Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°1/2022
i

Florentina Holzinger

Florentina Holzinger kämpft mit ihren Choreografien gegen Körpernormen und Sexismus an. Ihre Inspirationsquellen reichen vom klassischen Ballett über den Horrorfilm bis hin zum Porno.

Text

Helen Lagger hat Kunstgeschichte, Journalismus und deutsche Literatur in Freiburg und Paris studiert. Sie schreibt für die Berner Zeitung, das Bieler Tagblatt, die Berner Kulturagenda, die HKB-Zeitung und den Bärnerbär über Kunst, Tanz, Theater und Literatur.

«Wir leben in einer Zeit, in der die Apokalypse fast realistisch erscheint», sagt die Tänzerin, Performancekünstlerin und Choreografin Florentina Holzinger. In ihrem kommenden Stück, das sie für die Volksbühne Berlin konzipiert, werde es deshalb unter anderem um Survival-Techniken gehen. «Dem Boxen und den Kampfsportarten bin ich schon seit Längerem zugetan», führt die 1986 geborene Wienerin an. Attacke und Verteidigung gehörten schliesslich zum Lebenskampf dazu. Holzinger, die an der Hochschule der Künste HKB unterrichtet, vermittelt dieses «To live to fight another day» – wie sie es ausdrückt – auch ihren Studierenden. «Das mag jetzt etwas pathetisch klingen», fügt sie lakonisch an. Im Rahmen von zehntägigen Workshops unterrichtet sie angehende Schauspieler*innen und Performer*innen. «Wir machen Experimente in der Gruppe und erarbeiten gemeinsam verschiedene Aufgaben und Aktionen», so Holzinger. Ob daraus am Ende ein Tanz oder eine simple Handlung entsteht, sei offen. Holzinger nutzt für ihre Performances stets den eigenen Körper. «Es ist ein zeitloses und universelles Medium.»

Foto: Apollonia Theresa Bitzan

An der School for New Dance Development in Amsterdam hat Holzinger Choreografie studiert. «Es ging dort nicht primär darum, sich Tanztechniken anzueignen, sondern vielmehr um die Frage, was Tanz überhaupt sein kann.» Diese enorme Freiheit habe sie anfangs als frustrierend empfunden. Heute spielt sie gekonnt mit den Genres und ist längst auch im Theater angekommen. 2021 hat sie die Volksbühne Berlin als Gastchoreografin ans Haus geholt. «TANZ» lautete der Titel ihres 2019 konzipierten Stückes, das der letzte Teil einer Trilogie ist. In den vorangehenden Stücken «Recovery» (2014) und «Apollon» (2017) hatte sie sich unter anderem mit einem eigens erlebten Bühnenunfall und mit klassischem Ballett auseinandergesetzt. «Ich habe eine Faszination für Dinge, die Backstage passieren», so Holzinger. Am Ballett interessiert sie das Fantastische, die scheinbare Schwerelosigkeit. Doch sie findet auch: «Im klassischen Ballett wird der Körper der Frau auf fast pornografische Weise zur Schau gestellt.»

Frauen auf Motorrädern
Die traditionelle Repräsentation von Weiblichkeit im klassischen Ballett stellt Holzinger gehörig auf den Kopf. «Die Frage, warum immer alle sagen, Ballett sei so schön, interessiert mich.» Ballett entstand vor 200 Jahren und sollte einfach auch geil sein, glaubt sie. In romantischen Ballletten werden Tänzerinnen zu Feenwesen, die scheinbar schweben können. «In meinem Stück ‹TANZ› lasse ich die Performer*innen tatsächlich fliegen.» In an Seilen festgemachten Motorrädern flitzen unter anderem Bräute, die an Actionheldinnen aus B-Movies erinnern, durch die Luft. Im Stück geht es um eine Ballettklasse unter der Leitung von Beatrice Cordua, der ersten Ballerina, die in den Siebzigerjahren «Le Sacré du printemps» nackt tanzte. Die Performer*innen durchlaufen eine strenge Schulung, sollen lernen, ihren Körper und Geist zu beherrschen, und sich gar Übernatürliches wie das Fliegen aneignen. Dabei parodiert Holzinger sexistische Bilder, wie man sie im Ballett, im Horrorfilm oder in der Pornografie wiederfindet.Versteht sich von selbst, dass eine solche Schau nicht allen gefällt. Es komme schon vor, dass jemand sich verirre und mit falschen Erwartungen in einem ihrer Stück lande, so Holzinger. «Ich hoffe dann einfach, die Person verlässt den Saal und kommt nicht wieder.» Denn quälen wolle sie niemanden. «Menschen, die meine Stücke geschmacklos oder zu explizit finden, sind solche, die auch einen Horrorfilm nicht zu geniessen wissen», glaubt sie. Der Titel «TANZ» könne natürlich falsche Hoffnungen wecken, jeder, auch ihre Grosseltern, hätte schliesslich eine Vorstellung davon, was Tanz sei. Holzinger selbst kennt keine Berührungsängste mit anderen Genres. Am ehesten liessen sich ihre Stücke als Collagen beschreiben. Die Popkultur liefert ihr viele Referenzen zu Themen wie «Tod und Weiblichkeit» oder «Körper in Transformation». Aktuell schaue sie auf Amazon Prime die Serie «Der Report der Magd». Die auf Margaret Atwoods gleichnamigem Roman basierende Serie ist eine Dystopie und erzählt von Frauen, die in einer christlich-fundamentalistischen Diktatur sämtliche Rechte verloren haben.

Pubertät als Knackpunkt
Was hat die Sinne der Choreografin für feministische Themen geschärft? «Das Erwachsen- beziehungsweise Frauwerden war ein Schockmoment für mich», so Holzinger. Sowohl die körperlichen wie die sozialen Transformationen hätten sich wie ein Knackpunkt angefühlt. «Mit dem Tanzen konnte ich die Kontrolle über mein Selbstbild zurückerlangen.» Das habe ihr punkto Selbstfindung und Selbstbewusstsein gänzlich neue Türen geöffnet. In ihren Workshops wolle sie die Leute, die Panik hätten, ermutigen, ihren wahren Interessen nachzugehen. Ich möchte, dass sie spüren, wer sie sind. Von «driving forces» spricht sie in diesem Zusammenhang. Dabei sei sie aber auch eine Verfechterin des Trainings. Muss Kunst leiden? Holzinger vergleicht es mit Waxing. «Es ist nicht angenehm, aber wenn du das Resultat willst, nimmst du den Schmerz in Kauf.»