Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°2/2021
i

Ilmārs Šterns

Ilmārs Šterns, Klang-Performance-Künstler und Komponist, HKB-Alumnus Contemporary Arts Practice CAP. 

Interview

Der Berner Stadtpark füllt sich mit Kindern, verspäteten Mittagesser*innen und frühen Petanquespieler*innen. Hier treffe ich Ilmārs Šterns, Performancekünstler aus Lettland, der im Rahmen des «HKB geht an Land»-Abschlusswochenendes gemeinsam mit (ehemaligen) Mitstudierenden die Performance Postauto Orchestra in den Postautos von Interlaken realisiert – zu normalen Abfahrtszeiten. 

Wie wurde Performance das zentrale Element deiner künstlerischen Praxis?
Ilmārs Šterns: Menschen performen die ganze Zeit, bewegen sich, machen Gesten oder sprechen. Mein Vater war Musiker und manchmal sangen ich und meine Schwestern bei Weihnachtskonzerten mit. Das war der erste Impuls, auf einer Konzertbühne zu stehen. Dann schickte mich mein Vater auf die Musikschule, wo ich Cello spielte. Inspiriert von Michael Jackson und Beyoncé aus dem TV-Musikkanal rückte das Singen für mich mehr in den Mittelpunkt – ich dachte, das ist meine Berufung, ich will mich mit meiner Stimme ausdrücken! Während meines Masterstudiums in Musikpädagogik und Psychologie widmete ich mich der Komposition. Ich merkte, nur auf der Bühne stehen und Musik machen ist ein sehr enger Fokus; es gibt so viel mehr, auf das man sich einlassen kann – den Raum und die Menschen! Ich begann, mich für Szenografie zu interessieren, und studierte an der lettischen Kunstakademie und beschäftigte mich mit Musik, Tanz und Design. Daraus entstand das Bedürfnis, andere Kulturen zu erkunden. Die Chance für diese Reise bot mir das Studium an der HKB im Studiengang Contemporary Arts Practice CAP.  

Was reizt dich an der künstlerischen Arbeit im öffentlichen Raum?
Öffentliche Räume bedeuten nicht unbedingt Aussenraum, sie können auch drinnen oder dazwischen sein. Jeder Raum existiert mit seiner eigenen Szenografie, wie dieser schöne Park, in dem wir uns befinden. Darin agieren wir durch Gespräche, Gesten oder einfach durch das Trinken dieser Limonade. Was mich interessiert, ist eine andere Perspektive auf die Erfahrung der Realität im physischen Moment in Zeit und Raum. 

Was fasziniert dich an Kleidung besonders?
Ich lasse mich von Avantgarde- und Fluxus-Performances inspirieren, in denen Künstler*innen alles infrage stellen; den kulturellen Code und die Vorstellung davon, was ästhetisch ansprechend ist. Meine in klassischer und Jazzmusik ausgebildete Gesangsstimme in diesem Kontext einzusetzen, fand ich schwierig und ich hörte mit dem Singen auf. Ich begann, mit meiner eigenen Haut zu arbeiten, und realisierte eine Nacktperformance mit der italienischen Künstlerin Elisabetta Cuccaro. Wir rutschten, schlugen und kratzten unsere Haut mit Geigenbogenhaar, an dem ein Kontaktmikrofon befestigt war. Ich war aber nicht zufrieden mit dem elektronischen Klang. Er erreichte weder die gleiche Intimität wie der Gesang noch entsprach er genau dem akustischen Klang der Haut. Ich fragte mich: Womit interagieren Menschen in ihrem täglichen Leben? Mit Kleidern! Daraus folgte der Entschluss, nicht nur mit den Kleidern selbst zu arbeiten, sondern mit der Beziehung und der Interaktion des menschlichen Körpers mit ihnen.  

Kamen also die Nähe zum Alltag und das Verhalten der Menschen als Thema wieder rein?
Ja, als ich Gesangslehrer an der Universität für Musikpädagogik in Riga war, waren die Technik und die Interpretationsfähigkeiten meiner Schüler*innen sehr avanciert, wohl wegen der Zugänglichkeit von Lehrmaterialien im Internet, was in meiner Jugend nicht verfügbar war. Aber sie konnten keine Verbindung zu sich selbst herstellen. Sänger*innen müssen die spezifischen musikalischen Formen und Techniken lernen und die Komposition interpretieren, so wie es der*die Autor*in beabsichtigt hat. Aber die Interpret*innen schenken in diesem Prozess der Frage nicht genug Aufmerksamkeit, wie diese Interaktion den Geist und den Körper der Interpret*innen beeinflusst. Für mich sind Kleider performative Klanginstrumente und ich erforsche ihre mögliche Instrumentalität. Ich beobachte das Verhalten der Kleidung und das Verhalten des menschlichen Körpers.  

Gibt es eine Reaktion auf eine deiner Performances, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Nach der Kleider-Performance kam eine Person aus dem Publikum zu mir und sagte: «Ilmār, ich wusste wirklich nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wollte lachen, aber es war so ernst.» Ich finde es spannend, wenn die Leute das Gefühl haben, dass sie an einem fremden Ort sind, diese widersprüchlichen Gefühle und Reaktionen auf etwas haben und nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Das vorhin genannte Beispiel ist die grösste Nähe, die man mit dem Publikum haben kann.   

Wie kann man sich als Aussenstehende den Prozess vor einer Performance vorstellen?
Man recherchiert, macht sich Notizen und findet andere Dinge, die man braucht. Man versucht, mit Materialien zu experimentieren, um eine Art Enzyklopädie zu schaffen, wie Umberto Eco das umschrieb. Als Komponist und Autor des Konzepts nehme ich Codes und Elemente heraus, mit denen ich spielen werde. Es geht nicht darum, Dinge zu proben, sondern darum, kritisch darüber nachzudenken, was sie bedeuten. Wie kann ich an diesen Punkt kommen, dass mir das klar ist – zumindest im Vokabular der Dinge? Erst dann kann es auch für das Publikum nachvollziehbar werden. Die Performance-Kunst selbst bezieht den Körper mit ein. Ich benutze viele Imitations- oder Spiegelungselemente, aber nutze sie als Mittel, um «Dinge zu tun», wie Karen Bardad es formulierte. Das gibt mir mehr Freiheit und eröffnet eine neue Welt.