Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°3/2021
i

Flucht in die ökologische Nische

Die Nische braucht uns nicht, aber wir brauchen sie. Vom ökologischen Denken in der Ökonomie – und vice versa. Oder warum der Biologe Charles Darwin dereinst den Ökonomen Adam Smith ablösen könnte.   

Text

ist Wissenschaftsjournalist, Kurator und hat den ersten Bund der vorliegenden HKB-Zeitung mitgeplant. 

In Darwins On the Origin of Species kommt der Begriff «Nische» nicht vor. Das ist ein wenig erstaunlich, ist die Nische doch ein zentrales Konzept im Feld der Evolutionstheorie. Tatsächlich verdankt sich der Aufstieg des Nischenkonzepts einem grossen Paradox, das Darwin seinen Erben hinterlassen hat. Wenn sich doch überall ein «Great battle of life» abspielt, wie Darwin schreibt, wenn man sich die Natur also als grosses Schlachtfeld vorzustellen hat, mit Konkurrenten, die einander nicht schonen, warum dann finden wir überall eine grosse Vielfalt an Lebewesen? Das «Paradox of the Plankton», kaum jemandem ein Begriff, hat im Fachgebiet der Ökologie einen festen Platz. Man könnte auch sagen: Es ist der böseste Stachel im Fleisch der Biologie – und die Forscher*innen bekommen ihn einfach nicht zu fassen, er plagt sie nun schon seit gut hundert Jahren. Aber von Anfang an … Schon vor Darwin fanden Forscher deutliche Worte für die Unerbittlichkeit der Natur: Der Schweizer Botaniker Augustin-Pyrame de Candolle schrieb als Erster von einem «Krieg» der Pflanzen, alle gegen alle. Darwin nahm das gleich als Motto für sein Opus magnum: «Alle Natur befindet sich im Krieg miteinander oder mit der äusseren Natur.» Herauszufinden blieb, «[…] why one species has been victorious over another in the great battle of life», das war gewissermassen die grosse Forschungsfrage, die Darwin sich selber stellte. Beschreiben liess sich das als «economy of nature», was sich direkt auf die berühmte Oeconomia Naturae von Carl von Linné bezog. Aber erst mit Darwin bekam diese einen ökonomischen Anstrich im heutigen Sinn: Die Natur, beschrieben als Marktplatz, als grosser Wettbewerb aller gegen alle.Vor den Evolutionsdenkern war die Naturökonomie teleologisch, folgte also einer inneren Ordnung, sie war keineswegs anarchisch wie eine libertäre Marktwirtschaft. Die dazu passende Denkfigur war ein grosser, wohlgeplanter Organismus beziehungsweise ein Räderwerk, in dem die einzelnen Teile natürlich nicht gegeneinander arbeiteten, sonst wäre die schöne Konstruktion (für die es, versteht sich, auch einen Konstrukteur brauchte) rasch auseinandergefallen. 

Denken in Populationen
Auch Darwin war ursprünglich noch stark von diesem alten Denken geprägt, die brutale Konkurrenz drang erst im Laufe einiger Überarbeitungen in seine Evolutionslehre hinein. Entscheidend dafür sollte vor allem die Lektüre von Malthus’ Essay on the Principle of Population sein. Dieser hatte die (aufgeklärte) europäische Intelligenzia zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit purer Mathematik das Fürchten gelehrt. Er war gewissermassen der erste Populationsbiologe und Wachstumsskeptiker, indem er modellierte, wie Populationen wachsen (exponentiell) und wie die Ressourcen da nicht Schritt halten können, egal wie man es anstellt (linear). Er meinte vor allem den Menschen und wollte seine Aufsätze ausdrücklich als Warnung verstanden wissen –  man erinnert sich an Malthus vielleicht auch deshalb, weil er alle Wohlfahrtsprogramme, jede Hilfe für die Armen ablehnte. Er wollte die limitierenden Faktoren des Bevölkerungswachstums ganz konkret und gnadenlos am Werk sehen. So zynisch das für uns heute klingt, sein Aufsatz – der übrigens auch von biologischen Ideen inspiriert war, Biologie und Ökonomie waren in diesen politisch wie intellektuell turbulenten Zeiten nicht weit voneinander entfernt – definierte das Denken über Populationen, was sich auch bei Darwin niederschlug. Seither ist die Ökologie von diesem unerbittlichen Kampf um Ressourcen geprägt – und je besser man das alles mathematisch modellieren konnte, umso stringenter sah es aus. Wenn im selben Lebensraum zwei Arten leben, die von denselben Ressourcen zehren, die eine das aber ein wenig erfolgreicher als die andere macht, dann braucht man nur die evolutive Mechanik laufen zu lassen und man wird sehen: Über kurz oder lang wird die erfolgreichere Art die andere verdrängt haben – the winner takes it all. Bloss wenn jede Art sich in ihre eigene Nische verkriechen kann, hat sie eine Chance; Koexistenz ist in diesem Denkschema nicht vorgesehen. Bis die Nische explizit in der Fachliteratur auftaucht, sollte es noch eine Weile dauern. Erst 1917 verwendete Joseph Grinnell den Begriff im heutigen, ökologischen Sinn. Das Konzept indessen wurde immer dominanter: Nochmals fast fünfzig Jahre später formuliert Garrett Hardin in einem brillant geschriebenen Essay, The Competitive Exclusion Principle, dass eine von zwei Arten in direkter Konkurrenz das Feld räumen muss; im Westernjargon würde man sagen: «This niche ain’t big enough for the both of us.» Das Prinzip bringt die Oeconomia Naturae endlich auf den Punkt – aber wie es so ist mit Prinzipien in der Wissenschaft: Sie mögen als Konzepte sehr plausibel sein, einer Probe aufs Exempel halten sie oft nicht stand. Steve Hubbell, ein weiterer mathematisch sehr versierter Ökologe und ausdrücklicher Kritiker kompetitiver Modelle, meinte unlängst in einem Interview: «The other thing is that we hardly ever observe competitive exclusion – one species driving another extinct.» Basiert da etwa eine ganze Wissenschaft auf einem Prinzip, das so gar nicht zu beobachten ist? 

Das Paradoxon Plankton
Deshalb auch das Plankton: Es gibt kaum ein schöneres Beispiel für ein Ökosystem, das kaum Nischen kennt. Und trotzdem vielen verschiedenen Arten einen Lebensraum bietet. Hubbell war mitverantwortlich dafür, dass das Paradox nicht einfach ein Streit zwischen Theoretiker*innen und Empiriker*innen blieb. Er fand andere mathematische Modelle, die die Verteilung von Arten ebenso gut erklären, mit zufälligen Fluktuationen statt einem «battle of life». «Neutral Theory» nannte er das, ein mathematisches Konzept, das davon ausgeht, dass es keine Reproduktionsvorteile in einer Population oder zwischen verschiedenen Arten gibt. Wider Erwarten lässt sich mit einer solchen «neutralen» statt kompetitiven Theorie auch ziemlich gut beschreiben, wie die Biodiversität da draussen in der wirklichen Natur aussieht. Eine solche Theorie kommt entsprechend auch ganz ohne Nischen aus – die Verteilung der Arten ist ein Spiel des Zufalls, ein auf und ab, kein unerbittlicher Kampf mit eindeutigen Gewinnern und Verlierern. Wurde also die Bedeutung von «competition» gegenüber «coexistence» überschätzt, anderthalb Jahrhunderte lang? Oder muss man einfach besser suchen, dann findet man die Nischen am Ende schon? Letzteres ist nach wie vor Lehrbuchmeinung, die «Neutral Theory» hat einen schweren Stand. Die Nische lebt, allerdings ist sie zu einem sehr abstrakten Begriff geworden, in Lehrbuchdefinition klingt das so: «Niche: an n-dimensional hypervolume defined by axes of resource use and/or environmental conditions and within which populations of a species are able to maintain a long-term average net reproductive rate that is R>1.»Die Kontroverse dauert an, aber eines ist klar: So leicht ist dieses Hypervolumen «Nische» nicht aus der Welt zu schaffen. Vor allem, weil längst ein weiterer Fachmann aufgetaucht war, um ihr nochmals ganz neue Felder zu eröffnen. Wobei – es war ja eigentlich bekanntes Terrain. Von der Wirtschaft zur Biologie und wieder zurück. Nun aber, in den 1960ern, unter etwas anderen Vorzeichen: Ökonomie war nicht mehr politisch, sie war individualistisch. Es war die grosse Zeit der Marketingtheoretiker. Bernt Spiegel, eigentlich Psychologe und später Verfasser einer Motorradfahrbibel, prägte das Konzept der Marktnische – bis heute ist die «Marktnische» im Deutschen sehr viel geläufiger als im Englischen. Es verwundert nicht, dass man es mit derselben Begriffsunschärfe zu tun hat wie in der Ökologie – und mit denselben empirischen Problemen: Treffen wir nicht in jedem Supermarkt eine erstaunliche Vielfalt ähnlicher Marken an? Man denke nur an ein durchschnittliches Wein- oder Wurstregal. Wie auch immer: Die Marktnische war als Chiffre mindestens ebenso erfolgreich wie die ökologische Nische. 

Spiegelkabinett des Denkens
Ökonomie als evolutiver Prozess gedacht – auch hier gab es natürlich Vorläufer, der wichtigste von ihnen wohl Joseph Schumpeter. 1911 unternahm der Ökonom mit seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung den Versuch, den Ursprung und das Werden des Kapitalismus zu erklären, wobei er explizit auf evolutive Konzepte und den dort dominierenden Wettbewerb Bezug nimmt. Die sich daraus entwickelnde sogenannte Evolutionsökonomik bricht mit der Idee eines anzustrebenden Gleichgewichtszustands im Markt. «Ein permanenter Wettbewerb zwischen Produkten, Dienstleistungen, Unternehmensformen und sogar Wirtschaftssystemen sorgt dafür, dass nur jene Wettbewerbsteilnehmer weiterbestehen können, die den jeweiligen Umweltanforderungen entsprechen und sich an die laufend wechselnden Wettbewerbsbedingungen anpassen», so der dazugehörige Wikipedia-Eintrag. Geistesgeschichtlich haben wir es rund um die Nische also mit einem Resonanzraum und Spiegelkabinett biologischen und wirtschaftlichen Denkens zu tun. Über die Jahrhunderte gab es Inspirationen in die eine wie in die andere Richtung. Manche Expert*innen sehen insofern auch Darwin als Proto-Ökonomen. Berühmt geworden ist zum Beispiel die Formel des Biologen Stephen J. Gould, Darwins Theorie sei nichts anderes als «the economy of Adam Smith transferred to nature». Adam Smith war bekanntlich der grosse Marktderegulierer aus dem 18. Jahrhundert, Darwin hatte ihn natürlich gelesen. Und wer weiss, vielleicht wird der zunächst eher zögerliche Biologiewettbewerber den grossen Vordenker sogar noch überflügeln? Robert H. Frank, Wirtschaftskolumnist der New York Times, schrieb vor ein paar Jahren ein Buch, mit dem er eine «Darwin Economy» begründen wollte. Dessen Untertitel: Liberty, Competition, and the Common Good. Seine Prognose: In hundert Jahren werde Charles Darwin als grösster Ideengeber in der modernen Ökonomie anerkannt sein, womit er nicht nur Urvater der heutigen Biologie wäre, sondern auch noch Adam Smith als Begründer der Wirtschaftslehre ablösen werde.