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N°4/2023
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Kunstvermittlung im Kontext der UN-Kinderrechte

Wie können Akteur*innen des Kunst- und Bildungsfeldes in Kunstinstitutionen einen Austausch konzipieren und gestalten, der Kindern Chancengerechtigkeit gewährleistet? Welche Bedeutung hat das Recht der Kinder als Kulturbürger*innen für das Kuratieren und Vermitteln in Kunstinstitutionen, und auf welche Weise kann die Zugehörigkeit von Kindern zur Einrichtung gestärkt werden? Ein Essay über Potentiale der Kunstvermittlung und des Kuratierens im Kontext der UN-Kinderrechte.

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Künstlerin, Wissenschaftlerin und künstlerische Leiterin des KinderKunstlabors St. Pölten

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Studienleiterin CAS Kulturelle Bildung HKB, Fondatrice und Geschäftsleiterin der Stiftung Lapurla

Kinder bringen alles mit, was es braucht, um sich auszudrücken und sich kulturell zu betätigen: Sie singen und tanzen, bevor sie sprechen können. Sie hinterlassen mit grosser Lust und Faszination bildnerische Spuren, bevor sie schreiben können. Mit beinahe unersättlicher Neugier lassen sich Kinder unter vier Jahren intuitiv mit allen Sinnen auf Ungewohntes ein. Um kulturell teilhaben zu können, brauchen die Jüngsten vertraute Bezugspersonen, die ihnen Kulturorte zugänglich machen und diese gemeinsam mit ihnen in wechselseitiger sozialer (Wustmann Seiler/Simoni 2016) und künstlerischer (Kraus/Ferretti 2017) Interaktion entdecken, erforschen und interpretieren. In der frühen Kindheitspädagogik werden diese kollaborativen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse als Ko-Konstruktion (Fthenakis 2009) bezeichnet, wobei alle Beteiligten «einen Gewinn für ihr Selbst – ihre Selbstidentität – daraus ziehen» (Völkel 2002). Das verbindende Momentum dieses multidialogischen Welterschliessens sind aisthetische Erfahrungen, also das simultane Wahrnehmen, Bemerken, Empfinden, Erkennen und Verstehen von Wirklichkeit. Dies geschieht bspw. durch die Auseinandersetzung mit ästhetischem Material (Braun/Boll/Krause 2022) – will heissen Material, das möglichst verschiedene Sinne anspricht sowie gestalt- und veränderbar ist – oder durch die Ausübung bestimmter künstlerischer Methoden. Vielfältige ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten bilden somit den Kern frühkindlicher kultureller Bildung und Teilhabe.Inwieweit können wir diesen oben genannten Möglichkeiten frühkindlicher kultureller Bildung und Teilhabe in der Kunstvermittlung Raum geben? Kunstvermittlung kommt im deutschsprachigen Raum Ende der 1990er-Jahre als Bezeichnung für museums- und kunstpädagogische Ansätze auf. Wissen zu vermitteln, ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen, Institutionskritik und gesellschaftliche Anliegen zu verhandeln – diese Ansprüche prägen die Vermittlung in Kunstinstitutionen seitdem (Jas 2021: 26–27; Reinwand-Weiss 2012: 108–114).Der Begriff der Kunstvermittlung bleibt aber offen und wird nicht klar definiert (Pickartz 2019: 33): Weder eine standardisierte Ausbildung noch ein verbindliches Regelwerk verweisen auf Richtlinien für die Praxis von Kunstvermittlung. Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Berufsbild konstituiert, doch tritt die Berufsgruppe noch heute, «mit wechselnden Namen, Zielsetzungen und unterschiedlichen methodischen Strategien (…) auf» (Sturm 1996: 47). Könnte darauf basierend nicht gerade in einer Kunstinstitution Raum geschaffen werden, der jungen Kindern das Recht auf vollen Zugang zum kulturellen Leben gewährleistet? Wie Akteur*innen der Kunstvermittlung dies in disziplinübergreifender Zusammenarbeit gelingen kann, zeigt uns das Forschungsprojekt des Museum of Contemporary Art Australia (Britt/Palmer 2021). In der Verbindung von Theorie und Praxis fächert die 2021 dazu veröffentlichte Studie unter anderem auf, wie sich eine Zugehörigkeit der Kinder zur Institution entwickeln kann, indem ihre Akteur*innen sie aktiv empfangen und ihnen Komfortzonen, Sichtbarkeit und Bewegungsraum in der Ausstellung verschaffen.Um die UN-Kinderrechte im Kunst- und Bildungssektor umzusetzen, müssen wir hier anknüpfend auch systemische Herausforderungen bearbeiten. In der Schweiz startet Bildung beispielsweise offiziell erst mit dem Kindergarteneintritt. Daher sind Kunstvermittlungsangebote erst ab vier Jahren etabliert. Aus der Entwicklungspsychologie und der Neurologie wissen wir, dass Bildung bereits ab Geburt beginnt (Wustmann Seiler/Simoni 2012; Bauer 2019). Chancengerechtigkeit spielt somit nicht erst beim Übertritt in die Sekundarstufe eine Rolle. Um einem Kind ein partizipatives Hineinwachsen in die Gesellschaft zu ermöglichen, sind daher Zugänge zu Kunst und Kultur ab der frühen Kindheit entscheidend. Dabei bestehen gelingende frühkindliche Vermittlungsformate nicht einfach bloss darin, schulische Konzepte herunterzubrechen. Vielmehr sind Settings erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen von Kindern unter sechs Jahren gerecht werden.Sinnlich-ästhetisch orientierte Konzepte bilden die Grundlage für erfahrungsgeleitete Lern- und Bildungsprozesse. Die Mehrdeutigkeit der Künste lässt Differenz erfahren und kann Irritationen hervorrufen. Gleichzeitig können im Austausch mit Kunstwerken und Künstler*innen neue Perspektiven und Handlungsoptionen angeregt werden. Dabei ist es gerade die Zweckfreiheit der Künste, die Bildungsprozesse öffnet. In den Künsten werden auf besondere Art Kontingenz und Emergenz erfahren (Rat für Kulturelle Bildung 2014: 24). Über eine Verknüpfung dieser Potenziale mit den UN-Kinderrechten kann insofern die Zugehörigkeit und die Sichtbarkeit sehr junger Kinder in einer öffentlichen Kunstinstitution für ihr anspruchsvolles kulturelles Lernen und ihre Beteiligungsrechte als Kulturbürger mit gezielten Verfahren geschaffen werden.

Reframing und Neuausrichtung der Kunstvermittlung
Anknüpfend an die vorangehenden Ausführungen stellt sich nun die Frage, inwieweit Kunstvermittlung in Kunstinstitutionen diesem Teilhabe- und Bildungsverständnis gerecht werden kann. Im deutschsprachigen Raum richten diese – mit wenigen Ausnahmen – ihre Vermittlung im Schwerpunkt auf Schulen aus. Auch in Förderprogrammen der Kunst- und Kulturvermittlung stehen Kinder und Jugendliche ab frühestens sechs Jahren im Fokus.¹ Um Kindern also das Recht auf kulturelle Teilhabe sowie eigene künstlerische und kulturelle Betätigung nach § 31 der UN-Kinderrechtskonvention zu gewährleisten, ist hier ein Umdenken erforderlich. In der Förderpolitik müssen sich die Programme vermehrt auf den frühkindlichen Bereich fokussieren, wie dies zum Beispiel die Robert Bosch Stiftung und die Stiftung Brandenburger Tor mit dem Projekt Kunst und Spiele ermöglicht haben (Educult 2020).Zur Schaffung eines adäquaten Umfeldes lohnt sich eine Ausdifferenzierung der Zuständigkeitsbereiche nach Systemebenen (vgl. Bronfenbrenner 1981). Denn wie weit ein ko-kreativer Ansatz, der junge Kinder ins Zentrum stellt, gelingen kann, hängt massgeblich vom Kommitment aller Ebenen ab. Nachfolgend ein paar Beispiele, die für jede Systemebene Aspekte und Anforderungen beleuchten.Im Rahmen der Studie Art and Wonder analysieren und dokumentieren Akteur*innen verschiedener Disziplinen Situationen und Settings der Kunstvermittlung. Sie beschreiben, inwiefern sie Kunstvermittlung durch die Zusammenarbeit mit jungen Kindern aus einer neuen Perspektive wahrnehmen und weiterentwickeln können (Britt/Palmer 2021: 178). Es sei ihnen vor allem daran gelegen, zuzuhören, zu beobachten und sich bei eigenen Interventionen oder verbalen Beiträgen zurückzuhalten. Darüber hinaus sei es erforderlich, agil und aus dem Moment heraus mit grosser Sensibilität auch nonverbal interagieren zu können, daraus lässt sich ableiten, dass für eine Neuausrichtung der Kunstvermittlung ein besonderer Fokus auf die Analyse partizipativer künstlerischer Verfahren gelegt werden sollte, um diese bereits in die Entstehungsphase eines Projektes zu integrieren.Aspekte von Aktion und Reaktion, Resonanzen und Korrespondenzen in produktiv schöpferischen und rezeptiven Erfahrungen mit Kunstwerken und ihrer Vermittlung sollten daher zukünftig noch intensiver herausgearbeitet werden, damit künstlerische Ansätze an der Schnittstelle von Kunst, Spiel und Bildung neue Möglichkeiten und Grade der Partizipation für die Entwicklung zeitgemässer Formate fruchtbar machen können.Wiederkehr und Rückkehr, aktiver Aufbau von Verbindungen, Aufbau von gegenseitigen Dialogen mit Künstler*innen und Pädagog*innen sowie Materialien und Kunstwerken, generationsübergreifende Erfahrungen in Familien sollen gestärkt und disziplinübergreifend ausgebaut werden. Dabei ist die gleichberechtigte Zusammenarbeit der Partner*innen aus Bildungs- und Kunsteinrichtungen erforderlich. Folgende Aspekte müssen zukünftig intensiver in die Programmentwicklung und die Konzeption von Kunstinstitutionen einfliessen, um die UN-Kinderrechte zu verankern.Das Handlungsspektrum der Beteiligten ist immer auch abhängig von den institutionellen Rahmenbedingungen. Die Haltung der Leitungsebene ist daher entscheidend dafür, inwieweit Partizipation vor Ort gelebt werden kann und Änderungen ermöglicht werden (Pringle 2020: 159 ff.). Um die UN-Kinderrechte in Kunstinstitutionen zu verankern, ist die kontinuierliche und forschende Entwicklung eines ganzheitlichen Konzepts geboten, das die Architektur, die Ausstellungen, die Vermittlung, das Programm und die Museumsumgebung zusammendenkt (Pringle 2020: 155ff.). Nur so kann es gelingen, jungen Kindern ein explizit für sie entwickeltes Umfeld in der Institution zu öffnen und ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen.Die jüngsten Erfahrungen aus der im Entstehen begriffenen Institution KinderKunstLabor² können hier modellhaft zeigen, inwieweit Kinder in den verschiedenen Bereichen der Institution mitgestalten. Als Ort der Begegnung zwischen Kindern, zeitgenössischer Kunst und Künstler*innen werden die Kunstproduktionen³ in engem Dialog mit Kindern aus Mitwirkungsgremien in und ausserhalb von Bildungseinrichtungen⁴-⁵ entwickelt. Dadurch sind sie aktive Nutzer*innen in ko-kreativen Prozessen – auch auf institutioneller Ebene.

Kulturpolitische Strategien
Beteiligungsverfahren, Koproduktionen sowie die Weiterentwicklung des Bildungs- und Vermittlungsverständnisses wie die hier beschriebenen müssen strategisch in allen Institutionen eingebettet werden. Dabei kann das theoretisch-empirische Wissen über Auswirkungen partizipativer Prozesse zwischen Kindern, Kunstvermittelnden und Künstler*innen für die Berufsfeldentwicklung und die Qualifizierungsverfahren von Kunstvermittlung durch spezifische Begleitforschung auch für ältere Zielgruppen nutzbar gemacht werden.Bereits heute bestehen mit Lapurla wertvolle Verbindungen zwischen Weiterbildung und Praxis, eine Verknüpfung mit der grundständigen Lehre und Forschung gilt es aufzubauen. Im Frühbereich entwickeln sich aktuell neue Berufsfelder für innovative Kunstvermittelnde und Kunstschaffende. Die Umsetzung von Strategien dieser Art sind allerdings nur mit entsprechender finanzieller Ausstattung durch zusätzliche Förderungen möglich: Für die Konzeption und Erprobung neuer Vermittlungsformate, für Transfermittel im Sinne der nachhaltigen Verankerung, für Fortbildungen, Erstellung von Handlungsanleitungen und Öffentlichkeitsarbeit, Projektförderung und begleitende Unterstützungsmaßnahmen wie Prozessbegleitung oder Netzwerktreffen (Educult 2023: 14).Die gesellschaftliche Perspektive auf Kinder und ihre Fähigkeit, zeitgenössische Kunst wahrzunehmen und auf sie zu antworten, muss sich verändern. Es gilt, von Potenzialen statt Defiziten der Jüngsten auszugehen. «Nur die Kinder verändern die Welt», verdeutlicht der Autor Jean Birnbaum sein Verständnis von Partizipation und den Rechten der Kinder in seiner aktuellen Schrift (2023). Jede neu geborene Person trägt eine eigene Welt in sich, ist durch individuelle Handlungen per se politisch und transformiert sie damit. Den Begriff des Natalismus – des Geborenseins – hat Hannah Arendt geprägt (1998: 175-182). In ihrem Werk The Human Condition erklärt sie, inwiefern insbesondere Diktaturen diese Zusammenhänge erkennen – und bekämpfen. Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Singularität – Nukleus der Kunst – sind dabei gleichzeitig Grundlagen eines kritischen Denkens und der Demokratie.Frühe Kindheit gilt in der Schweiz immer noch als Privatsache, weshalb eine Entwicklung des öffentlichen Interesses für die frühe Kindheit und die Bildungsnotwendigkeit in den ersten Lebensjahren für mehr Chancengerechtigkeit zentral ist. Der Bereich Kultur ist aufgerufen, sich der Dringlichkeit dieser Anliegen anzunehmen. Dies kann nur durch verbindliche Strategien, Mitverantwortung und klare Zuständigkeiten gelingen, die gemeinsam von Bund, Kantonen und Gemeinden entwickelt werden. Aktuell gibt es Bemühungen zur familienzentrierten Vernetzung, die alle Player*innen im Frühbereich zur interprofessionellen Zusammenarbeit der Bereiche Bildung, Gesundheit, Integration und Soziales aufruft. Der Bereich Kultur wird dabei stets vergessen, weil er nach wie vor mit dem Status nice to have behaftet ist. Deshalb muss die Einbindung des Kultursektors durch Agendasetting und Lobbying proaktiv aus den eigenen Reihen erfolgen. Lapurla macht sich seit 2018 stark für diese Anliegen. Der Bereich Kultur ist im Netzwerk aber immer noch untervertreten. Für die Einlösung von § 31 der UNKR ist massgeblich der Kulturbereich verantwortlich, und Kulturvermittlung ist der zentrale Schlüssel dazu.