Jede*r gegen jede*n oder doch Ensemble
Wolfram Heberle, Studiengangsleiter HKB Theater, über den Wettbewerb in der Schauspielausbildung. Oder warum dünnhäutige Schauspieler*innen eine dicke Haut benötigen.
Gerne träumen Künstler*innen von einer idealen oder zumindest einer besseren Welt. So auch wir Schauspieler*innen: von einer Welt, in der die Hierarchien flach und die Chancen und Möglichkeiten für alle gleich sind, in der sich jede und jeder entfalten kann und das fern der Idee eines hässlichen Vergleichs der Besseren mit den Besten oder der Begabten mit den Begabtesten. Jede*r darf so sein, wie er oder sie ist. Wettbewerb, Konkurrenz oder Vergleich gibt es nicht. Das ist ein guter oder sogar einer der besseren Gedanken unserer Zeit, nur macht uns da die profane oder manchmal auch gemeine Realität einen Strich durch die Rechnung.
Konkurrenz im Schauspiel
Allein schon die Idee, Schauspieler*in zu werden, konfrontiert eine*n mit der Tatsache, dass pro Studienplatz im Schauspiel im Minimum 20 Personen Schlange stehen – kein Vergleich zur Konkurrenz um die begehrten Medizinstudienplätze (drei Bewerbungen auf einen Platz).Der Weg an eine Schauspielschule ist daher in der Regel steinig, nicht wirklich planbar und – wenn überhaupt erfolgreich – geprägt von mehreren Anläufen. Je nach Schule geht dieses Verfahren über mehrere Runden und in der Regel zwei oder drei Tage lang, und am Ende jeder Stufe erfährt man, ob es überhaupt weitergeht oder eben nicht. Stress und Ängste prägen diese Tage.Hat man die Hürde dann genommen, ist noch nichts geschafft, denn spätestens im Anschluss an die Ausbildung geht es unverändert weiter. Der Weg ans Theater oder zum Film ist nichts anderes als ein Auswahlverfahren ohne Ende, ein Sichbeweisen, ein Zeigen, dass man es mindestens so gut oder besser kann als die anderen. Verträge für Schauspieler*innen gelten maximal zwei Jahre, danach stehen sämtliche Sicherheiten wieder zur Disposition und man selbst als Schauspieler*in eben auch. Arbeitet man freischaffend, gibt es nicht einmal diese mittelfristige Verbindlichkeit; dann gilt es, sich für jede Rolle, jedes Projekt, jeden Dreh neu gegen eine Vielzahl von Kolleg*innen durchzusetzen.Das tönt schrecklich, einsam, hart und schreit nach dicker Haut. Ein echtes Problem ist dann aber: Eine solche Umgebung, mit solchen Eigenschaften, macht gutes Schauspiel unmöglich.Schauspieler*in sein heisst Ensembletier sein, ständig mit, in und für eine Gruppe zu arbeiten. Schauspieler*in sein heisst, sich in ausgesetzten Situationen öffnen zu können und die harten Bandagen fallen zu lassen. Schauspieler*in sein heisst, sich mit Lust, Witz und Vertrauen im Kreationsprozess zu öffnen. Denn die Fähigkeit, das innerste einer Figur nach aussen zu kehren, verlangt genau das Gegenteil einer «dicken Haut». Dieses handwerkliche Vermögen nennen wir Durchlässigkeit. Ein Offensein auf allen Kanälen für das, was um mich geschieht, aber auch dafür, das zu zeigen, was in der Figur geschieht. Ein Offensein für die Zusammenarbeit mit den Spielpartner*innen.
Konkurrenzfreier Raum
Diese Durchlässigkeit, dieses Offensein gelingt – insbesondere zu Beginn – nur in einem geschützten Rahmen, in dem ohne Druck und ohne Angst vor Fehlern gearbeitet werden kann. Meine Kolleg*innen hier im Fachbereich Theater versuchen, diesen geschützten Raum im Studium zu schaffen, und der Raum ist keine woke Idee, sondern eine handwerkliche Notwendigkeit. Ein Raum, in dem die Studierenden geschützt sind, aber in dem sie auch ihre Mitspieler*innen schützen.Es handelt sich nicht um einen Wohlfühlraum, sondern um das Ermöglichen einer professionellen und produktiven Arbeitssituation. Die Fähigkeit, diese Situation auch im professionellen Kontext der Theaterprobe oder auf dem Filmdreh herzustellen, ist ein wichtiger Schritt in der Professionalisierung von Schauspieler*innen. Er beinhaltet neben körperlichen und psychologischen Techniken auch die Fähigkeit, produktives Feedback zu geben und zu empfangen.«Being private in public» heisst die Herausforderung, später einen solch verletzlichen Raum vor 700 Menschen im Theater oder den 20 Personen auf einem Filmset herstellen zu können. Gute Ensembles schaffen diesen Raum, in dem die Spielenden nicht konkurrieren, sondern sich gegenseitig wie gute Jazzmusiker*innen befeuern, ins Zentrum stellen und wieder zurücktreten, um dann zusammen zu agieren. Ein guter Theaterabend ist nie Einzelleistung, sondern immer gelungene Teamarbeit.
Berufseinstieg
Wie eingangs erwähnt: Gerne behaupten und wünschen sich Studierende oder Dozierende die Ausbildung als konkurrenzfreien Raum. Natürlich ist sie das nur bedingt. Und allerspätestens mit den Vorsprechen für die Praktika, welche die Studierenden im 6. Semester absolvieren, bricht die Realität ein in die Ausbildung. Spätestens jetzt wird gedacht oder sogar ausgesprochen, was vorher nur subkutan zugelassen war: «Warum sie und nicht ich?» Der direkte Vergleich entspringt jetzt nicht mehr nur der eigenen Wahrnehmung, sondern wird durch die Institutionen Wirklichkeit.Ab diesem Zeitpunkt ist ein geschützter Ausbildungsraum nur noch bedingt tauglich, es gilt, die Arbeit der Studierenden nun auch im Kontext mit den Erwartungen des Berufsfeldes zu reflektieren. Ziel ist es dabei nicht, deren eigene künstlerische Arbeit diesen Erwartungen unterzuordnen, sondern den Studierenden ein realistisches Bild davon zu vermitteln, wie die Forderungen der Berufspraxis aussehen.Der Übertritt in den Beruf ist wohl in kaum einem Genre so stark in der Ausbildung verankert wie im Schauspiel, weshalb diese Phase meinen Kolleg*innen und mir jedes Jahr aufs Neue unter die Haut geht. Die jeweilige «Abschlussklasse» bereitet sich auf ein gemeinsames Absolvent*innen-Vorspiel vor. Nun stehen acht bis zehn Studierende zusammen auf der Bühne und präsentieren ihre Arbeit (und damit sich) den Leitungen oder Dramaturg*innen der deutschsprachigen Theater.Als Dramaturg*innen haben sie so jedes Jahr die Möglichkeit, in einer von den Theaterhochschulen der Schweiz, Deutschlands und Österreichs organisierten Woche mehr als 220 Absolvent*innen an sich vorbeiziehen zu lassen, um dann die für sie grundsätzlich interessanten zu weiteren Vorsprechen an ihr Haus einzuladen. Häufig treten die Absolvent*innen dort dann gegen die eigenen Kommiliton*innen für dieselbe Stelle an. Wer reüssiert, erhält ein Angebot und die «Abschlussklasse» beginnt, sich zu lichten.Dies geschieht nicht zwingend in der Reihenfolge von Begabung und Fähigkeiten, denn jetzt ist die Frage auch, «was gefragt ist», und dies hat häufig mit Erscheinung und Wirkung der Spieler*innen zu tun. Type-Casting nennt sich das! Begabung reicht also nicht, es gilt, darüber hinaus zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und so sind es häufig nicht die Begabtesten, die als Erste Arbeit bekommen, sondern oft die «Passendsten». Dies verlangt auch von schauspielerisch begnadeten Absolvent*innen häufig Geduld und die Fähigkeit, Ablehnung und Desinteresse zu ertragen und diese nicht auf die eigene Arbeit zu beziehen. Es braucht also doch wieder die eingangs genannte «dicke Haut». Denn wenn sie jetzt dünnhäutig werden, haben sie verloren! Dabei müssen sie ja dünnhäutig sein und bleiben im professionellen Sinne – ein schwieriger Balanceakt.
Nachtrag
Für dieses Jahr sind wir durch. Sieben von acht Studierenden können im Sommer ihr Engagement antreten, die achte Person hat zu Beginn der Auditionen entschieden, sich vor Berufseintritt noch weiterzubilden. Ich bin froh, dass alle ausreichend «dicke Haut» bewiesen haben. Weil als Spieler*innen sind alle acht wunderbar dünnhäutig.