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N°1/2023
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Gespräch mit einer Katze

Martin Städeli, Web-Publisher der HKB und Autor, spricht mit einer Katze über Absichten und das Sichvergessen.

Text

Web-Publisher der HKB und Autor

«Was machst du da?»

Ich schreckte auf. Das Fenster stand offen. Auf dem Fensterbrett lag die Katze meiner Nachbarin. Die Vorderpfoten hielt sie eingerollt unter dem Brustfell. Mit halb geschlossenen Augen sah sie mich an.

Ich murmelte etwas wie: «Wasistachsodubistessoso.»

«Ich habe dir zugeschaut», sagte die Katze.

«Ich mag nicht, wenn man mich beobachtet.»

«Ich sagte ‹zuschauen›», entgegnete die Katze. Sie hatte ein schwarz-weiss-rot gemustertes Fell. «Schildpatt» heisse das Muster, hat mir jemand kürzlich erklärt. Katzen mit dieser Fellfarbe seien besonders eigenwillig.

«Ich mag auch nicht, wenn man mir zuschaut – vor allem nicht heimlich.»

«Am offenen Fenster mit einem Meter Abstand scheint mir nicht besonders heimlich. Ich bin vorbeigekommen, habe mich hingesetzt und dann hingelegt. Aber du hast mich nicht bemerkt.»

Auf einem Baum in der Nähe sang eine Amsel. Die Schwanzspitze der Katze zuckte.

«Ich war mit meinen Gedanken anderswo», sagte ich.

«Wo denn?»

«Pfff … was weiss ich … weit weg halt … oder eigentlich ganz nah – bei mir.»

«Bei dir?», fragte die Katze.

«Ja. Ganz bei mir.»

«Du bist doch immer bei dir.»

«Nun … also … grundsätzlich schon … nur anders … aber manchmal bin ich eben vertieft.»

«Vertieft», wiederholte die Katze. Und sie verunsicherte mich.

«Ja, vertieft. Manchmal bin ich ganz in eine Sache vertieft, aber dann bin ich nicht bei mir. Und manchmal bin ich ganz bei mir, aber nicht bei der Sache. Verstehst du?»

Die Katze drückte die Augen zu und dachte nach. Als sie die Augen wieder öffnete, hatten sich ihre Pupillen fast zu Strichen verengt.

«Das kann ich nicht behaupten», sagte sie.

«Und manchmal bin ich ganz bei der Sache und bei mir. Das ist anstrengend. Und erholsam.»

Ein Auto fuhr vorüber. Die Katze sah mich unverwandt an.

«Das ist alles interessant. Aber das beantwortet meine Frage nicht: Was hast du eben gemacht? Du hast die ganze Zeit auf das Papier gestarrt und nicht bemerkt, dass dir jemand zusch… dass ich in deiner Nähe bin.»

«Weshalb stellst du mir diese Fragen?»

«Katzen sind neugierige Tiere. Das solltest du eigentlich wissen, wenn du schon eine Katze in einem deiner Texte auftreten lässt.»

«Ich habe nachgedacht», beantwortete ich die Frage der Katze. Ich versuchte, mich zu erinnern, worüber ich nachgedacht hatte. «Ich habe überlegt, wie man es am besten schreibt, wenn eine Katze auf der Fensterbank in der Sonne liegt und die Vorderpfoten unter dem Brustfell eingerollt hat.»

«Tatsächlich. Die Sonne scheint. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.»

«Ich hatte es auch noch nicht geschrieben.» Ein Wort fiel mir ein. «Vielleicht heisst es besser ‹versteckt› als ‹eingerollt›. Aber das trifft es auch nicht ganz.»

«Genauigkeit scheint wichtig zu sein.»

«Sie ist wichtig … naja, eigentlich nicht … aber sie ist trotzdem wichtig.»

«Ein solches Durcheinander können nur Menschen anrichten: Es ist nicht wichtig, aber trotzdem wichtig; es ist anstrengend und zugleich erholsam.»

Die Katze wandte unvermittelt den Kopf. Mit aufgerichteten Ohren blickte sie zum benachbarten Haus hinüber. Ich sah und hörte nichts Besonderes. Gleich darauf sah sie wieder zum Fenster herein.

«Wozu ist es wichtig?»

«Wie ‹wozu›?»

«Menschen bezwecken immer etwas.»

«Das stimmt nicht.»

Die Katze legte sich auf die Seite, streckte genüsslich die Vorderbeine und liess die Krallen sehen. Dann drehte sie sich zurück und stemmte sich hoch. Sie schien entspannt und doch bereit für eine schnelle Bewegung. Der Schwanz lag eng am Körper. Die Spitze deckte die Vorderpfoten.

«Sie machen Kleider, um nicht zu frieren; sie legen sich an den Strand, um braun zu werden; sie rennen durch den Wald, um gesund zu bleiben.»

«Das hier, wobei du mir heimlich zugesehen hast, mache ich ohne Absicht.»

«Warum?»

«Siehst du. Du fragst nicht mehr nach dem Zweck, sondern nach dem Grund. Also haben Menschen doch nicht bei allem eine Absicht.»

«Also: Du starrst minutenlang freiwillig und absichtslos auf ein Papier.»

«Ja.» Ich versuchte überzeugt zu wirken. «Weil … weil ich es will, darf und kann und ganz bei mir bin.»

Durch das offene Fenster trug ein warmes Wehen den Geruch der Linde von der anderen Strassenseite herüber.

«Riechst du das?», fragte ich die Katze.

«Ja. Und?»

Wie ist das genau, fragte ich mich, wenn der Wind, ein leichter, aber stetiger Wind, die Blätter der Linde bewegt und einen flüchtigen Geruch mitführt? Und worin unterscheidet sich – denn ich finde, es gibt einen Unterschied – das Rascheln grüner Blätter, wenn sie sich an den Zweigen bewegen, vom Rascheln dürrer Blätter, die sich am Boden in Wirbeln drehen? Ich vergass die Katze.