Ich will Teil einer Bewegung sein
Es fehlt an Geld, nicht aber an Möglichkeiten. Musik-journalistin Alice Galizia über komplizierte Zeiten und den Zwiespalt beim Schreiben über Pop.
Ich habe nicht mehr viel wegbrechen sehen. 2018 fing ich bei der WOZ als Praktikantin im Kulturressort an, 2018 starb die Spex, die für den deutschsprachigen Raum jahrzehntelang wichtigste Popzeitschrift – zwei Jahre sollte sie noch online vor sich hindümpeln, bis auch damit fertig war. Im April 2019 meine erste Popkritik, über das Album «Brutal» der Tessiner Musikerin Camilla Sparksss. Das taumelnde Gefühl der Ahnungslosigkeit, wie ich das Album zwanzig, dreissig Mal hintereinander höre, auf Kopfhörern im Zug Bern–Zürich–Bern, zu Hause in meinem Zimmer über die Lautsprecher. Ich verstehe überhaupt nichts, wie kann ich das beschreiben? Bis heute weiss ich viele spezifische Begriffe nicht, habe keine Musikausbildung in irgendeiner Form absolviert, konnte beim Gitarrenspielen nie Noten lesen, beim Stepptanzen den Takt schlecht hören, habe alles immer der Spur nach gespielt und getanzt, ich hatte einfach Freude daran. Ansonsten: spicken, nachschauen, nachlesen – und lernen, dem eigenen Gefühl und den Bildern, die im Kopf entstehen, zu vertrauen. Sie zu beschreiben oder sie in mein Schreiben einfliessen zu lassen, am schönsten, wenn es vermeintlich einfach so ohne Zutun passiert.2019 hänge ich ein paar Vertretungsmonate bei der WOZ an, schreibe mehr, sicherer, probiere Dinge aus, steige beim Onlinekulturmagazin KSB ein. Ein anderes Schreiben, damals immer noch ein bisschen gonzofasziniert, aber vor allem: subjektiv, manchmal fahrig, dem Tempo des Nachtlebens folgend. Versuche, im Kollektiv zu schreiben, im Kollektiv zu leben. Alles verwächst in der Schreibküche, manchmal schwer zu entwirren, das Leben: müde und aufgekratzt, verliebt und vermessen, immer raus in der Nacht und tags darauf darüber schreiben, davon zehren. Das funktioniert, aber nicht immer gleich gut. Wie es mit dem KSB weitergeht, werden wir noch sehen.
Das stoische Loop
In der Schweiz gibt es zu dieser Zeit noch das Rockstar als eigenständiges Popmagazin, dem die Pandemie aber das Genick bricht: Das damals immerhin 16-jährige Printmagazin stellt 2020 den Druck ein, 2023 ist auch diese Onlinedümpelei zu Ende. Auch das Lyrics als einzige Schweizer Hip-Hop-Publikation wechselt 2019 vollständig ins Netz, im Juli 2024 wird die Plattform durch ihre Gründer, die sich nun ganz ihrer (natürlich viel lukrativeren) Werbeagentur widmen wollen, einer neuen Generation übergeben. Seither ist dort journalistisch nichts mehr passiert. Die in der Schweiz mittlerweile einzige Musikzeitung Loop existiert derweil seit 1997 immer noch stoisch in Print. Das ist erfreulich; eine jüngere und auch weiblichere, diversere Schreibe würde allerdings auch dieser Publikation guttun.Letztes Jahr sind wir erschrocken, als es hiess, Pitchfork, dieses ewige Onlinemusikmagazin, werde im Männermagazin GQ aufgehen. Erschrocken darüber, dass selbst eine so grosse, so internationale und so vermeintlich unerschütterliche Plattform einfach weggefegt werden kann. Erschrocken aber auch, dass uns das überhaupt so treffen konnte: Pitchfork war vor allem riesig, sowieso von Beginn weg neben einflussreich auch problematisch, und nur entfernt eine Referenz für das, was wir in der Nische machen wollen. Was passiert, wenn ein Riese fällt – und im sich lichtenden Schatten gar nicht mehr viel da ist, das jetzt gross spriessen könnte?Popkritik werde breiter und grösser, auch durch die Möglichkeit, auf Social Media relativ niederschwellig publizieren zu können, gab die New Yorker-Musikjournalistin Amanda Petrusich kürzlich dem Creative Independent zu Protokoll. Selbst Pitchfork hat schliesslich in den letzten Jahren einiges darangesetzt, das Feld auch für nicht weisse und nicht cismännliche Kritiker*innen zu öffnen. Petrusich sagt aber auch, dass diese Öffnung genau zu dem Zeitpunkt erfolgt ist, als die Branche vollends in eine Krise geriet: «(…) we had this moment in criticism where suddenly the job opened up to different backgrounds, people with different voices and points of view. It seems like that happened at the exact moment the whole industry sort of tanked. It’s so fucked that the minute the job started being possible for women and people of color was also right when you stopped being able to make a decent living at it.»
Die Branchenkrise in der Schweiz
In der Schweiz ist die Branchenkrise im Bereich Popkritik längst weit fortgeschritten: Es ist fast nichts mehr da. Die NZZ macht Popkritik bloss zu den Blockbustern, Beyoncé, Bad Bunny, Charli XCX, Childish Gambino, FKA Twigs, das aber immerhin ganz ordentlich. Republik? Wie der Rest von deren Feuilleton ziemlich spärlich. Bei Tamedia ist sowieso fast alles, was irgendwie Spass oder Aufschluss gebracht hätte, weggebulldozert, der Kulturteil kaum mehr als solcher zu erkennen. Wenn dann doch mal ein Poptext aus der Nische aufblitzt, wirkt er seltsam krumm in dieser Landschaft zwischen «Leben» und Lifestyle, Autowerbung und in die Schweiz gezügelten Texte aus der Süddeutschen. Dass man sich fragt: Was soll das hier? Wer will das lesen? Der Kleine Bund in Bern ist eine leise erfreuliche Ausnahme; dass auch dieser bald zusammengestrichen wird, scheint bei der Sparwut der TX Group kaum vermeidbar.2024 bin ich bei der WOZ acht Monate lang für die Popberichterstattung zuständig. Das ist ein schöner Job. Und immer wieder habe ich Mühe: Worüber schreiben, wenn man sich im beinahe luftleeren Raum befindet? Wenn man sich nirgends einordnen kann, hat die eigene Auswahl auf einmal viel zu viel Gewicht. Gerade, wenn ich aus der Nische schreiben will, stellt sich diese Frage: Warum darüber? Wieso wähle ich das aus, wo es doch so viele andere Alben, Künstler*innen, Strömungen, Phänomene gäbe, die den Platz ebenso verdient hätten? Es verdirbt einem den Spass an der Sache, wenn man sich nicht auf andere beziehen kann.Die Frage, wie wir kollektiv arbeiten können, kollektiv schreiben, kollektiv publizieren: Diese Frage bleibt, vielleicht umso mehr, da die klassische Popkritik – die auch vom Bild des einsamen Journalistengenies gelebt hat – in der Krise steckt. Wenn es Pitchfork nicht mehr gibt, wenn die Schweizer Popberichterstattung kaum mehr als Brachland ist, kann das auch Platz für Neues bedeuten. Die Frage ist nur, wie wir die Energie aufbringen, diesen Platz zu bespielen. Und das Geld. Klar ist, dass viel von dem, was ich geschrieben habe und heute schreibe, nicht am Schreibtisch und sowieso nicht allein entstanden ist. An diesem Text haben auch die Gedanken von zum Beispiel Urs, Janica, Mirko, Daniela, Benedikt, David, Amanda Petrusich, Simon Baumann, Aida Baghernejad, Sarah Burke und Antonia Baum teil, direkter und auch weniger direkt: Niemand macht oder denkt etwas alleine. Bei der WOZ wars oft das Fumoir; jetzt, da ich als Freie arbeite, fehlt es mir – und dann ist es halt die Beiz oder ein Konzertlokal oder der Küchentisch, wo Ideen entstehen oder, ebenso wichtig, bald verworfen werden. Gegen das Alleinsein beim Schreiben hilft das Lesen und das Reden. Und natürlich ist sehr viel von dem, was ich mache, auf die eine oder andere Art immer auch inspiriert, bewegt, beeinflusst, abgeschaut, durchdrungen von anderen. Das ist ein alter Gedanke. Auch er ist kollektiv entstanden.
Schreiben mit der Gang
So banal: Ich brauche meine Gang. Wie ich über Musik nachdenke und in der Folge also auch schreibe, hat viel zu tun mit den Leuten, mit denen ich mir diese Musik anhöre; sie helfen mir beim Einordnen und Kontextualisieren, manchmal auch beim Bewerten, wenn es unbedingt nötig ist. Zusammen Musik hören: Das heisst im Schnitt pro Woche ungefähr drei bis vier Konzerte, DJ-Anlässe, Live-Radio. Festivalwochen sind die besten, sich mehrere Tage aneinander eins nach dem andern reinziehen, mit vielen Pausen dazwischen, manchmal eins verpassen, sich hinterher darüber ärgern. Draussen kurz darüber reden, streifen, aber nicht zu viel. Leute treffen, über andere Dinge reden, wieder rein, an die Bar, irgendwann nach Hause gehen oder ins Zelt, am nächsten Tag wieder auf und weiter. So will ich eigentlich immer Musik hören, aber es ist wahrscheinlich gut, dass das Leben nicht nur auf diese Weise stattfindet. Mein liebstes popjournalistisches Unterfangen, 2019 drei Tage Bad Bonn Kilbi für KSB livetickern, bächeschwitzend nachmittags im Pressecontainer und kichernd im Dunkeln auf dem Zeltplatz. Alles direkt raus in die Welt, furchtbar schön und peinlich, wie es sein soll.Die alte Gatekeeperdiskussion ist in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund gerückt: So viel Information über praktisch jede Band und jede*n Musiker*in, die durch das Internet für alle einfach so zugänglich ist. Eigentlich ist das eine gute Entwicklung, denn eigentlich bedeutet das: Es braucht mehr Kritik, nicht weniger. Zum Einordnen, um sich einen Überblick im Dickicht zu verschaffen. Das sagt auch Musikjournalistin Petrusich: «When I was coming up, [criticism] was more antagonistic. There was this sense of objective authority threaded into the critic’s voice. There’s less of a tolerance for that now. Part of that has gone away with the idea of critics being purely gatekeepers of information. Now you can learn everything about a band in five minutes. That’s a good change. It makes criticism more complicated and exciting when it hinges less upon some grand qualitative judgement of good or bad.»
Auch das banal: Komplizierte Zeiten sind für das Schreiben gut. 2025 stellt sich deswegen vor allem die Frage, wie wir ohne komplette Selbstausbeutung weitermachen können. Denn es fehlt das Geld, aber nicht die Möglichkeiten.