Nicht ganz «Anything goes!»
Der Philosoph Paul Feyerabend wäre heuer 100 geworden. In Wider den Methodenzwang hat er den Naturwissenschaften ihre Nichtordentlichkeit aufgezeigt, ihren Methoden-Opportunismus, woraus er einen zwingenden Pluralismus abgeleitet hat. Die Künste sah er als Vorbild, aber: Gilt der da postulierte Pluralismus wirklich?
Man nennt Paul Feyerabend auch einen Wissenschaftsanarchisten, er fand die Zuschreibung durchaus schmeichelhaft, auch wenn sie seinen philosophischen Thesen nicht ganz entsprach. Auch einen Dadaisten hat man ihn schon genannt. Das trifft den Kern seines Denkens wohl schon eher, auch wenn der Begriff ebenfalls einiges durcheinanderbringt an Kunst und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Aber er hätte Feyerabend trotzdem gefallen. Er tat sich zeitlebens schwer mit dem Bierernst akademischer Forschung und hegte grosse Sympathien für die Kunst, die freiere Zugänge zu Erkenntnis – oder überhaupt zur Welt – ermöglicht. Am liebsten wäre er selbst Opernsänger geworden. Eines seiner Bücher trägt folgerichtig den Titel Wissenschaft als Kunst.Die Kunst als vogelfreies Vorbild für die Wissenschaften – verklärte Feyerabend da vielleicht etwas? Wie pluralistisch ist die Wissenschaft selbst, wenn man genau hinschaut, und vor allem: Was genau meint die künstlerische «Freiheit»? Womöglich nicht als Erstes die methodische. Denn was lernt man an einer Kunstschule, wenn nicht Konventionen? Es geht da nicht zuletzt um einen Habitus, darum, die richtigen Referenzsysteme zu kennen und die eigene Arbeit mit ihnen zu legitimieren. Lernt man vor allem auszuschliessen, das heisst zu identifizieren, was nicht als Kunst gelten darf? Distinktion war immer ein zentrales Element von sprichwörtlich «exklusiven» Praktiken wie Kunst oder Wissenschaft.
Erhellender Kontrast von Theorie und Praxis
Es soll hier nicht in erster Linie um Philosophien, sondern um Soziologien gehen, nicht um Kunst- oder Wissenschaftstheorie, sondern um wissenschaftliche und künstlerische Praxis – beziehungsweise eben um den erhellenden Kontrast von Theorie und Praxis. Feyerabend war insofern auch ein Pionier der Wissenschaftssoziologie, die es als Disziplin in seinen aktiven Jahren noch gar nicht gab. Was ihn zum philosophischen Rebellen machte, war das Aufzeigen der offensichtlichen Inkongruenz von Wissenschaftstheorie auf der einen und Wissenschaftspraxis auf der anderen Seite – Wissenschaft also wie man sie sich gern vorstellte im philosophischen Ideal und Wissenschaft so, wie sie praktiziert wurde, im Labor.Als er sich eingehender mit Wissenschaftsphilosophie zu beschäftigen begann, merkte der gelernte Physiker rasch, dass die schönen Theorien, wie sie noch weit bis ins 20. Jahrhundert erzählt wurden im akademischen Zirkel, nur sehr ungenau ihre Entsprechung fanden im tatsächlichen Tun der Forschenden. Das Primat der «einen» wissenschaftlichen Methode, die quer über alle Disziplinen zur Anwendung kommt? Eine Schimäre. Wissenschaft als neutrales Unterfangen, um objektives Wissen herzustellen? Ein Wunschtraum, von dem sich die Wissenschaft spätestens mit der Quantenphysik verabschiedet hatte und der fortan nur noch in den Aufsätzen der Wissenschaftsphilosophen weiterlebte.
«Anything goes!»
Insbesondere die Idee eines philosophisch postulierten «Methodenzwangs» war Feyerabend ein Dorn im Auge. Für ihn waren wissenschaftlich Forschende geborene Opportunist*innen, die sich nur so lange an eine wissenschaftliche Methodik gebunden fühlen, wie sie ihrem Forschungsinteresse dient. Zunächst einmal waren da viele verschiedene Ausprägungen von «Wissenschaft», zudem war sich Feyerabend auch sicher, dass Forschende ohne Weiteres die Grenzen des methodisch Zulässigen hinter sich lassen, wenn ihre Experimente oder ihre Theorien sie auf Neuland führen. Die Idee lief rasch unter dem Schlagwort «Anything goes!», eine Provokation und natürlich eine unzutreffende Verkürzung, denn «anything» darf man sich im Labor dann doch nicht erlauben. Aber erstaunlich viel.Und in der Kunst? Auch da gibt es viele Theorien, die ein zugrunde liegendes «Wesen» allen Kunstschaffens fassen wollen. Kongruent ist das längst nicht mehr, niemand geht heute noch ernsthaft davon aus, dass es eine einzige stringente theoretische, eine definitorische Beschreibung von Kunst geben kann. Also geht man ganz selbstverständlich von einem gelebten und fruchtbaren Pluralismus aus. Tatsächlich sei die Kunstphilosophie lange durch die Annahme behindert worden, dass «wir […] alle auf der Suche nach dem einen wahren Kunstbegriff seien», schreibt zum Beispiel Christy Mag Uidhir, Professor für Philosophie an der University of Houston. Und weiter: «Dieser Begriffsmonismus ist das wahre Hindernis für eine fruchtbare philosophische Untersuchung der Kunst und muss daher zugunsten eines Pluralismus der Kunstbegriffe aufgegeben werden.» Kritiker*innen hielten dagegen, in dem Fall müsste man konsequenterweise aufhören, überhaupt noch mit dem Begriff «Kunst» zu hantieren (weil es die Kunst ja offenbar nicht gibt), nun wogt die Diskussion hin und her.
Kunst als soziale Praxis
Doch wie sieht es denn praktisch aus? Auch Kunst ist, vielleicht noch mehr als die Wissenschaft, eine soziale Praxis, ohne Künstler*innen keine Kunst. Und die Akteur*innen verlieren sich keineswegs in einem totalen Pluralismus, in einem feyerabendschen «Anything goes!». Im Gegenteil, um erfolgreiche*r Künstler*in zu sein, muss man die Regeln des Spiels kennen und verinnerlichen. Die Kunstwelt wird bestimmt von Konventionen, von «Schulen», die ähnliche Ideen von einem gelungenen Werk vertreten, nicht zuletzt auch von einer Vielzahl von Gatekeepern, die darüber wachen, dass die «Ordnung» gewahrt bleibt.Feyerabend hielt den Wissenschaften nicht nur philosophisch den Spiegel vor, er wurde mit den Jahren auch immer mehr zu einem beissenden Kritiker des Wissensmonopols der wissenschaftlichen Forschung – was sich nach wie vor ungemein aktuell liest. Wenn es zu seiner Zeit schon so etwas wie künstlerische Forschung gegeben hätte, man kann sicher sein, dass Feyerabend zu den grössten Fans gehört hätte. Er war überzeugt davon, dass «Pluralismus von Theorien und metaphysischen Ansichten nicht nur wichtig für die Methodologie [ist], sondern auch ein essenzieller Bestandteil einer humanistischen Perspektive» – beziehungsweise, könnte man auch sagen, einer nicht ausschliessenden, gesunden Gesellschaft.
Many ways of knowing
Dass sich neben der naturwissenschaftlichen Methode – oder soll man richtiger sagen: ihren Methoden? – in den letzten Jahrzehnten auch andere Formen des Forschens etabliert haben, kann man nur begrüssen. Wir brauchen viele Forschungen, viele Wissenssysteme. Oder wie Feyerabend schrieb: «There is no one way of knowing. There are many.» Dass die künstlerische Forschung allerdings immer mehr akademisiert wird in den letzten Jahren, dass sie eine Angelegenheit von Hochschulen und damit methodologisch mehr und mehr gestreamlined wird: Man kann ebenfalls sicher sein, dass Feyerabend zu den lautesten Kritikern dieser Entwicklung gehört hätte.