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N°3/2021
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Finde deine Nische? Nein, Bau sie dir!

Dynamisch und künstlich geschaffen. Wie Lebewesen, Unternehmen und Algorithmen ihre Umwelt und die darin befindlichen Nischen konstruieren und ausnutzen. 

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Freier Journalist und schreibt über Digitalpolitik, alternative Gesellschaftsmodelle und Umweltbewegungen 

Regenwürmer sind unauffällige Wesen. Meist verstecken sie sich im Boden, bei Regen liegen sie überfahren auf dem Veloweg und anschliessend vertrocknet am Strassenrand. Dabei haben sie mitgeholfen, die Evolutionstheorie ein bisschen auf den Kopf zu stellen. Diese besagt bekanntlich, dass diejenigen Individuen überleben und sich vermehren, die sich am besten in ihre Umwelt einpassen. Aber Regenwürmer nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Während sie im Boden herumkriechen, manipulieren sie dessen Struktur und Eigenschaften. Sie lockern die Erde auf, verändern dadurch den Wasserfluss und die chemische Zusammensetzung der Umwelt. Das alles fördert das Wachstum von Pflanzen und sichert gleichzeitig das Überleben der Regenwürmer. 

Die unauffälligen Würmer aus der biologischen Ordnung der Wenigborster passen sich also nicht brav an eine vorgegebene biologische Nische an. Sie konstruieren stattdessen eine für sie selbst ideale Umwelt. So beeinflussen Regenwürmer durch ihr Verhalten die Bedingungen für die eigene Evolution. Das tun natürlich nicht nur Regenwürmer. Biber bauen Dämme und verändern den Wasserlauf von Flüssen zu ihren Gunsten, Kieselalgen scheiden chemische Stoffe aus, die ihre Umwelt stabilisieren, Insektenstaaten bauen Hügel, in denen sie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Lichtintensität regulieren können. Und Zitronenameisen betätigen sich als Försterinnen, indem sie fürs eigene Überleben ungeeignete Bäume mit Säure bespritzen, um deren Wachstum zu regulieren. 

Überall in der Natur zeigt sich, dass die Beziehung zwischen Lebewesen und Umwelt wechselseitig und dynamisch ist. Nischen sind nicht einfach da. Sie werden oft aktiv geschaffen und manipuliert. Die entsprechende Theorie niche construction theory gibt es seit etwa fünfzig Jahren. Und sie ist ein Frontalangriff auf die Idee, dass unsere Umwelt mit starren Nischen besiedelt ist, die besetzt und ausgenutzt werden. Evolutionäre und ökologische Prozesse sind viel flexibler und können durch Individuen aktiv beeinflusst werden. Entsprechend schreibt der Evolutionsbiologe und Mitbegründer der Theorie der Nischenkonstruktion Richard Lewontin: «Organismen passen sich nicht ihrer Umwelt an, sie konstruieren diese aus den Versatzstücken ihrer Aussenwelt.» 

Wie Neuseeland eine Nische konstruierte
Nischen gibt es nicht nur für Regenwürmer, Algen und Ameisen. Wir kennen die Kochnische oder die Wandnische. Und in der Betriebswirtschaft sprechen wir vom «Erkennen einer Marktnische» – wenn in einem Teilmarkt die Nachfrage das Angebot übersteigt. Auch hier wirkt es so, als seien Unternehmen vor allem damit beschäftigt, in ihrer Umwelt Nachfrageüberschüsse zu entdecken und mit einem angepassten Produkt abzuschöpfen; als ob eine Marktnische nur darauf warte, erspäht und ausgenutzt zu werden. Dabei wissen wir nur zu gut, dass die Nachfrage nach einem Produkt nicht unveränderlich und gottgegeben ist, sondern durch Werbung und Marktpsychologie aktiv beeinflusst werden kann. 

Mit anderen Worten: Auch in ökonomischen Märkten werden Nischen von uns konstruiert. Wer ein dreifach gehopftes IPA braut und an Craftbeer-Fans vermarkten will, bedient dabei nicht einfach eine ohnehin bestehende Nische. Stattdessen wird durch Werbung und Marketing ein Bedürfnis nach ebenjenem IPA geschaffen. Wo früher Brachland war, wird eine Nachfrage konstruiert, die dann mit dem passenden Produkt bedient werden kann. 

Ein Paradebeispiel dafür ist die 1999 lancierte Kampagne 100% Pure New Zealand, mit der Tourism New Zealand das Ziel verfolgte, den Tourismus in Neuseeland innerhalb von fünf Jahren zu verdoppeln. Damit das gelingen konnte, musste Neuseeland erst zur Marktnische werden. Der Kampagnenentwickler Maurice Saatchi wusste: Freundliche Locals, Sonnenuntergänge am Strand oder üppige Urwälder gibt es auch anderswo. Also musste eine emotionale Nische geschaffen werden: Reisende sollten bestimmte Gefühle, Erwartungen und Hoffnungen mit dem Land verknüpfen. Dabei konnte Tourism New Zealand an gängige Emotionen und Bedürfnisse anknüpfen: Im Zentrum stand der Wunsch nach Authentizität in einer Welt der Trugbilder und der globalisierten Gleichförmigkeit. «Es ist beinahe unmöglich geworden, eine bedeutungsvolle Differenzierung zu finden», erklärte Saatchi, um im perfekten Marketingjargon fortzufahren: «Aber Neuseeland ist anders. Es ist ein authentisches Land. Neuseeland kommt nicht bereits abgepackt und vorbereitet. Neuseeland ist echt.» 

Individuell in der Nische
Am Ende dauerte es zwar zehn Jahre, bis das Ziel erreicht war. Aber die Kampagne zeigt, wie einfach sich eine Nische konstruieren lässt. Und der ökonomische und der touristische Erfolg sprechen für die neuseeländischen Regenwürmer: «come now, do more and come back.» Was die Marketingschlaumeier wussten: Die Nische ist viel mehr als eine ökonomische Wettbewerbsstrategie. Viele von uns sehnen sich nach Individualität. Mit austauschbaren Produkten im Mainstream für Migros-, Coop-, Aldi- oder Lidl-Kinder lässt sich diese Sehnsucht aber kaum erfüllen. Wirkliche Emotionen und Loyalität können viel einfacher mit Nischenprodukten geweckt werden – sei es mit einem lokal gebrauten Biocraftbeer oder mit spezifischen Kompressionsstrümpfen fürs Trailrunning. 

Die für uns von Unternehmen geschaffene Nische hilft dabei, unsere Identität zu gestalten und uns dadurch von der Masse abzuheben. Wir trinken Club Mate statt Coca-Cola. Wir unterstützen den FC Winterthur statt Real Madrid. Und wir tragen On-Schuhe statt Nike-Sneaker. Analog zur Theorie der Nischenkonstruktion können unsere Emotionen dabei mit Werbung und geschicktem Marketing so beeinflusst werden, dass unser Konsumverhalten perfekt in die durch das Produkt überhaupt erst geschaffene Nische «passt».  

Algorithmen schaffen Nischen
Digitale Angebote und algorithmische Optimierung vereinfachen diesen Prozess gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen lassen sich schier endlos viele perfekte Nischen schaffen. Und zum anderen werden Menschen problemlos in jene Nische bugsiert, die ihrem Konsumverhalten am ehesten entspricht. So werden ständig künstliche Nischen für uns geschaffen. Und wir können fast nicht anders, als uns geschmeichelt zu fühlen in unserer Individualität. TikTok zum Beispiel erkennt unsere Interessen innert weniger Stunden und anhand von nicht viel mehr als hundert Interaktionen – wie lange hat man welches Video angeschaut, welcher Vorschlag hat gefallen, welcher nicht? Anschliessend liefert uns die App eine massgeschneiderte Auswahl an Videos, die haargenau der für uns kuratierten Unterhaltungsnische entsprechen.

as Wall Street Journal konnte unlängst zeigen, dass sich die Vorschläge anfangs noch im Mainstream bewegen, während der Algorithmus uns zu entschlüsseln versucht; dabei errät er erstaunlich schnell, welche Videos für eine Benutzerin interessant sind. Das Resultat: Wir werden mit Videos von Schnauzern, Crossfit-Übungen oder Gitarrensolos überschwemmt – immer mit dem Ziel, dass wir möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringen, ob uns das nun glücklich macht – zu Beginn bestimmt – oder nicht. 

Auch auf anderen Plattformen der nicht linearen Unterhaltungsindustrie spielt die Konstruktion individualisierter Nischen eine zentrale Rolle. Auf YouTube werden uns Videos empfohlen, die unserem Konsumverhalten vermeintlich entsprechen, dasselbe gilt für Netflix. Welche Bücher und Empfehlungen wir auf Amazon zu sehen bekommen, bestimmen Algorithmen, die darauf getrimmt sind, eine für den Konsum optimale individuelle Nische zu erkennen – oder eben: zu konstruieren. Kein Wunder, glauben einige seit dem Aufkommen digitaler Märkte, dass die Zukunft ganz und gar den ökonomischen Nischen gehört. Unternehmen müssten versuchen, den long tail abzudecken – jene Unmengen an Nischenprodukten, die im analogen Raum schlicht nicht rentabel sind. 

Im digitalen Markt könne ein signifikanter Anteil des Umsatzes mit Nischenprodukten erreicht werden, schrieb der Wired-Autor Chris Anderson 2006 in seinem Buch The Long Tail: Why the Future of Business Is Selling Less of More. Während eine CD in einem physischen Regal Platz einnimmt und damit Kosten verursacht, kostet das digitale Bereitstellen von ein paar Songs ungleich weniger «Miete». Jedes Mal, wenn der Song heruntergeladen oder gestreamt wird – egal wo und von wem, egal wie selten – entspricht das einem ökonomischen «Win». Eine CD im Geschäft muss dagegen ein paar Mal verkauft werden, bevor sie zu rentieren beginnt. 

Denkt man sich den Long Tail mit der Theorie der Nischenkonstruktion zusammen, kommt einiges an Manipulationspotenzial zusammen: Stichwort Microtargeting und Narrowcasting. Marketingexpert*innen verkaufen bekanntlich nicht nur Produkte, sondern auch politische Programme. Wenn sich Nischen so leicht konstruieren lassen – und zwar nicht von den Nischenbewohner*innen selbst, sondern von Akteur*innen, die damit ihre eigenen Ziele verfolgen –, dann brauchen wir neue Strategien der Emanzipation. Vielleicht liegt die neue Authentizität ja mitten im Mainstream.