen. Musikalische Notationen können in ihrer Komplexität zu Herrschaftsinstrumenten werden, die Sprache aber steht den allermeisten zur Verfügung. Wie wir alle wissen, legen Anarchist*innen Bomben. Am allerliebsten spielten die Workshopteilnehmer*innen folgerichtig dieses Konzept: «No more than five players to a group, each player being designated either as a fuse or a detonation (there should be at least one of each). Fuses may be short, long, any length, barely perceptible, painfully obvious, etc.; they can start at any point or be initiated by circumstances specified in advance. Detonations may be simple, elaborate, dud, etc.; they must come at the end of what you take to be a fuse. No fuse need be followed by a detonation.»Frei improvisierte Musik, John Cage und selbstbestimmte Konzeptmusik werden auch an den nächsten anarchistischen Tagen nicht allgegenwärtig sein. Selbstverständlich haben Elektrorock, Coldwave, Queercore Electro Punk, Post-Hardcore, Anarchistic Yodeling und Electro-Tropi-Trash ihre Daseinsberechtigung. Aber wie wäre es, wenn in Saint-Imier das nächste Mal im 7/16-Takt Pogo getanzt oder in einer indonesischen Pélog-Skala gejodelt wird?