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N°1/2022
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Kunst mit Eigenleben

Fermentation ist im Trend, nicht nur in der Gastroszene, sondern auch in der Kunst. Was ist so besonders daran, wenn die Milch kippt oder ein Gemüse zu gären beginnt? Eine Begegnung mit der Fermentationsexpertin Maya Minder.

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(*1974) ist Wissenschaftsjournalist und -kurator. Im «symbiont space» in Basel sucht er Kunst und Wissenschaft auf gewinnbringende (für beide Seiten) Weise zusammenzubringen. Zudem experimentiert er auch gern mit fermentierten Getränken als Cocktailzutat.

Irgendwann in Mesopotamien, vor 6000 Jahren. Die Sumerer*innen wissen schon lange um den Nutzen der Tierhaltung. Die Domestizierung von Schafen, Ziegen und Rindern erfolgt neuesten archäologischen Funden zufolge erstmals vor etwa 10 000 Jahren. Das heisst etwa zeitgleich mit dem ersten Anbau von Weizen und Gerste. Der Anfang der Fermentation ist historisch umstritten, einer Theorie zufolge entdecken die Sumerer*innen viertausend Jahre später auch, wie man kleinste Organismen für sich arbeiten lässt: Hefen helfen bei der Herstellung von Brot und Wein. Andere Expert*innen sind der Ansicht, die Entdeckung der Fermentation sei einer der Hauptgründe für die Sammlerinnen und Jäger gewesen, überhaupt sesshaft zu werden. Egal wann es passiert ist: Manche nennen es den Anfang der Biotechnologie – umgekehrt liesse sich sagen, wir entdecken gerade die uralte Kulturtechnik der Fermentation neu. Wenn Lebensmittel vergären, haben, so darf angenommen werden, alle Beteiligten etwas davon – vor allem die in und von den Lebensmitteln lebenden Mikroben, aber auch wir Menschen; jedenfalls seit wir realisiert haben, dass fermentiert nicht dasselbe bedeutet wie verdorben. Es kümmert uns natürlich kaum, ob die Hefen im Sauerteig beim Brotbacken überleben. Oder ob sich die Joghurtkulturen anschliessend auch in unserem Darm einnisten oder ob sie in der Magensäure zugrunde gehen. Es spielte aus anthropozentrischer Sicht auch nicht so eine Rolle.Weder die Sumerer*innen noch alle Folgekulturen hatten eine Ahnung von den Kleinstlebewesen, die sie da zu «domestizieren» begannen – sie mochten es «Alchemie» nennen oder vielleicht auch «Magie». Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Mikrobiologie – plötzlich hatten ganz verschiedene Vorgänge im Zusammenhang mit Lebensmitteln eine gemeinsame Grundlage: Einzeller, die irgendetwas anstellten mit den Nährstoffen. Man könnte auch sagen: sie für uns schon einmal ein Stück weit vorverdauen. Inzwischen ist fast so etwas wie ein Kult um die Fermentation entstanden, manche betrachten ihre Sauerteigkultur oder ihren Kombucha auch als ihr Haustier.

Die Fermentista
Für die Biokünstlerin Maya Minder aus Zürich sind Kombucha, Kefir und Konsorten Kulturtechniken im doppelten oder sogar dreifachen Sinn. Sie interessiert sich natürlich für die traditionellen Nutzungen, für die uralte Geschichte der Fermentation. Sie nutzt Bakterien und Hefen aber auch ausgiebig in ihrer künstlerischen Praxis, macht sie also zu ihrer ganz persönlichen Technik – augenzwinkernd nennt sie sich auch Fermentista. Und nicht zuletzt ist die Arbeit mit Mikroorganismen immer buchstäblich eine Arbeit mit Kulturen. Metaebenen à discretion. Mit einem sehr konkreten primären Zugang allerdings: Sie wolle sich Lebensmitteltechnologien wieder aneignen. Viele gängige Fermentationsprozesse seien gewissermassen von der Industrie monopolisiert worden, wir hätten unsere Kenntnisse, wie man Käse oder Wein herstellt, «outgesourced».Also versuche sie mit ihrer Arbeit Mikroorganismen erfahrbar machen als sinnliches Erlebnis. Oder eben auch als intime Beziehung: «Züchtet man einen Kombucha, entwickelt er sich ganz persönlich» – eine Koexistenz verschiedener Bakterien und Hefen, die womöglich einzigartig ist. Und diese Lebensgemeinschaften haben ihre Launen – womit wir zurück bei den Haustieren wären: Nehme man einen Wasserkefir mit auf Reisen, habe er oft ein wenig Mühe am neuen Standort, er müsse sich da auch erst ein wenig akklimatisieren.Ihr grosses Wissen nutzt sie aber nicht nur in ihrer künstlerischen Praxis, sie bietet auch Fermentationskurse an, für alle, die lernen wollen, wie man Kimchi macht oder Kefir. «Es kommen viele Leute mit den unterschiedlichsten Ernährungsintoleranzen zu mir in den Kurs.» Und oft stelle sich eine Besserung ein. Fermentieren sei kein Allheilmittel, aber eines sei sicher: «Das Konsumverhalten einer Wohlstandsgesellschaft tut unserem Darm nicht gut.» Sie ist überzeugt, dass das Essen fermentierter Produkte hilft, «besser mit Stress umzugehen». Und vielleicht auch ein wenig dabei, über sozioökonomische Strukturen nachzudenken: Industrialisiertes Essen sei ja nur noch darauf getrimmt, dass es uns möglichst simpel schmeckt, also ohne Umwege das Belohnungssystem triggert. «Die Verkörperung der kapitalistischen Idee, eingeschrieben in unser Essenverhalten.»

Kontrollsucht und -verlust
Wenn man ihr so zuhört, wie sie sich ins Feuer redet, könnte sie auch Inhaberin einer Ernährungsberatungspraxis sein. Wo genau wird Fermentation denn zur Kunst? Vielleicht steckt die Antwort in einer beiläufigen Bemerkung: Es sei letztlich immer ein Jonglieren mit «Manipulation bzw. Kontrolle und einfach Stehenlassen». Was ja vielleicht überhaupt als schöne Definition taugt für künstlerisches Schaffen, dieser unmögliche Spagat zwischen Kontrollsucht und -verlust. Dass sich ihre Kunst auf die eine oder andere Art immer ums Essen dreht, hat aber tiefere Gründe: «Essen hat mit Chemie zu tun, mit Transformation, mit Kultur, Heimat und Erinnerung.» Aber auch mit Handwerk und mit einem sozialen Moment: Es geht da auch immer um die Interaktion zwischen Gastgeber*in und Gast. Essen sei insofern ein «fundamentales Kommunikationsmittel» für alle möglichen Kontexte: aktivistisch (Umweltthemen), feministisch (Genderrollen), politisch (Agrarpolitik). Und natürlich die sinnlich unmittelbare Ebene: «Wir haben ja zu wenig Worte, um all das zu beschreiben, was wir wahrnehmen beim Essen.»Essen und Kochen sind tatsächlich für sich schon unendlich vielschichtig, allerdings bleiben sie auf den Menschen zentriert. Beuys soziale Skulptur weist keinen Weg über den «human exceptionalism» (Anthropozentrismus) hinaus – Bakterien- oder Pilzkulturen dagegen schon. Wie sinnvoll ist es überhaupt, von Individuen zu reden, wenn man sich auf die biologische Logik der Mikroorganismen einlässt? Für Maya Minder ist es selbstverständlich, sich auch immer tiefer in die wissenschaftlichen Grundlagen einzuarbeiten, das heisst, mehr über unsere seltsamen kleinen Mitbewohner*innen zu erfahren, von denen wir nach wie vor kaum etwas wissen. Obwohl sie überall sind und eigentlich schon immer da waren: «Bakterien sind viel älter als wir, und sie gehorchen einer ganz anderen biologischen Logik: Sie tauschen sich mit der Umwelt aus, das ist ihr inhärentes Wesen.» Da werden laufend Gene hin- und herverschoben und stoffwechslerische Kreisläufe geschlossen. Auch in uns drin, das wird uns erst so langsam richtig klar: «Das Mikrobiom lehrt uns, dass wir selber eine grosse Symbiose sind. Wir müssen das Objekt-Subjekt-.Verhältnis und das Konzept Parasit komplett überdenken.»

Sich Technologien aneignen
Nicht zuletzt hat Fermentieren auch eine politische Komponente: Ähnlich wie in der Medienkunst ist dabei der Hacking-Gedanke zentral: sich Technologien aneignen, um sie frei von wirtschaftlichen Zwängen nutzen zu können, um mit ihnen zu spielen. Eben darum geht es in der Biohacking-Szene, die für Maya Minder zu einer künstlerischen Heimat geworden ist. Und wir brauchen diesen kritischen, souveränen Umgang mit Biotechnologie dringender denn je: Dank der Genschere Crispr/Cas9, mit der man gezielt ins Erbgut eingreifen kann, macht die Manipulation von Mikroorganismen gerade muntere Quantensprünge. Was wir bis anhin gewissermassen anekdotisch genutzt haben – so gut wie alle Fermentationsprozesse dürften ihre Entdeckung dem Zufall verdanken –, das beginnen wir nun sehr bewusst zu gestalten, mit den Mitteln des Gene-Editing. Und im grossindustriellen Massstab zu nutzen, sei es in der Pharmaindustrie, in der Chemie oder bei Lebensmitteln.Versteht sie Fermentationspraxis insofern auch als Nestlé-Kritik? Kein Zögern von Maya Minder: «Auf jeden Fall!» Das Absurde sei ja, dass Fermentation am Beginn allen prozessierten Essens stehe, viele der in den Fabriken genutzten Herstellungsprozesse (ob bei Senf, Ketchup, Süssgetränken) nutzen enzymatische Tricks, die als Kulturtechnik eben wesentlich älter sind. Und die nach wie vor ein unschätzbares Reservoir darstellen: Minder erwähnt die Köche des berühmten noma in Kopenhagen, die ein eigenes ferment lab betreiben. «Auf der Suche nach neuen Geschmäckern und Geschmacksnuancen wird man fast von selbst beim Fermentieren landen.» Die Grosskonzerne dagegen: «Die haben nur eine Mission: den Geschmack zu standardisieren.»