«Für eine nachhaltige Zukunft und soziale Gerechtigkeit ist Erben und Besitz ein Problem.»
Wohnen ist ein immanent privates und zugleich hochpolitisches Thema. Am Roundtable der HKB-Zeitung tauschen Simon Baumann (Filmemacher, Alumnus HKB), Aro Brägger (Alumni*ae Viskom) und Stanislas Zimmermann (Studiengangsleiter Master Architektur BFH) ihre Erfahrungen und Perspektiven im Spannungsfeld Wohneigentum, Erben, Privilegien, Städtebau und Aktivismus aus.
Bitte stellt euch in ein paar Sätzen kurz vor.
Stanislas Zimmermann: Mein Name ist Stanislas Zimmermann. Ich bin Architekt und hier im Stadtlabor Biel Studiengangsleiter für den Master Architektur. Mit Valérie Jomini betreibe ich das Architekturbüro jomini & zimmermann in Zürich, welches sich mit dem regenerativen Bauen befasst.
Simon Baumann: Ich bin Simon Baumann und mache Dokumentarfilme. Mein neuester Film heisst Wir Erben. Mein letzter Film hiess Zum Beispiel Suberg und erschien 2013. Ich lebe in Suberg und die beiden Filme haben auch mit meinem Wohnort zu tun. Ich habe zusammen mit einem Kollegen eine Filmproduktionsfirma, die hier in Biel angesiedelt ist, arbeite aber meist von zu Hause aus.
Aro Brägger: Ich nenne mich Aro und ich habe letzten Sommer an der HKB den Bachelor Visuelle Kommunikation abgeschlossen. Seither bin ich selbstständig unterwegs, mache verschiedene gestalterische Sachen und handwerkliche Arbeiten im Bereich Holzbau und Keramik.

Inwiefern hast du dich mit der Thematik Wohnraum beschäftigt?
AB: Wohnen ist ein zentrales Thema. Wir alle wohnen, egal, wo und in welchem Zustand. Ich habe schon in vielen verschiedenen Wohnformen gelebt. Es war naheliegend, dass ich meine Bachelorarbeit zu einem Thema mache, welches mich politisch, aber auch persönlich interessiert und auch längerfristig interessieren wird. Bei Wie wohnst du? entstand zuerst die Theoriearbeit. Dabei habe ich probiert einzuordnen, woher mein Interesse kommt, wie ich wohne, welches meine Fragen sind, wer alles ein Recht auf Wohnen hat, was vielleicht ein bisschen vergessen geht, wem eine Stadt gehört oder für wen Wohnraum geschaffen wird. Genossenschaften habe ich kritisch angeschaut. Beim Wohnen wird viel privatisiert, aber es ist eigentlich eine gesellschaftliche Frage. Weiter interessiert mich beim Thema Wohnen das Kollektiv oder das Potenzial einer Gemeinschaft. Nach der Theoriearbeit als Einstieg habe ich eine riesige Recherche gemacht und mich darin total verloren. In der Praxisarbeit ging es dann um kollektive, selbstorganisierte Wohnformen in Schweizer Städten. Ich habe sehr viele Leute befragt und massenhaft Material gesammelt.
SZ: Im letzten Semester haben wir mit Architekturstudent*innen ein Projekt gemacht eine Siedlung für studentisches Wohnen. Ein ehemaliger Student hat sich bei der Fachhochschule gemeldet. Er hat in der Nähe des Bahnhofs Biel ein Areal, auf dem er zu bauen angefangen hatte. Dann kam ein Autobahnprojekt, und er musste seine Baustelle stoppen. Es existiert seit 20 Jahren ein Parking, darauf möchte er studentisches Wohnen ermöglichen. Das Fundament ist vorhanden, aber noch keine Wohnungen. Die Studierenden sollen selbst Vorschläge erarbeiten, wie sie in Zukunft wohnen möchten.
SB: In meinem Film Wir Erben geht es darum, dass meine Eltern mir und meinem Bruder in Südwestfrankreich einen Hof vererben wollen, den sie vor 25 Jahren gekauft haben. Sie sind ausgewandert und haben den Hof auf nachhaltige Art betrieben und viel Herzblut investiert. Sie möchten nun, dass dieser Hof von uns weitergetragen wird. Eine schwierige Situation. Der Hof ist 1000 km von hier entfernt, ich bin kein Bauer und wir wollen nicht dorthin ziehen. Es gibt also viel zu reden in der Familie und diese Diskussionen sind Teil des Films. Immobilien sind mit Emotionen verbunden und in meinem Fall kommen Ideale dazu. Der Hof verkörpert den politischen Kampf meiner Eltern, steht symbolisch für ihr Lebenswerk. Mein Vater war für die Grünen, meine Mutter für die SP im Nationalrat. Sie haben auf dem Hof umgesetzt, wofür sie politisch gekämpft haben: eine ökologische Landwirtschaft und ein sparsames Leben.
«Für jüngere Menschen ist es nahezu unmöglich geworden, Wohneigentum zu erwerben, wenn man nicht erbt.»
Insofern ist der Film auch ein Versuch der Sichtbarmachung von Privilegien, die man in Bezug auf Wohnraum als Erbe hat. Gleichzeitig ist Erben auch immer Last, was im Film auch Thema ist.

Wie sieht das bei euch aus? Wie wohnt ihr?
SZ: Ich wohne in einem Mehrfamilienhaus in Zürich Wipkingen. Unsere Mietwohnung gehört einer Erbengemeinschaft mit drei Geschwistern, die dort aufgewachsen sind. Das Haus stammt von 1970, demselben Jahr, in dem ich geboren bin, und befindet sich noch weitgehend im Originalzustand. Es erinnert mich an die Zeit meiner Jugend und an meine Vergänglichkeit.
«Sobald die Erbengemeinschaft Eigenbedarf hat, fliegen wir raus.»
Dann müssen wir wahrscheinlich an den Stadtrand oder in eine andere Stadt ziehen, um eine bezahlbare Wohnung zu finden.

AB: Ich wohne etwa seit einem Jahr in Biel zusammen mit zwölf Menschen, fünf Hühnern, einer Katze und zwei Hunden sowie einem grossen Garten. Wir haben die WG neu gegründet. Klassisches Mietverhältnis, klassische Probleme mit der Immobilienfirma und der Besitzerin, welche die Stadt ist. Es sind Leute aus Biel, aus der Umgebung und von weiter her. Ich kannte vorher keine Person.
In Wir Erben ist von einem Privileg, Wohnraum zu erben, die Rede. Geht das Privileg in Ordnung?
SB: Erben ist ein vielschichtiger Vorgang. Beim materiellen Erbe stellt sich die Frage der Verteilgerechtigkeit und der Umverteilung. Wie gestalten wir die Steuerpolitik so, dass sich nicht dynastisch in einer Familie immer mehr anhäuft und andere über Generationen auf tiefem Niveau bleiben? Wir leben im Kapitalismus, der das Kapital begünstigt, und dieses wächst viel schneller als das, was wir mit Arbeitsleistung erwirtschaften. Weil in den letzten Jahrzehnten die Erbschaftssteuer immer mehr gesenkt wurde, findet kaum mehr Umverteilung statt. Vor dem Einmarsch der Franzosen in die Schweiz 1798 gehörte im Stadtstaat Bern alles Eigentum 50 bis 70 Familien. Alle anderen bezahlten diesen Familien Abgaben. Unter dem Eindruck dieser dunklen Zeit forderten die Vordenker*innen der Demokratie hohe Erbschaftssteuern, die dann auch eingeführt wurden. Die Erbschaftssteuer ist umstritten, wurde aber bis in die 1990er-Jahre sogar von der FDP befürwortet, als Tool, welches wir brauchen, um eine gewisse Chancengleichheit zu erreichen. Im Rahmen von Steuer- und Standortwettbewerb sowie dem Wunsch, als Wohnsitzland für reiche Leute attraktiv zu sein, hat man die Erbschaftssteuer immer mehr gesenkt. Dadurch öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr.
SZ: Sinnvoller scheint mir gemeinschaftlicher Besitz. Meine erste Atelierwohnung nach dem Studium befand sich in einer Fabrikgenossenschaft. Eine ehemalige Motorenfabrik in der Industriezone wurde zu einem Atelierhaus umgenutzt. Die Besitzer*innen sind gleichzeitig die Nutzer*innen und bestimmen die Umbauten und Sanierungen selbst. Niemand erwirtschaftet einen Gewinn und alle können günstig wohnen oder arbeiten.
AB: Solche Initiativen sind super, aber nur für eine bestimmte, sehr geschlossene Gemeinschaft zugänglich. Grosse Immobilienkonzerne, die wirklich angeprangert werden sollten, müssen nicht in der Verantwortung stehen, weil die Wohnfrage privat gemacht wird.
Ist das auch deine vorhin angetönte Kritik auf das genossenschaftliche Modell?
AB: Ja schon, weil es sehr oft als die subversive Lösung präsentiert wird, durchaus gute Bedingungen für gewisse Menschen schafft und teilweise auch ein Verteilmechanismus mitgedacht wird, dass es vielleicht ein paar Wohnungen für Leute mit geringerem Einkommen gibt. Trotzdem muss man bedenken, dass sehr viele Leute davon ausgeschlossen sind.
SZ: In den grösseren Städten ist Boden durch die Spekulation so teuer geworden, dass man auch mit einer Genossenschaft kaum noch ein Haus kaufen kann. Heute ist dies nur noch an abgelegenen Orten möglich, wo der Boden und die Häuser bezahlbar sind.
SB: Ich war vor zwei Wochen zum ersten Mal in Wien. Die Stadt besitzt und verwaltet über 220 000 Wohnungen selbst. In Wien lebt fast jede zweite Person in einer öffentlich geförderten oder kommunalen Wohnung. Dieser hohe Anteil wirkt als Stabilisator auf den gesamten Wohnungsmarkt. Mieten steigen deutlich langsamer als zum Beispiel in Zürich.
SZ: Dort gab es nach dem Ersten Weltkrieg eine grosse Wohnungsnot und die Stadt führte eine Liegenschaftssteuer ein, mit der sie Boden kaufen und Wohnbauten erstellen konnte. Die meisten Gebäude, die Gemeindebauten, gehören der Stadt und ein kleinerer Teil wurde von Genossenschaften im Baurecht erstellt. Wien ist heute die europäische Grossstadt mit dem besten Wohnungsangebot.
Wenn es der Stadt gehört, ist der Gestaltungsfreiraum eingeschränkt. Es ist einfach ein*e andere*r Vermieter*in, aber die Abhängigkeit ist immer noch dieselbe.
SB: Ich habe in Wien lange mit einem Taxifahrer gesprochen, der sagte, er könne es sich nicht mehr leisten, im Zentrum zu wohnen, da die Mieten auch erhöht worden seien. Trotzdem kann die Stadt Einfluss auf den Markt nehmen, kann ihn bremsen. Die Situation ist viel besser als in Zürich oder Genf. Wenn man die Frage stellt, warum Städte nicht Wohnraum kaufen und ihn den Leuten günstig zur Verfügung stellen, heisst es, wir können uns das nicht leisten.
SZ: In Zürich wurde eine Volksabstimmung angenommen, die verlangt, dass ein Drittel des Wohnraums gemeinnützig werden soll. Heute ist es erst ein Viertel. Die Stadt versucht daher, Boden und Gebäude zu kaufen, aber die Preise sind sehr hoch und es ist fast nichts auf dem Markt.
SB: Da könnte eine Erbschaftssteuer helfen, aber die Städte können eine solche nicht einführen. In Zürich wäre wahrscheinlich ein grosser Teil der Bevölkerung sogar dafür, aber die Steuerhoheit bezüglich der Erbschaftssteuer liegt beim Kanton. Damit könnte man sehr viel regulieren. Es ist doch ungerecht, wenn eine Familie zehn oder 20 Wohnungen hat, diese an die Kinder weitergibt und absolut nichts der Stadt abgeben muss. Würde man ab einem bestimmten Freibetrag von vielleicht einer oder zwei Millionen eine Erbschaftssteuer einführen, brächte das der Stadt sehr viel Geld, welches man wieder in sozialen Wohnungsbau oder -kauf investieren könnte.
SZ: Bis in die 1970er-Jahre gab es in Frankreich und den USA hohe Erbschaftssteuern, um die Vermögensungleichheit zu reduzieren.
Wir sind uns offenbar darin einig, dass man die Erbschaftssteuer erhöhen müsste.
SZ: Es gibt noch radikalere Massnahmen. Der Kanton Waadt hat ein Vorkaufsrecht eingeführt. Wenn Land oder Liegenschaften verkauft werden, können die Waadtländer Gemeinden das Vorkaufsrecht geltend machen. Der Preis bleibt so hoch wie vorher ausgehandelt wurde, was Missbrauchspotenzial birgt.
Die Stadt Genf hat ein Besetzungsrecht. Solange ein Bauvorhaben nicht angefangen worden ist, können Besetzer*innen nicht hinausgeworfen werden. Wir sprechen hier über Möglichkeiten, was beim Wohnbau ändern muss, damit es sich mehr in Richtung einer sozialen Gerechtigkeit entwickelt. Genossenschaften haben wir als Möglichkeit bereits erwähnt. Simon, du hast Wien erwähnt, wo die Hälfte der Bevölkerung in städtischen oder subventionierten Wohnungen lebt. Gilt das auch für migrantische Menschen?
SB: Ja. Es gilt die Klausel, dass alle sozialen Schichten Zugang haben sollen. Auch mittelständische Personen, die ein bisschen mehr verdienen, weil sie die Durchmischung fördern wollen.
Genossenschaften sind auch Lückenbüsser, um ein bisschen das schlechte Gewissen zu beruhigen. Aro, was wäre der umfassende Ansatz, um das Problem zu lösen?
AB: Regulierungen, die national und global gelten. Es ist nicht nur in der Schweiz ein Problem. Es sind teilweise riesige Investmentfonds, Banken oder unsere Pensionskassen, die uns ausbeuten und Wohnen nicht als Existenzgrundlage betrachten, sondern als Ware. Es bräuchte Regulierungen wie Mietstoppbremsen, einen gewissen Prozentsatz an sozialem Wohnungsbau, einen klaren nachhaltigen und sozialen Fokus bei der Architekturausbildung, eine CO2-Steuer, eine Abrisssteuer oder eine Strafe für Leerstand. In Biel gibt es seit letztem Sommer ein Gesetz, dass Leerstand gemeldet werden muss, aber es gibt keine Kontrollinstanz, also ist es eigentlich ein Witz. Ich glaube, man könnte sehr viele Regulierungen durchsetzen, wenn der politische Wille da wäre.
SB: Ich würde die Schweiz demokratisch umbauen. Es kann doch nicht sein, dass Leute in Zürich einen grossen Leidensdruck haben mit zu hohen Mieten, Wohnungsnot usw. Damit sich dort in den Strukturen etwas ändern könnte, müsste der ganze Kanton oder je nachdem das ganze Land über Vorlagen mitentscheiden. Aber da stimmen Leute mit ab, die irgendwo in einem Landkanton wohnen, deren grösstes Problem der Wolf oder der Bär ist. Die Städte müssen mehr Autonomie haben, um zum Beispiel eine Erbschaftssteuer einführen zu können.
Es gilt, zu unterscheiden zwischen Dynastien, Firmen und Versicherungen, bei denen es um Immobilien als Ware geht, und zwischen Privatpersonen, bei denen es zwar ums Erben geht, aber in einer anderen Dimension und einem anderen Bezug. Simon, du hast in deinem Film von der Familiengeschichte deiner Mutter erzählt, dass diese aus eigentumslosen Arbeiter*innen bestand. Väterlicherseits gab es durch die Landarbeit einen Hof, womit doch eine gewisse Stabilität und Sicherheit herrschte. Erben ist stark mit Sicherheit verbunden.
SB: Ein Dach über dem Kopf gibt Sicherheit und wirkt sich auch auf unsere Psyche aus. Das Recht auf Wohnen sollte ein einklagbares Menschenrecht sein.
SZ: Man muss essen, man muss wohnen, von dem her gehört es zu den Grundrechten. Für mich ist die Situation mit der Wohnung, wo ich jederzeit hinausfliegen könnte, wenig beruhigend. Ich muss immer daran denken, wie ich dann eine Wohnung finden werde und in welchem Quartier oder in welcher Stadt diese sein wird.
Was findest du bezüglich mehr Regulierungen?
SZ: Ich sage eher anders regulieren. Es gibt die Zonenpläne, die einschränken. Es ist zum Beispiel nicht in allen Bauzonen möglich, ein altes Bürohaus als Wohnraum zu nutzen. Bei gewissen Dingen müssen die Gesetze vereinfacht werden, damit man an Orten Wohnraum schaffen kann, wo es heute noch nicht erlaubt ist. Grosse Diskussionen gibt es beim Lärmschutz. Starkbefahrene Strassen sind laut. Man darf dort keine Wohnungen bauen, weil der Lärmpegel zu hoch ist. Eigentlich müsste man die Geschwindigkeit reduzieren, damit man dort wohnen kann. In Zürich möchte die Stadt die Geschwindigkeit senken und Autos reduzieren wie in Paris, damit man an mehr Orten wohnen kann. Aber der Kanton will, dass man weiterhin mit 50 km/h mitten durch die Stadt fahren kann. Man sollte gemeinschaftliches Wohnen und flexiblere Zonenpläne ermöglichen sowie den Autolärm reduzieren. Dafür bräuchte es Gesetze, die die Geschwindigkeit reduzieren oder dafür sorgen, dass Autos nicht überall hinfahren dürften.
SB: Utopisch gedacht, sollten wir den Kapitalismus ganz anders auslegen, uns gemeinschaftlicher organisieren. Alles gehört allen – das wäre sehr reizvoll, aber wir leben ja ziemlich festgefahren und können nur im Kleinen ändern. Vielleicht würde es helfen, wenn mehr Leute wüssten, dass die Städte immer mehr den Immobilienriesen und Pensionskassen gehören. Woher haben die das Geld? Sie haben es von uns. Wir strampeln uns ab und viel von dem Geld, das wir verdienen, geben wir denen. Was machen sie mit diesem Geld? Sie bauen oder kaufen Wohnungen, die sie uns dann überteuert vermieten. Warum lassen wir uns das gefallen? In der Schweiz sind 60 Prozent Mieter*innen. Für die Pensionskasse ist es toll, wenn es so viele Mieter*innen gibt und so wenige Besitzer*innen. In der Französischen Revolution wurde Privateigentum als Instrument gesehen, den Leuten ein gewisses Mass an Freiheit zu ermöglichen und mehr umzuverteilen. Der Staat könnte das Wohneigentum wieder mehr fördern. Das würde heissen, dass man zum Beispiel einfacher an Kredite herankäme.
SZ: Gemeinsames Eigentum wie in einer Genossenschaft ist spannend. Mit einer Wohngenossenschaft können 20 Personen ein Haus kaufen, umbauen und dieses ist langfristig vor Spekulation geschützt. Sie können aushandeln, was sie genau brauchen, was saniert werden soll und was nicht. Es bräuchte mehr Boden und Gebäude, die günstig sind, damit man das machen kann. Der Staat könnte dies stärker unterstützen, so wie dies die Stadt Wien vorgemacht hat.
AB: Wer hat überhaupt Zugang zu einem selbstbestimmten Leben, einem sicheren Zuhause, zu Autonomie und Intimität, wo Wohnen überhaupt ein Schutz oder ein Ort der Erholung sein kann? Es werden viele Leute ausgeklammert. Ein Teil des Wohnens, der oft unsichtbar bleibt, sind die totalitären Orte des Wohnens. In der Schweiz gibt es Menschen, die in Asylcamps leben müssen und kein Recht auf selbstbestimmtes Wohnen haben, die jahrelang in so menschenunwürdiger Lage festgehalten werden.
«Wohnraum ist längst nicht für alle zugänglich. Der Aufenthaltsstatus, dein Einkommen, dein Alter, ob du alleinerziehend bist, dein Nachname und deine Hautfarbe spielen eine Rolle.»

SZ: Es wird auch die Bevölkerung verändern. In Zürich, wo die Wohnungskosten sehr schnell steigen, werden alle, die niedrige Löhne haben, verdrängt. Die müssen an den Stadtrand oder aus der Stadt ziehen, wodurch die soziale Durchmischung der Bevölkerung abnimmt. Seit dem Jahr 2000 ist in den Schulen im Kreis 5 der Ausländeranteil von 78 Prozent auf 25 Prozent gesunken.
Das ist das Lied, welches man von Biel immer hört. Biel ist zwar schön und bunt, Biel wird grösser, immer mehr Leute ziehen nach Biel, aber dummerweise nur solche, die fast nichts verdienen. Das Steuersubstrat wird in dieser Stadt nicht grösser, obwohl es viele Zuzügerinnen und Zuzüger gibt.
SZ: Interessanterweise kommen mehr Leute aus der Westschweiz. Der französischsprachige Teil der Bevölkerung nimmt zu und könnte bald in der Mehrheit sein. In Lausanne und Yverdon sind die Wohnungen so teuer geworden, dass man lieber von Biel aus pendelt.
Stanislas, du hast vorhin erzählt, dass du schon lange in deiner Wohnung lebst, dich sehr wohl fühlst und dass es wehtun würde, wenn du von dort wegziehen müsstest.
SZ: Ja. Du identifizierst dich mit dem Ort, baust ein lokales Netz auf. Mit der Zeit bist du so verwurzelt, dass du nicht mehr wegziehen willst. Wenn man in ein neues Quartier zieht, entdeckt man einen neuen Stadtteil, lernt neue Leute kennen. Der Ortswechsel bringt eine Horizonterweiterung, auch wenn er unfreiwillig erfolgt.
SB: Das ist das Schöne am Mieter*in-Sein. Ich leide manchmal darunter, dass ich als Hausbesitzer so stark verankert bin. Klar sagen die Leute, ich könnte mein Haus verkaufen oder vermieten. Aber das ist eben nicht so einfach. Mein Haus steht in Suberg neben dem elterlichen Bauernhof, auf dem ich aufgewachsen bin. 2010 haben wir es übernommen, mein Bruder hat den Hof übernommen. Das ist mit gegenseitigen Verträgen und Vorkaufsrechten so abgesichert, dass keiner von uns Gewinne rausschlagen kann. Es ist auch ein denkmalgeschütztes Haus und wir haben die letzten 15 Jahre viel Geld und Arbeit in Renovationen investiert. Wir sind mit diesem Haus so verbunden, dass wir denken, wir kommen da gar nicht mehr weg. Ein Stück weit bedauern wir es, dass Eigentum so verpflichtend ist. Es gibt eine interessante philosophische Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum. Besitz ist etwas, das ich zum Leben brauche. Ein Glas Wasser, damit ich trinken kann, ein Dach über dem Kopf, damit ich überleben kann, Kleider usw. Im Gegensatz dazu ist Eigentum ein abstraktes Konzept. Ich kann zum Beispiel den Hof in Frankreich mitbesitzen oder zehn Wohnungen in Zürich. Da wird es aus meiner Sicht moralisch fragwürdig. Besonders wenn das Eigentum geerbt ist.
SZ: Als Mieter bist du heute auch ein Stück weit gefangen, denn du findest nichts anderes zu diesem Preis. Wenn deine Kinder ausziehen, bleibst du, obwohl die Wohnung zu gross ist. Es gibt viele Menschen, die in zu kleinen oder zu grossen Wohnungen leben, weil auf dem Wohnungsmarkt nichts Bezahlbares mehr vorhanden ist. Daher ist man nicht nur als Hausbesitzer, sondern auch als
Mieter fixiert.
Aro, du hast erzählt, dass du deine Wohnsituation öfters gewechselt hast. Ist es bei dir auch so, dass du zum jeweiligen Ort eine Beziehung hast? Hat es dir jeweils wehgetan, wegzugehen?
AB: Ich habe an verschiedenen Orten gelebt, bin dann nach Biel zurückgekommen. Zu einer Wohnung oder zu einem Haus habe ich keine emotionale Verbindung. Es ist etwas recht Pragmatisches. Ich bin nicht an einem Punkt, wo ich mich binden möchte. Ich sehe ganz stark das Abhängigkeitsverhältnis und die Hierarchie in diesem Mietverhältnis. Es ist absurd, wie viel Geld wir für das Wohnen und die Krankenkasse ausgeben müssen. Mit der Gesundheitsversorgung und dem Wohnen dürfte kein Profit gemacht werden.
An diesem Tisch spielt das Alter eine Rolle. Die Perspektive auf das Wohnen ist stark abhängig von dem Punkt, an dem man im Leben steht. In meiner Erfahrung nimmt die Bedeutung des Raums, wo man sich daheim und geschützt fühlt, im Lauf des Lebens zu. Dadurch wird man weniger beweglich, mit Veränderungen umzugehen. Deshalb interessiert mich deine Perspektive. Wo und wie wohnst du in zehn Jahren?
AB: Diese Frage stelle ich mir weniger als noch vor zehn oder 15 Jahren. Damals hatte ich ganz andere Vorstellungen oder vielleicht auch gewisse soziale Prägungen von einem Verständnis von einer Familie. Damals hatte ich eine romantisierte Vorstellung von Kernfamiliendasein. Davon bin ich weggekommen. Darin sehe ich keine Zukunft für mich, sondern mehr in einer selbst gewählten Gemeinschaft. Ich sehe mich auch nicht gross anders leben als heute. Bestenfalls sind es mehr oder weniger ähnliche Leute, vielleicht kommen auch neue hinzu. Sicher wird es gewisse Veränderungen geben, aber es wäre ein grosses Bedürfnis, in meinem näheren Umfeld eine Gemeinschaft aufzubauen, auf die ich mich längerfristig auch verlassen kann, in der man auch gemeinsam alt werden kann. Das ist zwar sehr weit in die Zukunft gedacht, aber es ist auch etwas, was mir Sorgen bereitet. Wie gehen wir mit Menschen um, die alt werden? Ist es einfach die Lösung, dass man sie alle in ein Heim steckt? Da muss ich jetzt schon anfangen, gute Beziehungen aufzubauen und zu pflegen sowie radikale Fürsorge anzustreben.
SB: Interessant, dass du das Kernfamilienmodell infrage stellst. Ich glaube, dass das in deiner Generation immer mehr machen. Die bestehenden Wohnungen sind für klassische Familien gebaut. Ihr habt wahrscheinlich nicht viele Häuser zur Auswahl, die ihr zu zwölft mieten könnt. Beim Bauen und Renovieren von Häusern sollte heute mitberücksichtigt werden, dass es in Zukunft andere Konstellationen geben wird als die heutige Kernfamilie.
Wohnen ist auch eine Generationenfrage. Wo seht ihr euch in zehn Jahren?
SZ: Ich kann mir eine gemeinschaftliche Wohnform auch vorstellen. Heute habe ich eine Kleinfamilie. Unser 14-jähriger Sohn möchte eine WG eröffnen, sobald er 18 ist. Dann sind wir zu zweit in einer Wohnung, die zu gross ist. Wahrscheinlich suchen wir uns dann eine gemeinschaftliche Wohnform oder eine kleine Wohnung in einem Quartier, wo man sich gut vernetzen kann und das Quartier zur Gemeinschaft wird.
SB: Ich finde das mutig, was du sagst. Ich würde auch gern sagen, ich lebe dann irgendwann gemeinschaftlich. Aber ich bin jetzt 46, und im Lauf meines Lebens ist es noch nie passiert, dass ich das Bedürfnis gehabt hätte, in eine WG zu ziehen. Ich lebe seit 20 Jahren mit meiner Partnerin zusammen. Wir haben Kinder. Vielleicht bin ich da geprägt vom bäurischen Erbe väterlicherseits. Man ist sein eigener Chef auf seinem eigenen Boden. Ich bin wohl schlecht geeignet für eine gemeinschaftliche Wohnform.
SZ: In der Fabrikgenossenschaft, in der wir auch gewohnt haben, hatte jeder seinen eigenen Gebäudeteil. Dazu gab es einen Gemeinschaftsraum mit Küche, Beamer und Büro. Das war ideal. Man konnte sich in den eigenen Teil zurückziehen oder abends im gemeinschaftlichen Teil die anderen Bewohner*innen treffen.
SB: Ich würde wohl nur einmal pro Woche in den gemeinschaftlichen Teil gehen. Aber ich muss auch sagen, es ist wirklich ein riesiges Privileg, dass ich auf zehn oder 20 Jahre hinausdenken kann und weiss, wenn die Welt noch steht, steht auch mein Haus noch und ich kann dort weiterhin leben. Und es wird auch nicht viel teurer sein als heute.
SZ: Das gibt eine gewisse Sicherheit.
SB: Ja. Ich habe als Hausbesitzer mehr Sicherheit als andere. Aber wie wird es für meine Töchter sein? Wollen beide dieses Haus? Wie ist der Wohnungsmarkt in 20 oder 30 Jahren, wenn er heute schon so schwierig ist? Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden sie nicht in einer Stadt leben und studieren können. Das werden wir ihnen nicht finanzieren können. Dann würde ich ihnen das Festgesetzte, das ich jetzt in Suberg habe, vererben, weil sie keine andere Wohnmöglichkeit haben werden. Der Handlungsdruck beim Wohnen ist enorm. Ich staune, wie wenig alarmiert man in der Schweiz über dieses Thema spricht und warum nicht alle auf der Strasse protestieren.
SZ: In Zürich gab es im April eine grosse Wohndemo. Die Leute werden sich bewusst, dass wir ein grösseres Problem haben.
Diese soziale Schere beim Wohnen wird sich noch weiter öffnen. Mit der Zeit wird die Schere so offensichtlich, dass es die Leute auf die Strasse treibt. Das wäre nun das letzte Stichwort, welches ich in die Runde werfen will. Aktivismus – was können wir machen?
SZ: Wir interessieren uns im Stadtlabor für Commons oder Allmendressourcen, also für selbstorganisierte Gemeinschaften, die Ressourcen langfristig bewirtschaften und nutzen. So wie die von Elinor Ostrom untersuchten Wälder und Bergweiden in der Gemeinde Törbel im Wallis, die seit dem Jahr 1483 gemeinschaftlich genutzt werden. Wir müssen es selbst in die Hand nehmen. Wir sollten Genossenschaften oder Allmendressourcen gründen, die ein Stück Boden haben und dort gemeinsam Gebäude bauen und nutzen, in denen man gut und günstig leben kann. Ich finde, man muss sich selbst organisieren können und der Staat sollte es ermöglichen.
Woher soll dieses Stück Boden kommen? Sollen Orte, die bereits Menschen gehören, umgenutzt und dem gemeinschaftlichen Nutzen zur Verfügung gestellt werden?
SZ: Wie man zu Boden kommt, ist die grosse Schwierigkeit. Vielleicht müssen wir mit dem Wohnort ein bisschen flexibler sein. Wir hatten unsere Genossenschaft in einer Industriezone am Stadtrand. Es war nicht ein sehr attraktiver Ort, dafür hatten wir günstigen Wohnraum.
SB: Als Kulturschaffendem fällt mir nichts anderes ein, als künstlerisch-utopisch zur Diskussion beizutragen. Viele Aspekte sind einem grossen Teil der Bevölkerung gar nicht bewusst. Wir wissen doch gar nicht, wem die Städte gehören. Wem gehört Biel? Wenn 60 Prozent Mieter*innen sind, wem gehört das alles? Pensionskassen zum Beispiel sollte man abschaffen, das Geld in die AHV leiten, die AHV-Renten verdoppeln, dann hätten wir das Problem mit der Altersarmut auch gelöst. Das Bewusstsein dafür schärfen, dass unser Zusammenleben anders organisiert werden kann, darauf dränge ich als Kulturschaffender.
AB: Ich kann mich dem anschliessen, dass man den Status quo stets hinterfragt, den sozialen Ausbau fördert. Ich glaube, jede Person hat einen gewissen Handlungsspielraum. Wenn man merkt, für mich stimmt es, allein zu wohnen, ist das voll okay oder ich brauche meine Familie, meine Kinder oder was auch immer. Aber es gibt sehr viele selbstorganisierte Strukturen, die man unterstützen kann, die dort ansetzen. Asylsuchende Personen, armutsbetroffene Personen, Sans-Papiers, die gar keinen Zugang zu all den Privilegien haben, die wir haben, die an diesem Tisch sitzen. Es müsste strukturell angegangen werden. Jede einzelne Person kann etwas machen, aber es ist ein viel grösseres gesamtpolitisches Problem. Dort bräuchte es politische Verantwortungsübernahme, die ganz klar Veränderungen einleitet und wo man sich auch fragen kann, wo der gesellschaftliche Raub ist. Ist es ein gesellschaftlicher Raub, wenn Aktivist*innen Leerstand anprangern? Oder ist es ein gesellschaftlicher Raub, wenn Privatbesitz verursacht, dass Häuser leer stehen?