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N°4/2023
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Kunst zum Anfassen

«Teilhabe ab Geburt» steht in der UN-Kinderrechtskonvention, die die Schweiz 1996 ratifizierte, und in der Kulturbotschaft des Bundes. Doch kulturelle Angebote für Babys und azu finden. Hinkt die Schweiz hinterher? Oder taugt die Altersgruppe nicht zum Publikum? Ein Plädoyer der Mutter eines Babys.

Text

Germanistin, arbeitet als Kulturjournalistin und Autorin

Einmal in einem Tessiner Kirchlein in einem menschenleeren Dorf: Meine Nichte springt jauchzend durch die Kirche und stellt Fragen zum «Juhesuskind». Wir mahnen zur Ruhe. Ihr Warum hat uns auf verinnerlichte, unreflektierte Verhaltensweisen zurückgeworfen, die in der Kirche wie im Theaterraum gelten.Kleine Kinder sind die Antithese zum klassischen Publikum mit bürgerlichem Kodex: Sie scheissen fast wortwörtlich auf die Etikette, sie verschreien den demütigen Flüsterton in den heiligen Hallen der Kunst und die fast heilige Andacht im klassischen Konzert. Sie sabbern auf die Bretter, die anderen die Welt bedeuten, schlagen Purzelbäume, wo domestiziertes, kulturaffines Stillsitzen gilt. Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken sie einem Knäckebrot oder einem Ladekabel genauso wie einem auf sie zugeschnittenen Kulturangebot. Selbst wenn die Aufmerksamkeitsdauer kurz ist: Ihre Hingabe, ihre Neugier und ihre Begeisterung sind elementar, ja körperlich und emotional. Erfrischend unintellektuell. Ihre Juchzer und ihr Nachfragen sollte man weniger als störend, sondern als Zeichen von Interesse und Teilnahme deuten.Das Setting ist darum zentral: Ein «babyfreundliches» Angebot für Erwachsene ist nicht dasselbe wie eines für Babys. Wird die Musik leiser gedreht, sind Dauer und Dunkelheit im Theatersaal noch lange nicht passend für die Kleinen. Darum kriegen sie auch eigene Kulturorte. Hier kriegen sie Kunst in die Finger, die sich auf dieses anspruchsvolle, wechselhafte und kleine Publikum eingelassen hat. Es kann aber auch als gesellschaftliche Ausklammerung gelesen werden: Kids werden in «artgerechte» und gepolsterte Räume verfrachtet.

Kultur(elle Teilhabe) für Kleinkinder ist Klimbim
Egal, wo man fragt: Kulturangebote für die ganz Kleinen sind mit Vorurteilen behaftet. Zuerst das Argument der Frühförderung: Kinder sollen Kind sein dürfen, ohne ab Geburt in ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt investieren zu müssen. Ein breiter Kulturbegriff aber ist sie sowieso, die Antithese zu Frühchinesisch auf Zoom. Sie umfasst alles, was Menschen gern, also intrinsisch motiviert, tun, ohne Profitgedanken zu hegen: Musik hören, kochen, diskutieren und spielen, turnen, lesen … Laut Handbuch kulturelle Teilhabe von 2019 geht es darum, für Kinder «durch kulturell anregende Umgebung genügend Zeit, Spiel- und Handlungsfreiräume sicherzustellen, in denen sie ihre angeborene Neugier, Entdeckungsfreude und Experimentierlust interessengeleitet, bedürfnis- und altersgerecht ausleben können».Die Naturfreunde preisen den Vorzug frischer Luft und geben sich punkto Spielangebote genügsam mit einer Rutschbahn. Damit haben sie nicht nur Unrecht: Mein Baby erlebt Katzen oder Blumen mit der Euphorie eines Teenagers, der erstmals am Konzert seiner Lieblingsband getanzt hat. Manchmal ist weniger mehr.Dann ist da auch noch das Stigma, Kleinkinderkultur sei strukturierte Beschäftigung – Bastelgruppe mit vorgefertigten, unkreativen Ausmalbögen. Im wöchentlichen Babyschwimmen erlebe ich diesen Zwist auch: Erwachsene singen in Kindersprache und helfen dem kleinen Knopf, Leuchttürmchen zu bauen. Einfach mal in Ruhe aufs Wasser patschen und im eigenen Tempo auf das Staunen warten, dafür bietet die bezahlte halbe Stunde wenig Raum.Ob aus diesem Grund auch Kulturschaffende vor dieser Publikumsgruppe zurückschrecken? Vielleicht wollen sie keine Babysitterclowns oder Turnanimator*innen sein und sich lieber dem Publikum widmen, das Kunst mit Wort, Intellekt und Vorwissen schätzt.

Kinderwagenparkplätze und Durchhaltewillen
Neben interaktiven und haptischen Angeboten braucht es auch eine andere Infrastruktur in den Kulturinstitutionen. Dies schildert die argentinisch-schweizerische Regisseurin Teresa Rotemberg, die mit ihrer Company Mafalda Tanzstücke für Kinder international zeigt. Sie wurde ans Luzerner Theater berufen, um dort die Sparte «Junges Luzerner Theater» aufzubauen – in Deutschland sind diese Sparten schon lange Standard. In Buenos Aires sei Kultur mit und für Kinder selbstverständlich.Die Entscheidung der Intendantin Ina Karr, in Luzern eine Sparte «jung» zu etablieren, erfordere Geduld und Durchhaltevermögen aller Beteiligten, zumal die Eintrittspreise erschwinglich bleiben sollen. Es bedarf also vor allem eines kulturpolitischen Willens, um solch ein Angebot durchzuführen.Rotemberg hat ein «Patenbaby»-System eingeführt und überall geweibelt, über 200 Abos sind es heute. Patenbabys können dann bis zum 6. Geburtstag mindestens einmal pro Jahr ein altersgerechtes Stück besuchen. Für die 3 bis 18 Monate alten Kinder hat sie mit einer interaktiven Musikinstallation begonnen, dem «Krabbelkonzert». Es wurde überrannt. Die Infrastruktur musste stark angepasst werden: Wickeltische, Kinderwagenparkplätze, ein krabbelfreundlicher Teppich, Sitzkissen, eine Picknickecke. Das entscheidende Rundherum, die Begleitung der Eltern, die mit den krabbelnden Kindern im Raum sitzen – das alles brauche viel Vorbereitung, Sorgfalt und Geduld. Und das Stück dauert nur 30 Minuten. Als Nächstes folgt die bis im Februar ausgebuchte «Kuscheltier-Safari» ab 18 Monaten. Die Strategie Rotembergs zum Beziehungsaufbau hat Erfolg: «Oft haben wir Leute, die noch nie im Theater waren!» So viel zur heissen Kartoffel Publikumsentwicklung.Im Kunsthaus Langenthal bietet die Kulturvermittlerin Yvonne Eckert seit Neustem acht Mal jährlich «Kunst für die Kleinsten» an, wobei «mit allen Sinnen entdecken» angesagt ist. Und weil das ja so ein Problem ist mit der Kunst zum Anfassen und Abschlecken, werden die nächsten ausstellenden Künstler*innen gebeten, Arbeitsmaterial mitzubringen, das genutzt werden kann. «Schön wäre, wenn die Künstler*innen sogar etwas mitkonzipierten für die Kleinsten», sagt Eckert.

Die Altersgruppe wird unterschätzt
Wer lieber am Bühnenbild nagt, statt den Inhalt zu goutieren, ist nicht reif für Kultur? Doch Einjährige reagieren euphorisch auf Musik, wippen und klatschen. Mein Kind lacht sich kaputt ab der über die Hand gestülpten Socke, die niest. Und jede Lichterkette wird angehimmelt wie ein Nordlicht. Eine befreundete Kita-Leiterin dazu: «Es dürften mehr Angebote sein. Das Problem sind die Erwachsenen: Viele kennen die sinnlichen Fähigkeiten der Kleinkinder nicht». Fehlt Wissen über die Altersgruppe?Fragen für Kunstpädagogin Karin Kraus. Sie leitet die HKB-Weiterbildung CAS Kulturelle Bildung und die von ihr mitbegründete nationale Initiative Lapurla – Kinder folgen ihrer Neugier. Lapurla begleitet und evaluiert Pilotprojekte mit Kleinkindern in Kulturinstitutionen und Kitas. Das Ziel: handfeste Daten, die diese Sparte, die noch keine ist, legitimieren. Kraus weiss: Die Altersgruppe sei die Königsdisziplin. «Kinder spiegeln ungefiltert, ob sie neugierig sind. Sie sind spontan und wollen sich einbringen. Man muss also Lust haben auf dieses Publikum und es kennen». Auch mit wenig Budget könne etwas Tolles umgesetzt werden. Letztlich gehe es darum, «dass Kinder nicht nur auf dem Spielplatz und im ElKi-Singen, sondern an kulturell bedeutsamen Orten mit magischer Atmosphäre willkommen sind». Das Wichtigste: «Einen sinnlichen Moment zu kreieren, der die Fantasie beflügelt».Die in Bern tätige Regisseurin, Performerin und Mutter Emily Magorrian hat im Schlachthaus Theater Bern Workshops für Babys angeregt und bietet mit «Munterbunt» bis heute ein Programm an: «Es ist was vom Schönsten, gemeinsam eine ästhetische Erfahrung zu geniessen». Im Studium in der Schweiz waren Kinder als Publika kein Thema. «Aber für die unter Dreijährigen baue ich Stücke anders, hybrid. Es gibt einen grossen Bogen – auch für die Erwachsenen – und kürzere, in sich geschlossene Bögen».

Alles Vorschulische ist Privatsache
Magorrian ist aus Schottland, wo Theater für die Kleinen als eigene Sparte gilt, in der sich zu arbeiten lohne. National bekannte Compagnien würden mit Kinderstücken auf Welttournee gehen. Und der Staat? Der unterstützt lange Residenzen in den öffentlichen Kitas ohne Produktionszwang: Zielpublikum und Künstler*innen auf Tuchfühlung.Aus Berlin und Stockholm erfahre ich: «Es gibt nichts, was es nicht gibt». In Schweden subventioniert der Staat «offene Vorschulen». Sie sind gratis, öffentlich subventioniert, Eltern begleiten die Zweijährigen, die Sensibilität für Musik, Bewegung und Kreativität sei gross.Im Monetären liegt ein triftiger Grund, weshalb das Angebot in der Schweiz darbt und es je weiter weg von den Zentren, umso privater organisiert wird. Kita läuft vielerorts unter «Betreuung», nicht «Bildung», kann Projekte nicht finanzieren. Kraus fordert, dass die frühkindliche Teilhabe in die Leistungsverträge der öffentlich geförderten Einrichtungen aufgenommen wird. «Chancengleichheit beginnt hier: Weil nur rund die Hälfte aller Kinder in der Kita ist, ist die Kulturaffinität des Umfelds entscheidend». Und: Kleinkinderkultur ist keine «Cashcow, sie unterliegt keiner Erfolgslogik. Aber es geht darum, Kinderrecht einzulösen», sagt Kraus. Und an einer guten Gesellschaft zu bauen: «Künstlerische Betätigung stärkt Soft Skills und Resilienz».

Kunst be-greifen
Kinder be-greifen, ertasten, erfahren, erfühlen. Wir bewerten und verworten kognitiv: Hat mich diese Ausstellung berührt? Habe ich die Aussage begriffen? Das führt dazu, dass wir zu früh normieren und vorschreiben, wie man einen Baum zeichnet und wie sie stillsitzen müssen, statt be-greifen zu dürfen. Da stehen wir nun, seit sich die Schweiz vor 28 Jahren zur kulturellen Teilhabe von Kindern ausgesprochen hat. Schade, denn würden alle Kunst in anarchischer Kindermanier erleben, wäre Teilhabe auch für andere mehr gewährleistet.