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N°3/2021
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Ins Gasthaus zur Nische

Wir gehen auf dem Land in Gaststätten, die Zum Wilden Eber heissen, Zum Goldenen Horn,1 aber nie finden wir Einkehr im Gasthaus Zur Nische. Dabei wäre das der beste Ort, um auszuruhen und Kräfte zu sammeln.  

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Künstlerin und Dozentin an der Hochschule der Künste Bern 

Wie immer passen Begriffe aus der Alltagssprache an alle möglichen Orte und Kontexte. Die Nische ist so ein Wort, das sich einnistet, das immer Wege findet, dabei zu sein, mitgemeint zu sein. Wer Nische sagt, kann fast nicht anders, als etwas mit-zu-meinen, worin das Wort ganz wichtig wird, überlebenswichtig. Und persönlich. Vielleicht weil es eine Theorie stützt, wie bei Charles Darwins Evolutionstheorie, die das Konzept der ökologischen Nische zwingend braucht, um sich mit dem Paradox der Artenvielfalt arrangieren zu können. Die Evolution sortiert gnadenlos aus – wo sonst ausser in der Nische sollten sich die Schwachen bis heute erhalten haben? Jedenfalls verspricht der Begriff der Nische Hoffnung auf Schutz und Sicherheit. Eine Nische ist ein kleiner Ort, gerade gross genug für uns selbst oder jene, die uns wichtig sind. Nischen können Becken sein, Höhlen, Löcher, Gruben, Gräben, Krater und Dellen. Eine Nische ist Senke und Vertiefung, Trichter und Kuhle. Ein Einbauschrank ist die häusliche Nische des guten Geschmacks. Schlupfwinkel, Spalten, Vorsprünge und dunkle Ecken. Wenn es regnet, suchen wir in Hauseingängen Schutz. 

Die Natur ihrerseits ist voll mit Nischen. Wir denken an den Kaninchenbau, den Fuchsbau sogar, an ein Schneckenhaus als mitgebrachte Nische, ein mobiles Zuhause. Bei Nischen assoziieren wir Feuchtes und Dunkles. Denn das haben alle Nischen gemeinsam: Es kommt wenig Licht dorthin. Es ist kein Platz an der Sonne. Es ist etwas dunkel und undeutlich. Auch Geschlechtskrankheiten finden in Nischen statt, an schamvollen Orten, weniger hell, weniger gefegt vielleicht, intim jedenfalls. Libelleneier, Vaginalpilze, Kleinkriminelle – hier fühlen sie sich wohl. Nischen sind etwas unheimlich, wenn es nicht unsere eigenen sind. Der Subkultur ist das unten schon eingeschrieben, das Präfix sub-, es passt: ein Ort für Minderheiten, für Kenner und Eingeweihte. Bei der Kirche wiederum sind die Nischen und geweihten Orte diejenigen, die wenigen vorbehalten sind. Ein Tabernakel ist oft in die Wand versenkt, auch Gräber sind in Mauern und Böden eingelassen, die Insekten und Wühler sind willkommen.  Nischen sind auch Orte der Gesetzlosigkeit, Orte, in die die Gesetze noch nicht gelangt sind. Sie werden gebraucht von zu Recht oder zu Unrecht geächteten Menschen und Lebensformen (je nach Zeit und Struktur), die also nicht teilnehmen dürfen am echten, hellen Leben, denjenigen, die sich durch die Liebe, den Nachwuchs, die Verbundenheit mit den Falschen schuldig gemacht haben.  

In der Wand kann die Nische der Statue von Mutter Maria einen festen Platz geben, ohne anderem Platz streitig zu machen. Eine architektonische Nische ist ein Gewinn ohne Verlust, ein Raum ohne Platzverbrauch: Etwas kann abgestellt, abgelegt, angedeutet werden, verstärkt und gezeigt, ohne wieder nur die Schwerkraft des Bodens zu bemühen. Alles in Nischen scheint zu schweben. Man müsse ja nur die «richtige Nische» finden, ruft der Marketingcoach, denn dort sei noch niemand. Und schliesslich wird jeder Winkel ausgeleuchtet und ausgebeutet sein und alle machen Profit, gibt es doch beinahe unendlich viele Nischenbedürftige im Kundenspektrum. In der Welt der liberalen Marktwirtschaft wird die soeben entdeckte Nische nicht mehr als dunkel und feucht, sondern als gerade entblösst, beleuchtet, aufgewertet und sogenannt «unentbehrlich» vermarktet. Einmal mehr schaffen es zeitgenössische ökonomische Modelle und deren Jünger, tradierte Wertbilder auf die Schnelle überzubelichten und durch ein hell umrissenes Profil zu ersetzen. Die Dunkelheit der Nische wird entzaubert und als strahlendes kurzlebiges Produkt verkauft. Das Heilsversprechen liegt in der Verkäuflichkeit. 

Down the rabbit hole
Alice im Wunderland2 geht down the rabbit hole, nicht nur eine Nische ohne Rückwand, aber doch ein Versteck, das weiterführt in diese Geschichte. Der Autor des Werks selbst schafft sich mit dem Verfassen seiner Storys eine Nische für das Begehren zur minderjährigen Nachbarin Alice. Die Kindergeschichte wurde uns von diesem alten weissen Mathematiker in guter Sublimierungsweise hinterlassen. Sie wurde zur Nische für die Beschäftigung mit dem verbotenen Objekt. Das ist unschön, aber trotzdem wahr. Nischen bewahren Dinge und Narrative für uns auf, weil sie nicht ans Licht können, Geheimnisse sind und nur in Nischen sicher. Nischen sind Verstecke und Kerker für Verbotenes, Unliebsames, Verkanntes, Verdrängtes.  In den bildenden Künsten gibt es berühmte sichtbare Nischen. Der wahrnehmungswahnsinnige britische Künstler Anish
Kapoor3 hat es uns oft vorgemacht: Seine Werke bringen unseren optischen und sensuellen Apparat an die Grenzen. Im Museum De Pont in Tilburg ist ein dunkles Loch im Boden eingelassen, dessen Tiefe unser körperliches Sensorium nicht abzuschätzen vermag. Ebenso gibt es Wandreliefs, die sich nicht als solche preisgeben: mannsgrosse konkave Wandansichten, deren Glätte und Helle keine Grenzen des sichtbaren Feldes zeigen. Diese schwindelerregenden Seherfahrungen sind Werke von Nischen, unklare Vorschläge von Vorsprüngen und Eindruck.

Die Besenkammer der Architektur
Ähnlich die Besenkammer in der Architektur: ein Ort zur Aufbewahrung dessen, was gebraucht, aber nicht gezeigt wird – der Handbesen, heute der Staubsauger, der Wäscheständer, die Doppelsteckdose. Gaston Bachelards Poetik des Raumes4 kommt vorbei und besucht die alltäglichen Räume der menschlichen Behausungen bis hin zur Schublade. Zugegeben, eine recht kleine Nische, aber auch dort: Ort der Geheimnisse, der Liebesbriefe, des Memorysticks, des zweiten Mobiltelefons, der Harddisc, der Schlüssel zum Schliessfach, der Zugangscodes – Geheimversteck für ein zweites Leben, ein Platz für Vergessenes, der geschätzten Nachlässigkeit. Weiter das Tablar im Schrank der heutigen Frauen: der Ort der Tampons und Binden, der diskret weggeschafften Menstruationsüberbleibsel. Eine Nische ist auch der Raum unter dem Waschbecken, hinter der Waschmaschine, unter dem Spülbecken, hinter der Tür. Im Keller immer dort, wo es am dunkelsten ist und im Wohnzimmer nur dort, wo die Kabel zusammenkommen. 

Kulturhistorisch kommen wir auch an der Falte nicht vorbei. Dieser Begriff, von Leibniz bewirtschaftet und dann aufs Neue beseelt von Gilles Deleuze5, diese kleine vorläufige Hülle, der kleine Ort für kurze Dunkelheit. Die Falte als fallendes Dunkel am Körper der gewandeten Menschen, in den Räumen die Falten der Vorhänge, die die Aussicht zudecken und rahmen zugleich. Der beste Ort für ein kindliches Versteckspiel. Eine ganze Zeitung zur Nische beleuchtet und entweiht einen Ort, der bisher unerkannt vor sich hin stauben konnte. Die Nische als souveräner Ort der Ambiguität, der Mehrdeutigkeit, ist ein willkommenes Risiko. In der Installation «Nischen» wird sie als autonome Kleinigkeit überleben. Die künstlerische Arbeit Nischen ist eine Geste des Trotzes am helllichten Tag6