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N°4/2024
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Künstlerische Umordnungen von Geschichte

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Kunstwissenschaftlerin in Basel

Sasha Huber The Firsts – James Baldwin
The Firsts (2017–) ist Titel einer Serie im Schaffen von Sasha Huber (*1975), ausgeführt mit Metallklammern, die von ihr mit einer Luftkammerpistole auf unterschiedliche Untergründe geschossen werden. Im Fall von The Firsts verwendet sie mehrheitlich schwarz bemalte Akustiktafeln. «Als ich die Luftkammerpistole 2004 das erste Mal ausprobiert habe, war mir sofort klar, dass sich das Werkzeug wie eine eigentliche Pistole anfühlt – das Gewicht, der Klang, man muss seine Augen und Ohren schützen. Es war ein Werkzeug, mit dem ich Themen behandeln kann, die mich beschäftigen.» 1Die «Ersten» in Genealogien zu identifizieren und durch Portraits zu würdigen, schafft Bezugspunkte für kollektive Gedächtniskulturen in Gemeinschaften. Wer diese «Ersten» in der offiziellen Erinnerungskultur eines Landes waren, wurde im westlichen Kontext lange unhinterfragt von weissen, männlich dominierten Mehrheitsgesellschaften bestimmt und tradiert. Quellen und Recherchen in Verbindung mit sozialanthropologischer und feministischer Forschung zeichnen ein anderes Bild. Durch sie werden Strukturen systemischen Vergessens und Diskriminierung freigelegt, fassbar – und Umordnungen möglich. Für Sasha Huber stand die Erforschung ihrer schweizerisch-haitianischen Wurzeln, der Auseinandersetzung mit der traumatischen Geschichte Haitis, dem Herkunftsland ihrer Mutter am Anfang. Sie entschloss sich, den Ansatz auf koloniale Narrative auszuweiten; ihre Energie Personen zu widmen, die unter Kolonialismus litten und denen in der Geschichte bisher weniger, bis keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde.«Somit hat sich für mich die Methode des Tackerns im Sinne des Zusammennähens der kolonialen Wunden weiterentwickelt, das symbolisch unter die Haut geht. Ich verstehe das Tackern auch als eine Art Sorge-Tragen und auf diese Weise als einen andauernden Heilungsprozess. Es sind Wunden, die nie ganz geheilt werden können, und somit ist der Schmerz immer noch vorhanden. Ich nenne diese Arbeiten pain-things 22016 kam Huber das erste Mal mit dem konkreten Plan nach Leukerbad, die aktuellen Besitzer des Burg Hüsli, jenes Chalets zu treffen, in dem James Baldwin Anfang der 1950er-Jahre zeitweise wohnte und an Texten wie Go Tell it on the Mountain (1953) und Stranger in the Village (1953) schrieb. Die Besitzer waren mit ihrer Idee einverstanden, ein Porträt von James Baldwin direkt am Haus anzubringen, um die Tatsache sichtbar zu halten, dass er sich in Leukerbad aufgehalten hat. Die gemeinsame Suche nach einer geeigneten Stelle fiel auf einen Fensterladen im Erdgeschoss. Im nächsten Schritt informierte Huber den James Baldwin Estate in New York über ihre Idee. Den nächsten Aufenthalt in der Schweiz nutzte sie, um den Fensterladen abzuholen. Die Ausführung im Rückgriff auf Bilder aus dem Film Un étranger dans la ville (1962) von Pierre Koralnik erfolgte in ihrem Atelier in Helsinki. Sieben Jahre später kam sie wieder nach Leukerbad, um von diesem site-specific work eine kleine Edition von Frottagen zu machen, die in der Ausstellung Stranger in the Village im Aargauer Kunsthaus gezeigt wurde. Vor Ort ist das Werk der Witterung ausgesetzt. «Ich hatte damit gerechnet, dass es langsam rosten wird. Das Portrait darf allmählich mit der Holzfarbe verschmelzen.» 3

 

Sasha Huber The Firsts – Tilo Frey
Auf Tilo Frey (1923 – 2008), ihre Geschichte und schweizerisch-kamerunische Biografie wurde Huber 2017 durch einen Vortrag aufmerksam, den Jovita dos Santos Pinto beim Symposium Afroeuropeans: Black Cultures and Identities in Europe an der University of Tampere in Finnland hielt. Darin stellte dos Santos Pinto ihre Masterarbeit, Basis ihres Dissertationsprojekts über Frey vor, der ersten systematischen, kritischen Aufarbeitung ihrer privaten und professionellen Biografie unter Berücksichtigung der systemischen Exotierungen und Otherings, mit denen sie konfrontiert war.    «From her research I learnt that Frey was among the first women elected to the Swiss Parliament in 1971 – only 51 years ago – when women in Switzerland first gained the right to vote and stand for election at federal level. During that time, she taught business classes at the École supérieure de commerce in Neuchâtel, which is the same city where Louis Agassiz was a university professor at University of Neuchâtel’s Faculty of Arts and Human Sciences, in the early 1830s. She was also the first person of colour known to be politically active in Switzerland at the time: the first Afro-Swiss member of the local government, but this was mostly forgotten until Jovita reminded us of her history.» 4Vier Jahre später, 2021 wurde Huber von Autograph, einer in London ansässigen Initiative, die sich seit 1988 dafür einsetzt, das Werk von Kunstschaffenden zu fördern, die mittels Fotografie und Film Fragen zu «race, representation, human rights and social justice» aufgreifen und verhandeln, für eine Commission angefragt. Sie entschied sich für eine Arbeit zu Tilo Frey. [5] Als Vorlage nutzte sie das Porträt, das in den Wikipedia-Eintrag zu Frey verlinkt ist. Ein SW-Foto, von dem Huber nicht mehr bekannt ist, als dass es sich um das offizielle Pressebild handelt, das von Frey als Vertreterin der PRD bei Einzug in den Nationalrat gemacht wurde. Es erschien ihr ideal und auch bezüglich des Copyrights die beste Option. Die Ausführung mit der Technik der Metallklammern erfolgte auf eine schwarz bemalte Akustikplatte: «Das ist das Material, das verwendet wird, um Geräusche in Innenräumen zu dämmen. So entsteht eine Analogie zu den Geschichten von Menschen, die nicht genügend gesehen oder gehört wurden. Paradoxerweise verstärkt die Verwendung dieses erstickenden Materials die Präsenz dieser Personen. Dadurch entsteht ein Kontrasteffekt, der mir angemessen erscheint.». 6

 

Studio Renée Levi Tilo
Namen von Frauen durchqueren das Schaffen und Denken der Künstlerin Renée Levi (*1960) als Worte, Bezeichnungen und Titel eigener Arbeiten. In die Auswahl und wie sie verwendet werden, spielt das Bewusstsein hinein, dass dadurch Zuordnungen vorgenommen, Verbindungen zu konkreten Personen gestiftet, und Leistungen gewürdigt werden können. Tilo ist der Titel eines der jüngsten, realisierten Kunst und Bau-Projekte des Studio Renée Levi, bestehend aus Levi und Marcel Schmid. Es handelt sich um ein 246-teiliges Mosaik aus Keramikplatten im Giebelfeld des Bundeshaus in Bern. Seine feierliche Einweihung erfolgte am 12. September 2023, 175 Jahre nach der Annahme der Bundesverfassung durch die 246-köpfige vereinigte Bundesversammlung.Prozesse des Umordnens machen seine Entstehungsgeschichte aus. Sie setzt mit der 2021 erfolgten Ausschreibung eines Wettbewerbs im selektiven Verfahren ein: Der Fläche eines gleichschenkligen Dreiecks im Tympanon der vermutlich ikonischsten, denkmalgeschützten Nordfassade der Schweizer Demokratie aus Berner Sandstein. Sie vom Zeitpunkt der Fertigstellung der späthistoristischen Architektur 1902 bis anhin leer geblieben war. Auf das Jubiläum der Bundesverfassung 2023 sollte es nach mehreren vergeblichen Anläufen gelingen, diese Leerstelle zu besetzen.Auslöser war ein Telefon von Andreas Münch, dem Leiter der Kunstsammlungen des Bundes und der Gottfried Keller-Stiftung, an das Studio Renée Levi. Darin wurde die Frage gestellt, ob sie Interesse hätten, sich am Wettbewerb zu beteiligen: Levi sagte ihre Teilnahme zu –, als Malerin mit einem spezifischen Vokabular und als in Istanbul geborene, eingebürgerte Schweizerin und mit dem Anspruch, ihre weibliche, migrantische Biografie in den Prozess hineinwirken zu lassen. Levi und Schmid waren sich einig, dass sie nur mitmachen würden, wenn es ihnen gelänge, ein gemeinsames Projekt zu entwickeln, für das sie angesichts der an Überforderung und Unmöglichkeit grenzenden inhaltlichen und baulichen Rahmenbedingungen, dauerhaft einstehen können. Sie stellten sich der inhaltlichen Aufgabe, was Kunst am «buchstäblichen Auge» dieses Gebäudes soll und sein kann.In ersten Skizzen wurde erprobt, das Vokabular von Levi für diese Aufgabe bildnerischer Repräsentation anzuwenden und entschieden verworfen. Es wurde notwendig, eine andere Strategie und ein anderes künstlerisches Vokabular zu wählen. Sie wollten ihr Werk der Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene im Jahr 1971 widmen und kamen zum Schluss, alle gestalterischen Elemente, inklusive ihrer Anzahl aus dem Bestehenden abzuleiten. Gemeinsam arbeiteten sie ein abstraktes Bild zur Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene als Thema mit geschichtlicher Narration aus, das in Geometrie, Material und Farbigkeit auf die historische Sandsteinfassade Bezug nimmt. Sie erhielten den Zuschlag zur Realisierung im Februar 2022. 7Sich der baukeramischen Umsetzung als Herausforderung zu stellen, führte zu einer Umordnung in der Arbeitsweise des Studio. Sorgfältig ausgearbeitete Pläne für ein aus 246 Flächen bestehendes Mosaik bildeten die Grundlage für beratende Gespräche mit Cornelia Gassler und dem Team von Swisskeramik, Leo Pichler und Mario Sophia.Als Titel war zwischenzeitlich eine Aneinanderreihung der Namen aller zwölf Parlamentarierinnen vorgesehen, die 1971 erstmals ins Parlament einzogen. Die Entscheidung für Tilo als eine einzelne Person ist ein Bekenntnis zur Diversität, zu dem Mut und der Entschlossenheit, mit der sich Frey entgegen Widerstände für Themen wie Lohngleichheit, Entkriminalisierung der Abtreibung und Zusammenarbeit mit Ländern des Globalen Südens eingesetzt hat. 8 Sie fiel in Kenntnis der Forschungen von Jovita dos Santos Pinto, auf die sich auch Sasha Huber bezog. Aus der Perspektive und in den Worten von Levi ist Tilo ein Projekt, «mit dem falsche Erwartungen an die Kunst umgeordnet wurden». Was von Kunst erwartet wird, paart sich mit Bedürfnissen nach Repräsentation. In westlicher Repräsentationskultur wurde sie lange in den Dienst gestellt, und am Anspruch gemessen, weisse Mehrheitsgesellschaften unkritisch und vereindeutigend in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dieses Konzept ist aus vielen Gründen nicht mehr haltbar. Tilo ist ein Mosaik, dessen bildhafte Wirkung von jedem Standort auf dem Platz anders erscheint.Über die Erinnerung und Hommage an Tilo Frey und das, was durch die Forschungen von dos Santos Pinto über Muster systemischer Diskriminierung, Umgangsweisen und Widerstand bekannt ist, werden vielschichtige Pointen offengelegt. Dazu gehören, dass migrantische Biografien ein Regelfall sind sowie nicht Herkunft, religiöse Zugehörigkeit oder Gender über politische Teilhabe bestimmen, sondern Verständnis und Einstehen für die Schweizer Demokratie. «Wahrnehmung macht Standpunkte aus – und umgekehrt. Und Beweglichkeit bleibt ein Grundstein unserer Demokratie». 9