Niklaus Scherr gegen die Renditemaschine
Was tun, wenn aus dem Stadtteil, in dem man lebt, ein renditestarkes Anlageobjekt wird und aus Nachbar*innen plötzlich Tourist*innen werden? Der Zürcher Politiker Niklaus Scherr (70) kämpft gegen eine Wohnpolitik in Zürich, die sich an wirtschaftlichen Interessen Wohlhabender orientiert. Ein Porträt über zivilgesellschaftliches Engagement – und darüber, wie Geschichte manchmal unter Whirlpool-Wannen verborgen liegt.
Patrick Baraké, 1985, in Zürich lebend, ist Musiker und Student im Bachelorstudium Multimedia Production. In seinen Berichten verbindet er audiovisuelle Erzählformen mit gesellschaftspolitischen Themen
Als Niklaus Scherr meine Wohnung betritt, bleibt er kaum zwei Schritte hinter der Tür stehen. Noch bevor er mich begrüsst und seine Jacke auszieht, inspiziert er wissbegierig alles, was er aus seinem Blickwinkel erfassen kann, und fragt mich: «Wer ist dein Vermieter?» Ich erkläre ihm, dass es sich um eine Privatperson handelt, die zwei, drei Liegenschaften in der Stadt besitzt. Scherr lässt den Blick schweifen, mustert schweigend die Wohnung weiter – dann ein Schmunzeln. «Weisst du, was früher hier war?», fragt er mit einem Blick, der mehr weiss, als er fragt. Ich erinnere mich an eine vage Geschichte des Hauswarts: ein altes Schloss am Stadtrand. «Ja, ein sogenanntes Schloss …», sagt Scherr und schaut mich mit diesem verschmitzten, fast verschwörerischen Blick an. «Früher war das hier ein thailändisches Puff. In jeder Wohnung ein Whirlpool.» Ich blicke auf die Kante zwischen dem Treppenhaus und meiner Wohnung, die meine Gäste regelmässig ins Stolpern bringt – nun ergibt sie plötzlich Sinn. Also doch nicht eine fehlkonstruierte Bodenheizung. So beginnt mein Gespräch mit einem Mann, der Zürichs Wohnungsmarkt wie kaum ein anderer kennt – und der nicht nur Geschichten sammelt, sondern auch etwas verändern will. Für Scherr, 70, ist Wohnen keine Ware, sondern ein soziales Gut – und er hat sich entschlossen, dafür zu kämpfen. Was viele vielleicht mit Machtlosigkeit hinnehmen, lässt ihn nicht los. Als ehemaliger Politiker der Alternativen Liste bringt er das nötige Rüstzeug mit: Gesetzestexte, Verwaltungsprozesse, strategisches Denken. Aber sein Antrieb ist persönlicher: «Ich habe gesehen, wie Menschen aus ihren Wohnungen gedrängt wurden – nicht wegen Eigenbedarf, sondern wegen Rendite.»
Einzelfall offenbart ein Muster
Von 1996 bis 2009 war Scherr Geschäftsführer des Mieterinnen- und Mieterverbands Zürich. In dieser Zeit schlichtete er unzählige Konflikte – einer davon blieb besonders haften. Was zunächst wie ein Einzelfall wirkte, entpuppte sich rasch als systematisches Muster: Immer mehr Mieter*innen verloren in Zürich ihre Wohnungen aufgrund umfassender Sanierungen. Doch die renovierten Objekte kehrten nicht auf den regulären Mietmarkt zurück. Stattdessen entstanden daraus Kurzzeitunterkünfte – sogenannte Serviced Apartments, Wohnungen wie bei Airbnb, nur dass dort niemand wirklich dauerhaft wohnt. Was Scherr bei seiner Recherche feststellte: Durch scheinbar harmlose Zusatzleistungen wie Reinigung, Möblierung oder WLAN – also «Service» nach Hotelvorbild – steigen die Mieten massiv. Serviced Apartments werden bis zu 40 Prozent teurer vermietet als reguläre Wohnungen im Quartier. Ein Rechenbeispiel macht das Ausmass deutlich: Eine 2½-Zimmer-Wohnung, die früher CHF 1500.– im Monat kostete, wird als Serviced Apartment für CHF 2100.– angeboten – und das nicht etwa als Dauermiete, sondern tageweise. Ab zwei Nächten ist man dabei. Hinzu kommen Buchungsgebühren, Servicekosten, teilweise sogar Reinigungszuschläge. Was aussieht wie Wohnen, funktioniert wie ein Hotel – aber ohne Bewilligungspflicht und ohne klare Regulierung wie beim Hotelgewerbe.
Mietpreisspirale: Anstieg um 80 Prozent
So kommt der Mechanismus ins Spiel: In der Schweiz dürfen Vermieter*innen ihre Preise an den ortsüblichen Quartiermieten ausrichten. Wenn also Serviced Apartments systematisch zu höheren Preisen angeboten werden, steigen damit die Referenzpreise für das ganze Quartier. Das treibt die Mieten aller Wohnungen in die Höhe. Die Anbieter von Service Apartments wiederum passen ihre Preise an – und die Spirale beginnt von vorn. Ein System, das sich selbst füttert – legal, lukrativ und zu Kosten von Dauermieter*innen. Denn es gibt keine Schranke, die diesen Zyklus durchbricht. Kein Gesetz, das diesen Markt korrigiert. Was bleibt, ist ein Wohnraum, den sich zunehmend nur noch jene leisten können, die nicht bleiben, sondern durchreisen. Wie rasant dieses Geschäft wächst, zeigt ein Bericht der Stadt Zürich: Im Jahr 2023 wurden 4710 solcher Apartments gezählt – zwei Jahre später waren es bereits 4990. Seit Beginn der Erhebung im Jahr 2017 entspricht das einem Anstieg von rund 80 Prozent. Auf nationaler Ebene jedoch fehlt ein Überblick: Es gibt keine systematischen Erhebungen zum Bestand und zur Entwicklung solcher Apartments in der Schweiz. Wie hoch der Anteil tatsächlich ist und wie sich der Markt schweizweit verändert, bleibt weitgehend unklar. 2009 reichte Scherr im Zürcher Gemeinderat eine Motion ein. Seine Forderung: klare Regeln für die temporäre Vermietung, Transparenz bei Eigentumsverhältnissen und ein Schutzmechanismus für den regulären Wohnungsmarkt. Die Reaktion der Stadt? «Zögerlich», wie er sagt. Die damalige Begründung: Serviced Apartments würden weniger als ein Prozent des Wohnungsmarkts ausmachen – eine Regulierung sei daher nicht verhältnismässig. Es sei ein Segment, das die Stadt Zürich haben möchte. Doch das hielt Scherr nicht auf. Im Gegenteil: «Man muss die Geduld haben, dranzubleiben.» Zwölf Jahre lang kämpfte Scherr mit den ihm zur Verfügung stehenden politischen Mitteln dafür, seine Motion durchzubringen – mit dem Ziel, den Wohnungsmarkt in Zürich zu schützen. Erst als sich der Markt für Serviced Apartments zunehmend unkontrolliert ausbreitete, wurde sie schliesslich angenommen. Die Folge: eine Revision der Bau- und Zonenordnung, die festlegt, was wo gebaut werden darf und was als Gewerbe oder Wohnen gilt. Seither gelten Serviced Apartments in bestimmten Zonen nicht mehr als zulässig – sie sind also faktisch illegal.
Klage vor dem Zürcher Verwaltungsgericht
Die Anbieter*innen liessen das nicht auf sich sitzen. Sie reichten Klage beim Zürcher Verwaltungsgericht ein und argumentierten, es sei nicht Aufgabe der Politik, den Markt zu regulieren. Das Gericht wies die Klage ab. Die Anbieter*innen akzeptierten den Entscheid jedoch nicht und zogen den Fall weiter ans Bundesgericht. Dort ist das Verfahren derzeit noch hängig. Sollte das Bundesgericht die Klage ebenfalls ablehnen, könnte das zum Präzedenzfall für die ganze Schweiz werden. Scherr ist realistisch: «Auch wenn wir gewinnen, werden die Mieten wohl nicht sinken. Aber wir setzen ein Zeichen: So nicht!» Scherrs Engagement stösst nicht überall auf Begeisterung. Er gilt manchen als Störenfried, der einem innovativen Geschäftsmodell Steine in den Weg legt. Doch für ihn steht die soziale Funktion von Wohnen über allem. Unterstützt wird er dabei von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Urban Equipe und von Fachleuten wie Stadtplanerin Sabeth Tödtli, die sagt: «Niklaus gibt jenen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden. Er bringt den nötigen Druck in die politische Debatte.» Was Scherr auszeichnet, ist sein lösungsorientierter Ansatz. Er fordert keine Verbote, sondern Regeln: Transparenzpflichten, klare Definition von Wohnnutzung, befristete Bewilligungen. Er denkt in konkreten Schritten und sucht den Dialog – auch mit jenen, die ganz anders denken. «Wir brauchen keinen Klassenkampf, sondern Spielregeln, die das Zusammenleben sichern», sagt er. Für ihn bedeutet Stadt nicht Beton und Profit, sondern Nachbarschaft und Teilhabe. Mit seinen vielleicht 1,60 Metern, dem Béret auf dem Kopf und der schmalen Jacke wirkt Scherr beim Hinausgehen fast unscheinbar. Zierlich, ein wenig gebeugt, das Erscheinungsbild eines alten Mannes. Als er über die Schwelle meiner Wohnung stolpert, halte ich kurz den Atem an – doch er fängt sich, lächelt knapp und geht weiter. Was in diesem Moment so zerbrechlich wirkt, ist in Wahrheit ein beeindruckend standhafter Mensch. Einer, der seit Jahrzehnten nicht müde wird, sich gegen mächtige Interessen zu stellen. Der mit klaren Worten, akribischer Recherche und unbeirrbarer Beharrlichkeit Druck aufbaut. Ob er sich als Vorbild sieht? «Nein», sagt Scherr. «Ich bin einfach jemand, der nicht wegsieht.» Doch genau das macht ihn so relevant – gerade in einer Zeit, in der viele den Glauben an politische Wirksamkeit verloren haben.
Serviced Apartments in Bern
Wer nun denkt, das sei wieder einmal typisch Zürich, täuscht sich. Dieses Phänomen breitet sich längst aus – auch in Bern. Am Standort der Berner Fachhochschule Holzikofenweg werden seit Kurzem ebenfalls Serviced Apartments angeboten. Schau dich um: Sobald auf den Klingelschildern nur noch Nummern oder Buchstaben stehen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um solche Wohnungen handelt. Manche Anbieter*innen versuchen inzwischen, die Nutzung zu verschleiern – etwa durch fiktive Namen auf den Türschildern. Der Grund: Man möchte vermeiden, dass Nachbar*innen erkennen, dass hier kein eigentliches Wohnen mehr stattfindet, sondern Kurzzeitvermietung mit Hotelcharakter. Ein weiteres Indiz sind die anonym wirkenden Balkone – unbewohnt, unpersönlich, austauschbar.