Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°4/2023
i

Gärten und Kinder

Zur Lebenszeit von Alma de l’Aigle kollidierten Vorstellungen von Kindheit und Kind-Sein, autoritäre Erziehungsideale und reformpädagogische Ansätze. Die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention war weder angedacht noch geschrieben. De lʼAigle wurde 100 Jahre früher in Hamburg geboren. Sie starb 1959, dreissig Jahre zu früh, um zu erleben, dass Rechte von Kindern, für die sie sich eingesetzt hatte, gesetzlich verankert wurden.

Text

Autorin, Dozentin und Kunstwissenschaftlerin in Basel

Alma de l’Aigle absolvierte zwischen 1905 und 1909 in Hamburg eine Ausbildung als Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen. Sie lernte autoritäre Formen der Wissensvermittlung und einen entsprechenden Lehrbetrieb, in dem Strafe und Demütigungen Alltag sind, kennen. Dazu ging sie auf Distanz. Zeit und Aufmerksamkeit widmete sie Kindern anders, weniger doktrinär reglementiert und sammelte Erfahrungen. Sie arbeitete als Erzieherin, gab Privatstunden und übernahm Vertretungen an Hilfs- und Normalschulen. 1912 fasste sie den Entschluss, in den öffentlichen Schuldienst einzutreten und begann an einer Hilfsschule zu unterrichten, in der Werkarbeit einen Teil des Curriculums ausmachte. Sie verfolgte ihre Interessen an Kinderpsychologie und belegte Kurse in Tischlern, Bildhauerei und Malerei an der Staatlichen Kunstgewerbeschule.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch der Monarchie und der Einführung des Frauenwahlrechts setzte eine nächste Phase in Alma de l’Aigles Leben ein. Sie schloss sich der Jugendbewegung an und engagierte sich im Kreis der Jungsozialist*innen. Auf der Tagung 1923 in Hofgeismar hielt sie einen Vortrag über Volk und Staat. Sie führte ihr Verständnis von Demokratie aus, bei dem die Idee des «Volkes» durch die Vielfalt an Menschen vermittels des Staats als Funktion Gestalt wurde. 1924 liess sie sich an eine neu geschaffene Versuchsschule versetzen, die von der Hamburger Lehrerschaft als ein Resultat von Bestrebungen zu einer grundsätzlichen Schulreform geschaffen wurde. «Kultur als Beseelung der Dinge» ist eine von ihr formulierte Aussage. Zwischen 1926 und 1927 absolvierte sie eine Zusatzausbildung als technische Lehrerin und wechselte an eine Volksschule im Arbeiterstadtteil Hammerbrook.

Exemplarischer Einsatz und Dokumentation
1936 erhielt sie ihre erste eigene Klasse: «Die Kinder in ihrer Echtheit zu bewahren, das war mein stärkstes Anliegen (…) Immer mehr nahm der totale Krieg auch das Schulleben in Anspruch». 1940 musste sie die insgesamt 42 Mädchen gegen ihren Willen und denjenigen der Eltern abgeben. Zwischen 1940 und 1944 schuf sie durch Schreib- und Lesekurse, Besuche von Kirchen, Theatern, Museen, Konzerten, Exkursionen in Parkanlagen zu jeder Jahreszeit Bedingungen, dass die Kinder ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen konnten.
Über Rituale wie die «Sonntagsblume» schulte und interessierte sie Kinder dafür, Achtung und Respekt vor anderen Menschen und der natürlichen Umwelt zu entwickeln. Alma de l’Aigle erreichte, dass Pflanzen und Tiere für ihre Schulkinder erlebtes Wissen waren, das auf Beobachtungen fusste, die gemeinsam gemacht und diskutiert wurden. 1944 wurde sie auf eine halbe Stelle in der Bücherei des Pädagogischen Instituts versetzt und vom Oberschulrat dazu angeregt, einen Bericht über diese Klasse zu verfassen. Ihr Bericht ist bis heute unveröffentlicht, das Manuskript Eine Schulklasse erlebt Zeit und Ewigkeit wird als Teil ihres Nachlasses im Bundesarchiv in Koblenz aufbewahrt.1

Das zweite Lebensthema
1948 erschien der Roman Ein Garten aus dem Themenkreis Gärten, dem neben Kindern zweiten Lebensthema von Alma de l’Aigle. Er beginnt unter der Erde, in einer Gemüsegrube, wo Wurzeln, Kohl und Lauch aus dem elterlichen Garten frostfrei aufbewahrt wurden. Aus der Perspektive des Kindes und seines Körpers in dieser Umgebung, die es mit kleinem Getier teilt, wird der Blick über den vermoosten Rasengrund und einen Schachtelhalmspross an die Oberfläche geleitet. Es träumt sich in miniaturisierter Form in diese Welt, wo Tautropfen die ganze Farbigkeit der Welt in sich bergen. Alma de l’Aigle begleitet das Kind und die Lesenden spielerisch aus der Grube. Die Suche des Kindes nach dem Vater im Obstgarten eröffnet ihr den Raum, die Geschichte zu erzählen, wie das drei preussische Morgen grosse Stück während der Zeit der Bodenspekulation zu einem Garten verwandelt wurde. Was folgt, ist ein Porträt dieses Gartens durch alle Jahreszeiten in sechs Kapiteln. In jedem Kapitel wird umfassendes Wissen über Obstsorten, von der Blüte über die Ernte bis zur Zubereitung und Lagerung, sowie über Gartenpflege auf sinnliche Weise aufbereitet und erschlossen. Ein halbes Jahrhundert später dient genau diese Grube den Menschen als Bunker, um sich vor Luftangriffen zu schützen. Die jüngste Neuausgabe ist 2019 in der Reihe Naturkunden zusammen mit einem präzise recherchierten Nachwort von Brita Reimers erschienen.2In der Erinnerung spricht bisher nur ein Teil derjenigen mit, die sich dafür eingesetzt haben, Kinder an Bildung und Kultur teilhaben zu lassen. Dieses Phänomen findet sich in anderen Gebieten der Geschichtsforschung auf vergleichbare Weise in unterschiedlicher Intensität. Es gibt kein Argument, es für künftige Generationen bei diesen blinden Flecken zu belassen. Sie resultieren zumeist daraus, etablierte Machtstrukturen fortzuschreiben, statt kritisch zu fragen, welches Wissen fehlt sowie wem sie nützen und wem nicht. In diese Asymmetrien ist Bewegung gekommen und das Bewusstsein gewachsen, dass eine Rekalibrierung notwendig ist. Alma de l’Aigle ist ein Beispiel dafür, welche Kenntnisse fehlen, wenn die systemische Geringschätzung sozialer Tätigkeiten, zivilgesellschaftlicher Engagements und von Berufen fortgeschrieben wird.Wer sind die Ahnen von Alma de l’Aigle und die Personen, die sich heute weltweit für Kinder einsetzen? Welche Alternativen zu Kindern als künftige Konsument*innen, Arbeitnehmer*innen zeigen sie auf, im Wissen um das, was Kinderrechten heute entgegensteht? Diese Fragen zu stellen und nach Quellen zu suchen, ist ein Anfang. Kollaborativ, partizipativ, mit dem Knowhow und der Unterstützung von Hochschulen bekommt dieser Prozess mehr Gewicht.