«Es sind Einheimische aus der ganzen Welt, die sich als Einheimische bezeichnen.»
Stefan Miesch arbeitet als Grafiker in Interlaken und studiert im Master Design an der HKB. Miesch hat kreative Ideen für die Wirtschaft, zum Beispiel den Tourismus. Im Rahmen von «HKB geht an Land» stellt er seine Initiative FIFI vor.
Wer bist du?
Ich heisse Stefan Miesch. Aufgewachsen bin ich in Baselland und im Aargau. Seit sieben Jahren wohne ich in Bern und arbeite seit fünfeinhalb Jahren als Gestalter für die Jungfrau Sports Holding.
Wie kam es dazu?
Nach dem Abschluss des Bachelors in Industrie- und Produktdesign an der FHNW und anschliessenden Anstellungen als Designer brachte mich meine Affinität zu den Bergen nach Bern. Darauf habe ich mich nach einer Stelle umgeschaut, die ich mit dem damals für mich sehr wichtigen Gleitschirmfliegen verknüpfen konnte.
Wieso lebst du nicht in Interlaken?
Das wäre mir zu monoton, zu unreal. Der Tourismus dominiert hier vieles. Es gibt einerseits den Massentourismus der neben dem Individualtourismus das Ortsbild massgeblich prägt. Daneben Leute, die sich für den Bergsport interessieren. Klar lassen sich dabei unterschiedliche Schattierungen ausmachen, doch die Diversität, die z.B. Bern bietet, fehlt mir dabei. Auf der anderen Seite sind die Einheimischen in Interlaken eine sehr heterogene Gruppe: Zugezogene aus der ganzen Welt treffen auf hier geborene und hier aufgewachsene.
Was machst du bei der Jungfrau Sports Holding?
Die JSH ist eine Firma, die sich auf den Outdoorsport spezialisiert hat. Actionsport wie Riverrafting, Canyoning, Bungy-Springen, aber auch Bergsport in allen Facetten zählen zu unserem Portfolio. Wir führen zudem den Seilpark am Rugen und unser Angebot wächst jährlich. Zu Beginn meiner Anstellung habe ich für die JSH von der Shopgestaltung bis zum Onlineauftritt das meiste mitgestaltet. Mittlerweile hat sich unser Team vergrössert, und wir haben mehr Spezialist*innen. Jetzt bin ich primär für das Printmaterial verantwortlich.
Du studierst an der HKB. Was war die Motivation für das Studium?
Seit Herbst 2018 studiere ich im Masterprogramm an der HKB mit der Vertiefung «Entrepreneurship». Ich bin jetzt seit fast zwanzig Jahren als Gestalter unterwegs, habe vor zehn Jahren Produktdesign abgeschlossen und ursprünglich mal das Handwerk des Schriftenmalers gelernt. Ich habe gemerkt: Ich möchte mehr. Mich interessieren Prozesse, die Herangehensweise hinter der Gestaltung. Wie macht man eine User Research? Wie geht man mit einer Nutzergruppe um? Mir fehlten die ganzen theoretischen Grundlagen, die ich auch als Gestalter einbringen möchte.
Ist das ein neues Verständnis von Gestaltung?
Da bin ich mir nicht sicher. Als Produktdesigner habe ich gelernt, alles zu hinterfragen: Muss dieses Design, diese Funktion so sein? Wieso ist das so? Könnte man es nicht anders machen? Meine Erfahrung zeigt, dass ich als Gestalter jedoch oft erst zum Schluss, zum «Schönmachen» hinzugezogen werde. Ich frage mich dann oft, warum bezieht ihr mich nicht schon früher in die Prozesse mit ein? Es geht mir dabei nicht darum, die Expertise anderer Fachleute infrage zu stellen. Aber als Gestalter möchte ich verstehen, was ich gestalte. Ich glaube, durch meine Ausbildung und Erfahrung habe ich eine andere Sicht auf Dinge, nehme Sachen anders wahr und kann sie auch anders wiedergeben.
Während deines Studiums bist du in ein Projekt eingestiegen, das sich mit Fragen des Tourismus in Interlaken beschäftigt. Kannst du dazu etwas sagen?
In Interlaken gibt es viele Leute, die wegen einer sportlichen Passion hierhergekommen sind. Sie mögen das Umfeld, die Natur, die sportlichen Möglichkeiten. Sie können hier ihrem Hobby nachgehen, ihren beruflichen Werdegang aber, was sie bisher beruflich gemacht haben, müssen sie dem unterordnen. Andererseits fühlen sich die Einheimischen nicht mehr wohl in Interlaken, das an vielen Orten zu einer Disney World geworden ist, in der sie nur noch Schauspieler*in sind in einer Kulisse, die sie oft gar nicht wirklich verstehen oder gar nicht verstehen wollen. Sie sind hier aufgewachsen, sie haben ihre Familie hier, sie haben ein Umfeld, arbeiten im Tourismus und arrangieren sich damit. Viele flüchten sich in ihre eigenen Freizeitinseln. Um dieser Spannung auf den Grund zu gehen, habe ich viele Interviews mit den Betroffenen aus Interlaken geführt.
Aus diesem Research, diesen Erfahrungen und Überlegungen ist das Projekt Interlaken anders aka FiFi entstanden?
Ja: Ausgangspunkt meines Projektes ist die Erkenntnis, dass vielen Einwohner*innen ein Ort fehlt, an dem sie wieder ankommen können, also ein physischer Ort. Die Gemeinde hat das überhaupt nicht auf der Agenda und werden Orte im öffentlichen Raum entwickelt, haben diese vor allem immer auch eine touristische Ausrichtung. Wir fragen: Wie können wir einen Ort gestalten, der auch von den Bewohner*innen bespielt werden kann? Noch während wir diese Ideen in der genannten Arbeitsgruppe «Interlaken Anders» entwickelten, kam Simon Hirter (Coach beim alpenlab.ch) zusammen mit der BLS mit der Idee auf uns zu, ein altes Schiff dafür zu nutzen.
Da kommt mir der Film von Werner Herzog in den Sinn: Fitzcarraldo. Ein Verrückter lässt ein Schiff über einen Berg ziehen …
Auch in München gibt es ein solches Schiff (Alte Utting), das trockengelegt wurde. Um das Schiff in Betrieb zu nehmen, waren jedoch zwei komplette Jahre und diverse behördliche Massnahmen nötig. Nun beherbergt es einen Kulturbetrieb für weitere drei Jahre. Unsere Frage in Interlaken lautet: Was soll das Schiff? Was kann unser Schiff für die Einheimischen sein? Die BLS will die Schiffe per Ende 2021 aus dem Wasser haben. Ich bin gespannt, wohin sich das Ganze entwickelt.
Eigentlich sind das politische Fragen, die du als Gestalter stellst. In Interlaken hat man oft den Eindruck, dass die Gemeinde mit dem Austarieren von enormen wirtschaftlichen Interessen und Player*innen absorbiert ist – Interessen, die eigentlich viel grösser sind als die Gemeinde selbst.
Das sehe ich genauso. Ich nehme die Situation in Interlaken oft so wahr, dass reagiert statt agieret wird. Im Tourismus gibt es viele gute Geschäftsmodelle, aber sie sind meistens sehr kurzfristig angelegt. Ich will der Region, der Gemeinde keinen Vorwurf machen. Ich glaube, sie haben jahrelang sehr gute Arbeit geleistet. Nun steht die Region aber vor ganz neuen Herausforderungen – der globale Tourismus ist komplett weggebrochen. Man könnte behaupten, dank der Pandemie können viele wieder durchatmen, über einiges nachdenken. Man müsste das als Chance sehen. Und es gibt auch schon diverse solche Projekte, wie zum Beispiel im Flight-Club. Wo sich Tandem-Gleitschirmpiloten ihren Lagerraum zu einem Co-Working umgebaut haben.
Ich höre das aus deinen Ausführungen: Man sollte den Tourismus auch als Teil einer Kreativwirtschaft anschauen, als Gebiet, das ständig weiterentwickelt werden muss, bis hin zu sozialen Aspekten, die mit der Bevölkerung zu tun haben.
Korrekt, ich glaube, Interlaken als Ganzes könnte profitieren, wenn sich die vorhandene Kreativwirtschaft den touristische Herausforderung annehmen würde. Bei meiner Masterarbeit an der HKB ging es darum, ein mögliches Geschäftsmodell zu entwickeln, was für den erwähnten Ort und das Schiff Sinn ergibt. Ob das Projekt zum Fliegen kommt, werden die nächsten Monate zeigen.