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N°1/2023
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Kim de l’Horizon

Es steht ausser Frage, kein Buch aus der Schweiz hat letztes Jahr für mehr Furore gesorgt. Blutbuch, von HKB Absolvent*in Kim de lʼHorizon, bewegt und beschäftigt die Literaturlandschaft nach wie vor und soll bereits in sechzehn Sprachen übersetzt werden.

Text

studierte Klassische Violine und Instrumentale Musikpädagogik an der Zürcher Hochschule der Künste, Philosophie und Germanistik an der Universität Zürich, lebt in Kreuzlingen, Schaffhausen und Zürich, rezensiert Gegenwartsliteratur, forscht zur Literatur des 19. Jahrhunderts, ist als Konzertmeister der Sinfonietta Höngg (ZH) tätig.

Foto: Anna Schwarz

Der Romanerstling von Kim de l’Horizon, 2017 bis 2020 Student*in an der HKB im Bachelor Literarisches Schreiben, erfährt bisher eine aussergewöhnliche Resonanz. Blutbuch wurde mit dem Literaturpreis Jürgen Ponto-Stiftung, dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnete, erlangte aber auch bei Medien und dem Publikum grossen Erfolg. Zweifellos ist die Sprengkraft dieses autofiktionalen Romans in seiner Sprachvirtuosität angelegt. In ihr begibt sich die sechsundzwanzigjährige und non-binäre Hauptfigur, die ebenfalls Kim heisst, auf die Suche nach der Identität des eigenen Körpers. In fünf stilistisch facettenreichen Romanteilen stellt sich diese Suche nach und nach als die eigentliche Findung und Erfindung einer offenen Persönlichkeit heraus.Die Ausgangslage ist Grossmutters De­menz­erkrankung, die Kim erst bewusst macht, wie viele Leerstellen die eigene Familienbiografie enthält. Immer wieder kehrt die Kindheitserinnerung an eine Blutbuche zurück. Aus ihr und anderen Erinnerungsstücken strickt Kim die märchenhaft magische Erzählung eines Kindes, das von der Erwachsenenwelt in seiner Sexualität missverstanden wird. Diese Geschichte ist zugleich der Ursprungsmythos von Kim, der ganz vom klanglichen und bildlichen Eigenpotenzial der Sprache geleitet ist; eine écriture fluide, wie es die Autor*innen-Person in Interviews gerne bezeichnet. Aus den Müttern, den französisch-berndeutschen Meeren wird so das ewig fliessende und drohend beschützende Urmeer, Grossmutters Truckli sind einmal psychische und prothetische Auslagerungen, dann wieder Schutzräume oder Gefängnisse der Leere und Einsamkeit.

Feuerwerk ohne selbstzweckhaften Pathos
Letztlich entrinnt der Blutbuche auch das Blut, der Schmerz und das Buch. Die hier treibenden Stilfiguren der Assonanz und Metapher feuern zwar oft ein exaltiertes Feuerwerk, es verglimmt aber erstaunlicherweise nie im selbst­zweckhaften Pathos. Dies liegt wohl einerseits an der Ernsthaftigkeit der Thematik und wie sie in ihrer soziopolitischen und kulturhistorischen Verankerung aufgesucht wird, aber auch an der Weise, mit welcher die sprühende Stilistik ihren Stoff behandelt: Sie verschreibt sich ganz der verzweifelten Unsagbarkeit intimster Empfindungen und Begehren und schöpft den literarischen Gehalt so auf der Höhe der Zeit. Die beim Lesen unbedingt mitzuerlebenden Assoziationen weben sich so chaotisch wuchernd wie komplex präzise entlang der Handlung. Durch diesen Effekt wächst der Roman beim Lesen gleichsam vertikal, wurzelt in die Tiefe, schlägt in die Höhe und zu den Seiten aus. Demnach zieht sich eine organische Körper-, Wasser-, Baum- und Weltenspirale immer enger um ein Ziel der Suche von Kim.

Schmerzliche Schönheit des Nicht­wissens
Streng genommen bleibt in diesem Zentrum, wo wir eine Moral, eine finale Entscheidung über Identität und Nicht-Identität erhoffen, eine Unbestimmtheit. Bei den zahlreichen expliziten, vital-drastischen Sex-Darstellungen in Blutbuch haben es bisherige Rezensionen oft übersehen, dass sich die Hauptfigur Kim den Leser*innen genauso resolut mit Selbstbekundungen verweigert. Als nach Kims teilweise auch sehr gewaltvollen Eskapaden eine Freundin von Sexsucht spricht, verbietet sich Kim dieses Gespräch. Das ist eine wohl geplante Irritation, denn es liegt nahe, dass Leser*innen über die Gesundheit der oft selbst­zerstörerischen Figur besorgt sind und sich einen Wendepunkt erhoffen. Einer reflexartigen Einfühlung wird hier ein intelligent subtiler Streich gespielt. Die gegenseitige Liebe und Akzeptanz muss schliesslich auch ohne absolute Gleichheit oder Angleichung verschiedener Erlebnisweisen gelingen. Partielles, aber exakt hervorgekehrtes Nichtverstehen wird so relevant für ein positives und gelassenes Bild wechselseitiger Anerkennung.

Blutbuch spielt gekonnt auf vielen Klaviaturen des literarischen Erzählens: Da ist das Märchen fragmentarischer und metaphorischer Sprachmagie des ersten und zweiten Teils, was oft an Martina Clavadetschers Knochenlieder (2017) erinnert. Da ist im dritten der Einbruch der queerfeindlich brutalen Realität, in der die Sprache eine rotzig quasselige und differenzierbare Mischung verschiedener Underground-Stile durchwandert, von Social-Beat und Slam-Poetry bis zu Cut-up und Pop-Literatur. Wiederum der vierte Teil entfaltet die irritierend prosaische Fiktion einer Alternativgeschichte matriarchaler Hexen-Stammbäume, die dann in einem finalen Manifest für die offene Existenz des körperlichen Schreibens gipfelt. Die wiederkehrenden Szenen por­nographischer Drastik richten dabei einen einprägsam queerfeministischen Fokus auf gesellschaftlich schlechthin tabuisierte und vor allem auch klassistisch geprägte Intersektionalitäten. Kims kulturhistorische Recherchen zur Blutbuche führen aus der deutschen Klassik bis in die Zürcher Stadtgeschichten des 19. Jahrhunderts und zeigen beispielsweise am tragischen Schicksal von Lydia Welti-Escher auf, wie auch die konkrete politische Schweiz Teil dieser Kritik sein muss.Kim de l’Horizon setzt auf die Stilmittel der klassischen und Neo-Avantgarden. Wann immer das heutige Autor*innen tun, wird das von der Kritik gerne reflexartig als unverständliches und verknöchertes Experiment abgetan. Kim de l’Horizon gelingt trotzdem mit diesen Mitteln eine Wiederbelebung eben dieser Mittel wohl auch deshalb, weil die Blutbuch-Stimmen erstaunlich nahe an die Radikalität jüngster sprachanalytischer Avantgarde heranreichen. Jürg Laederach (1945–2018) hat diese mit Romanen wie Emanuel (1990) oder Harmfuls Hölle (2011) unübertroffen geprägt.

Ästhetische Privatsprache
Kim de l’Horizon reizt in einem gewissen Sinne auch das aus, was mit Wittgenstein als eine ästhetische Privatsprache bezeichnet werden kann. Gleichzeitig zeigt sich daran aber ebenso die Kritikfähigkeit des Buches, das auf eine echte Magie und Spiritualität in einem kulturellen Bereich pocht, wo eine Gesellschaft im Nachhinein der historischen Aufklärung eher auf die Kraft autonomer Kunst setzen würde. Die Frage ist, ob sich bei der aktuellen Rezeption tatsächlich Autor*in und Publikum immer ganz bewusst mit grundsätzlich unterschiedlichen Einstellungen begegnen können. Umso erfreulicher, ist es nun durch den wohlverdienten Erfolg ohnehin möglich, sich breiter über Blutbuch zu verständigen, auch über dieses allfällige Missverständnis.