Magische Verwandlungen
Animistische Kosmologie als Praxis: Die Künstlerin Kyra Balderer schreibt in einem Essay über Kunst und ein anderes Verständnis für Gemeinschaft und Handlungsmacht.
1984 in Zürich geboren, lebt und arbeitet in Berlin. 2008 absolvierte sie den Bachelor in Fine Arts an der HKB.
Als Animismus wird eine Weltsicht und Religion bezeichnet, die von «primitiven Naturvölkern» praktiziert wird. Er beschreibt zunächst allgemein den Glauben, dass lebende Wesen sowie unbelebte Objekte eine Seele besitzen. Der Animismus kennt keine Unterscheidung zwischen der physikalischen, der materiellen und der spirituellen Welt. Der Himmel, die Geister, die Erde, die sichtbare Welt, die Lebenden und die Verstorbenen: Alle agieren, reagieren und beeinflussen sich gegenseitig. Die Natur und die gesamte sichtbare Welt sind eingehüllt in eine unsichtbare Geisterwelt, von der sie beeinflusst werden. Es gibt keine leblosen Dinge, die animistische Welt ist eine dynamische Welt, in der die Natur und mit ihr das ganze Universum erfüllt sind von pulsierendem Leben.
Doch gleich zu Beginn muss gesagt werden, dass der Begriff Animismus an sich ein sehr problematischer ist. Er entspricht in höchstem Masse einer modernen Denkweise, in der er eine Kategorie bildet, in die das Andere, das Unbekannte eingeordnet werden kann. Der Begriff zeugt von einem anmassenden Überlegenheitsgedanken der westlichen Modernen, die anders denkenden, «nicht modernen» Kulturen das Recht auf eine eigene Wirklichkeit abspricht. Er ist ein Relikt und Symptom eines kolonialen Denkens, das andere Kulturen als minderwertig und unterentwickelt kategorisiert.
Mit dem Begriff des Animismus grenzt sich die Moderne gegen dieses Andere, das Unbekannte ab, und ordnet es gleichzeitig ein, indem es ihm einen Platz in der Opposition zuweist, jenseits der eigenen Vorstellung von Welt. Von Animismus zu sprechen, bedeutet also auch immer, sich an die Grenzen des modernen Denkens zu begeben und dessen Grundvoraussetzungen kritisch zu befragen.
Was das moderne Denken grundlegend konstituiert, ist das Denken in Dualismen. Es ist auf binären Oppositionen wie Subjekt und Objekt, Natur und Kultur aufgebaut. Das menschliche Subjekt wird einer Natur gegenübergestellt, die mit dem Menschlichen nichts gemein hat. Gerade in dieser Gegenüberstellung wird die patriarchale Idee des autonomen Subjekts und das menschliche Streben nach Macht und Herrschaft über andere sichtbar. Indem die Natur objektiviert wurde, wurde ihr ihre Handlungsmacht abgesprochen und somit ihre Ausbeutung legitimiert.
Doch der Begriff von Natur hat sich gewandelt und ist längst nicht mehr als autonomes Konstrukt denkbar. Begreifen wir nicht immer weniger, was «natürlich» ist und was man überhaupt noch als «Natur» bezeichnen kann? Was heisst Leben und Natur heute und worin unterscheiden sich Pflanzen und Tiere, menschliche und nicht menschliche Wesen?
Die Natur ist so sehr Teil von kulturellen Mechanismen und Gefügen geworden, dass kategoriale Trennungen und Hierarchisierungen absolut unmöglich und obsolet geworden sind.
Der Begriff des Animismus spricht gerade davon. Einzelne Teile der Welt zu zerlegen und zu analysieren, ergibt im animistischen Weltbild keinen Sinn. Die Klassifikationen und Schemata, in die die westliche Denkweise die Welt einzuordnen versucht, sind nicht existent. Der Animismus schreibt der uns umgebenden Natur absolute Handlungsmacht zu, dies hat zur Folge, dass Grenzen verschwimmen oder vielmehr ausser Kraft gesetzt werden. Wenn wir versuchen, verfestigte Gedankenstrukturen aufzulösen und den Animismus als Vorbild für andere Sichtweisen ernst zu nehmen, geht es nicht darum, den animistischen Glauben zu reaktivieren.
Wir können die animistische Kosmologie als Praxis begreifen, die ein anderes Verständnis für Gemeinschaft und Handlungsmacht voraussetzt – eine Praxis, in der Gemeinschaft als etwas Ganzheitliches gedacht wird und nicht nur zwischenmenschliche Interaktion, sondern ebenso das globale Zusammenwirken nicht menschlicher Akteure miteinschliesst.
Es könnte also ein guter Ausgangspunkt sein, in unserem Denken über die Dichotomie von Leben und Materie hinauszugehen und die Wirkungsmächtigkeit nicht menschlicher Dinge anzuerkennen. Jane Bennett hat in ihrem Buch Lebhafte Materie diesbezüglich den Begriff der Ding-Macht gewählt und meint damit «die eigenartige Fähigkeit lebloser Gegenstände, zu animieren, zu reagieren, dramatische und subtile Wirkungen zu zeitigen». 1
Dabei macht sie deutlich, dass Menschen, Tiere, Pflanzen, Artefakte, Technologien und Elementarkräfte ein Bündnis eingehen. Jeder Bestandteil dieses Gefüges hat eine eigene Dynamik, doch gerade die Zusammensetzung als solche weist eine eigene Wirkmächtigkeit auf. Und weil jeder Bestandteil eigene und abweichende Qualitäten besitzt, zeigt sich das Gefüge als ein Kollektiv, das sich stetig verändern und weiterentwickeln kann.
Es gilt, das menschliche Subjekt als Teil dieser Gefüge und Mechanismen zu begreifen und so eine neue Subjektivitätsform zu etablieren, die den Menschen als einen partizipativen Teil dieser Gruppierungen miteinschliesst. Diese neue Subjektivität könnte als eine animistische Subjektivität verstanden werden, die ein relationales Denken in den Mittelpunkt stellt und nicht im Gegensatz oder Widerspruch zur Materie steht, sondern ganz im Gegenteil von Materie durchdrungen ist. Die Einheit und Verschmelzung von Subjekt und Objekt kann somit als Vorlage für neue Interaktionen genutzt und die Beziehungen zwischen der natürlichen und der sozialen Umwelt neu gedacht werden.
Man könnte sagen, dass gerade die Kunst das Potenzial in sich birgt, das Reich der animistischen Effekte und Wechselwirkungen greifbar zu machen. Belebte Materie, handelnde Dinge, magische Verwandlungen und Metamorphosen stehen exemplarisch für das Irrationale und sind Phänomene, die den Animismus in Erscheinung treten lassen. So kann gerade das Schaffen von Kunst als etwas begriffen werden, was Grenzen aushebelt, Dingen Handlungsmacht zugesteht und so das Terrain des Animismus gewissermassen implizit als Ressource nutzt.
Die Kunst birgt einen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen das Projekt eines «modernen Animismus» erprobt werden kann – einen Raum für Modellierungen von Wirklichkeit und für Möglichkeitsszenarien. Durch das Schaffen von neuen Bildern und Szenarien können neue Gedanken und Zusammenhänge visualisiert und neue Perspektiven ästhetisch erfahrbar gemacht werden, egal ob utopischer oder dystopischer Natur. Die Kunst lässt uns fühlen, denken und imaginieren und das Reale kann mit neuen Möglichkeiten aufgeladen werden.
Dass gerade künstlerische Avantgarden immer schon Grenzen zwischen dem menschlichen Subjekt und der von ihm objektivierten Umwelt infrage gestellt haben, macht die diesjährige Biennale in Venedig erneut sichtbar. Der von Cecilia Alemani kuratierten Hauptausstellung liegen fünf thematische «Zeitkapseln» zugrunde, die die Parallelen zwischen der historischen Entstehungszeit des Surrealismus und dem Heute aufzeigen. In der Zeitkapsel mit dem Titel Die Hexenwiege werden einige Hauptwerke von der Surrealistin Leonora Carrington gezeigt. In ihren Zeichnungen werden Wesen dargestellt, in deren Erscheinung sich menschliche und tierische Eigenschaften rätselhaft vermischen. Des Weiteren sind Werke von anderen Surrealistinnen wie Leonor Fini, Jane Graverol oder Florence Henri zu sehen, die sich schon damals künstlerisch mit der Überwindung der Dualismen von Frau und Mann, Geist und Körper sowie der Verflechtung von Mythologie und Technologie auseinandergesetzt und die Idee der Metamorphose, Transformation und Verfremdung von menschlichen Körpern und Gegenständen in ihre Werke integriert haben. Die Metamorphose und die Ambiguität des Mythologischen werden zu einem politischen und poetischen Werkzeug, um vielschichtige Visionen von Subjektivität zu schaffen.
Auch die Werke von zeitgenössischen Künstler*innen werden immer mehr von fluktuierenden Hybriden und Gebilden aus organisch-technischen Verflechtungen bevölkert. Mischformen aus Pflanzen, Tieren, Menschen und Technik lassen vielfältige Kombinationen entstehen, die nicht nur Widersprüche und Paradoxien aufzeigen, sondern gleichzeitig eine neue Gemeinschaft und ein Gefühl der Verwandtschaft zwischen den Arten zelebrieren.
In diesem, unserem Moment der Geschichte bleibt zu hoffen, dass diese «zeitgenössische Avantgarde», die nie da gewesene Möglichkeiten des Zusammenlebens mit dem Nichtmenschlichen und unserer Umwelt entwirft, eine Basis für ein Umdenken darstellt und dieser so dringlich notwendige Dialog nicht in den utopischen Räumen der Kunst verbleibt, sondern tiefgreifende Veränderungen evoziert.