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N°1/2021
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Heiss laufende Faktenmaschine

Nein, nicht Corona, hier geht es um einen viel grundsätzlicheren Trend. Nennen wir es eine grosse gesellschaftliche Feigheit. Es geht um die wunderbare Konjunktur der Expertise – also Fachwissen, Studien, quantifizierbare Beurteilungen komplexer Sachverhalte. Und um ihre Produzent*innen: die Expert*innen. Sowie die Produktionsbedingungen, gesellschaftlicher wie ökonomischer Art.  

Fangen wir doch mal mit ein wenig Etymologie an. Wo kommt er eigentlich her, der Experte? Ursprünglich meinte man damit einfach einen kundigen Menschen: «expert (n.), early 15c., ‹person wise through experience› […]. The word reappeared 1825 in the legal sense, ‹person who, by virtue of special acquired knowledge or experience on a subject, presumably not within the knowledge of men generally, may testify in a court of justice to matters of opinion thereon, as distinguished from ordinary witnesses, who can in general testify only to facts›.»1 Das Spannende dabei: Der Wortherkunft nach ging es da um explizit empirisches, durch Erfahrung erlangtes (und insofern notorisch unzuverlässiges) Wissen. Und um «matters of opinion». Meinungen also. Ob das Gericht solcher Expertise einfach in jedem Fall folgte, damals? Wohl kaum, es scheint sich einfach um Hilfswissen gehandelt zu haben, um einen Puzzlestein unter vielen in der Urteilsfindung. Welcher Richter hätte heute noch den Mut, gegen ein Expertengutachten zu entscheiden? Da hat sich offenbar etwas verschoben im Charakter der Expertise. 

Um es mal als grosse These zu formulieren: Man kann einen anhaltenden Trend beobachten weg vom subjektiven und hin zum objektiven Wissen. Und zwar für ein breites Spektrum von Entscheidungsprozessen: politisch, sozial, juristisch, ökonomisch, kulturpolitisch. Überall werden Entscheidungen standardisiert, an quantitative Parameter geknüpft, mit Gutachten unterfüttert, von Studienergebnissen abhängig gemacht. Projekte werden normierten Verfahren unterworfen, Wirkungsziele definiert, der Erfolg des Ganzen evaluiert. Und immer wird dabei implizit einer objektiven Wahrheit hofiert, die unbedingt einer subjektiven Einschätzung vorzuziehen ist. 

Aber was meinen wir eigentlich genau mit dieser «Objektivität»? Die beiden Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison haben 2007 eine sehr lesenswerte «Geschichte der Objektivität» vorgelegt. Das Erhellende an diesem Buch ist eben die Historizität des Begriffs des Objektiven. Und insofern auch seine Kontingenz. Objektivität an sich gibt es nicht, sie musste sich immer erst behaupten gegenüber einer Subjektivität, die irgendwie als defizitär, als ungenügend für die Betrachtung der Natur angesehen wurde. Die Geschichte von Daston und Galison verläuft sich irgendwann im 20. Jahrhundert, man könnte sagen: In der jüngeren (Natur-)Wissenschaft ist die Beziehung zu absoluten Wahrheiten ein wenig kompliziert geworden. Man kann das Narrativ aber ohne Weiteres noch weiterspinnen, über die Wissenschaftsgeschichte hinaus: Die Expert*innen als Produzent*innen und Hüter*innen des objektiven Wissens haben eine ganz eigene Karriere gemacht, fern der molekularbiologischen Labore und Teilchenbeschleunigerkathedralen. Expertise ist überall, Objektivität hat Konjunktur wie nie. Das hat weniger mit der philosophischen Durchschlagskraft des Objektiven zu tun und mehr mit einer Krise der Subjektivität. Kulturjury-Entscheide, juristische Verfahren, Beschaffungswettbewerbe für neue Trams: Überall versucht man, sich mit Gutachten, Rastern, Berechnungen abzusichern. Hinzustehen und mit grosser Gelassenheit zu sagen, dass ein Entscheid natürlich sehr subjektiv gefallen ist: Wer traut sich das heute noch? Man muss immer in der Lage sein, einer (wenn auch meist nur schemenhaft auftauchenden) Gesellschaft gegenüber Rechenschaft abzulegen. Das Englische ist hier wieder sehr entlarvend: «To be held accountable» – damit kommt der tiefere Grund des Trends zum Vorschein: der Siegeszug des ökonomischen Denkens und der Management-Prämisse. Oder um ein geflügeltes Wort aus dieser Sphäre zu zitieren: «What cannot be measured, cannot be managed.» Und die Fachleute des allgemeinen Messwesens sind nun einmal die Expert*innen. 

Was den Hochschulen natürlich nicht ungelegen kommt, in Zeiten ökonomisch geprägter Erfolgsrechnungen: Wer mit Expert*innen aufwarten kann, die relevante Expertisen zu produzieren vermögen, hat gute Karten in der Hand, wenn jeder Steuerfranken dreimal umgedreht wird, wenn man sich immer rechtfertigen können muss, warum man dies und jenes tut, anderes aber lässt. Dabei wäre die Frage mehr denn je drängend: Welche Aufgabe haben die Expert*innen in der Gesellschaft? Brauchen wir Expertise, die sogleich anwendbar ist? Brauchen wir eher «persons wise through experience», um schwierige Probleme wie die Migration anzugehen, oder brauchen wir gut portionierbare, objektiv konfektionierte, abendnachrichtentaugliche Studienergebnisse? 

Übrigens: Aus Wissenschaftskreisen ist zurzeit immer öfter die Sorge zu hören, das öffentliche Vertrauen in Expert*innen erodiere, eine gefährliche Tendenz, der man dringend entgegentreten müsse – sei es mit Anti-Fake-News-Automaten oder mit Verschwörungstheoretiker-Bashing. Wenn man Studien glauben will (o.k., hier beisst sich der Hund in den Schwanz), dann lässt sich diese Sorge nirgends erhärten. Das Bedürfnis nach (und auch das Vertrauen in) Expertise war wohl noch nie so gross wie heute, das stellen Umfragen immer wieder fest. Was tut man also, wenn ein Geschäft ordentlich läuft und man trotzdem die Nachfrage ankurbeln will? Man redet den Konsument*innen ein, dass sie noch lange nicht genug von der begehrten Ware haben. Man konstruiert einen Mangel. Noch ein wenig besser funktioniert eine andere Masche: Man forciert die Obsoleszenz. Das bringt die Faktenmaschinen auf Touren. Und sie müssen laufen und laufen und laufen.