Einfach drauflosschreiben
Von der provinziellen Punkszene in die Forschung an der Hochschule: Kurator, Forscher und Publizist Michael Hiltbrunner über seine Erfahrungen in independent artistic writing and publishing.
Mit 16 Jahren begann ich meine Vernetzung in der Hausbesetzer*innen- und Punkszene. 1992 gründeten wir in der Aargauer Kleinstadt Zofingen das Fanzine Wiggerflut und deckten darin gleich mehrere Jugendsubkulturen ab: je eine Person für Punk, Wave, Metal, Comic, Hausbesetzung, und eine Frau. Wir interviewten lokale Bands, besprachen unsere aktuelle Lieblingsmusik, berichteten von einer Demo, an der wir teilgenommen hatten, dazu gab es ein Kochrezept und einen Comic. Die Auflage von rund hundert Exemplaren kopierten wir selbst am Kopiergerät der lokalen Alternativbeiz «Ochsen», wo wir auch Konzerte organisierten.Unser Heft Wiggerflut verkaufte sich gut und bestärkte mich darin, einen eigenen Fanzine-Vertrieb aufzubauen. In aktuellen Fanzines fanden sich Besprechungen anderer Hefte gleich mit der Bestelladresse. So begann ich im Bauerndorf Wikon das Netzwerk für den Fanzine-Versand Pablo Gerusa, den ich von 1992 bis 1995 betrieb. Die Hefte aus der Schweiz hatten Namen wie Massive Love, Babybesetzerin, No Sanctuary, Blutschande, Romp, Syndrom, Confrontations (auf Französisch), dann waren auch deutsche dabei, wie Radikal, Graswurzelrevolution, Kix, Gold und Rosen oder Renate, und einiges weniges aus Österreich wie Toleranzgrenze, aus England wie Riot oder die Arnie Comics, aus den USA waren etwa Punchline, Profane Existence oder Teenfag dabei, aus Finnland Sivullinen, aus Kanada Dirty Plotte, aus Belgien Tilt. Bei Pablo Gerusa lagen mir neben der Musik auch feministische und queere Anliegen und Selbstbestimmung, aber auch Umweltschutz und Abrüstung am Herzen. Wenn ich meinen Verkaufskoffer in der Reitschule Bern, im damaligen Kultur-Squat Wohlgroth in Zürich oder an Untergrund-Konzerten in Basel, Luzern oder im aargauischen Bremgarten aufbaute, wurde ich geschätzt.
Auf Vielfalt bedacht
Wir wollten auch Musik besser zugänglich machen, was damals am einfachsten mit Audiokassetten möglich war. Dafür gründeten wir 1994 das Label und den Vertrieb Magnetbandfreundschaft, gemeinsam mit Mara Züst, Ingo Giezendanner und Philipp Messner. Unser Postfach war in Zürich, wir lebten auch in Basel und Oftringen. Im Vertrieb hatten wir Bands wie die Punkgruppe Protest aus Zürich, die Noise-Rocker Designer aus Basel, den RecRec-Sound von Larsen Rupin aus Neuchâtel oder den Comedy-Pop von Harald Sack Ziegler aus Köln. Wir hatten mehr im Angebot, das wir nicht in der Liste nannten, da es Schwarzpressungen waren, etwa eine Kassette der Emocore-Band Moss Icon aus den USA und welche von den Punkbands Graschdanskaja Oborona oder Janka aus Russland. Wir produzierten auch eigene Kassetten, etwa mit Lo-Fi-Pop von GUZ aus Schaffhausen und Tom’s Toilet Foundation aus Belgien oder der Hamburger Band Les Robespierres. Die Kassetten konnten per Post bestellt werden oder waren bei Pablo Gerusa im Verkaufskoffer. Wir waren auf Vielfalt bedacht, jedoch muss ich rückblickend eingestehen, dass Janka die einzige Musikerin bei Magnetbandfreundschaft war.Ich war nun aus Wikon und Oftringen weggezogen und lebte in einer besetzten Villa in Luzern. Dort arbeitete ich ehrenamtlich im lokalen Infoladen und Musikgeschäft ROMP. Die anderen kamen aus der Crustpunkszene, ich hingegen stand eher auf Emocore und, naja, Studentenmusik und seltsames Zeug. Die Wiggerflut hatten wir nach zwei Ausgaben eingestellt, also beteiligte ich mich am gleichnamigen ROMP-Fanzine. Die Punkmusik-Rezensionen, Demobeschriebe und Hardcore-Konzert-Reviews ergänzte ich um einen Bericht zu einer Homolandwoche für Schwule und Queere der autonomen Szene, um Rezensionen zu Minimal Techno, Lo-Fi-Pop und Noise und veränderte auch die Covergestaltung des Heftes radikal – weg vom Crustpunk und hin zur Copy-Art-Ästhetik.
Im Hafen der Kunst
Mit dem Internet verloren die Fanzines ab Mitte der 1990er-Jahre an Relevanz, auch Audiokassetten waren mit dem aufkommenden MP3 nicht mehr das einfachste Format. Ich war etwas ratlos, wo ich publizieren sollte. Ebenfalls war ich nun nach Zürich umgezogen. In der vermeintlichen Grossstadt gab es plötzlich viele, die ähnliche Projekte betrieben, und ich stellte höhere Ansprüche an mich als vorher. Ich fand den neuen Hafen in der Kunst. Ich konnte für Künstler*innen-Publikationen schreiben, aber auch in der alternativen Presse wie der kürzlich eingestellten Fabrikzeitung. Ich studierte Kulturanthropologie und begann an der Kunsthochschule in der Forschung zu arbeiten. So konnte ich Kunstpublikationen herausgeben, zu Kunst und Öffentlichkeit, Texte von Serge Stauffer, Monografien zu Peter Trachsel und Ruedi Bechtler, Kataloge zu Ausstellungen im Helmhaus Zürich und in der Kunsthalle Bern. Es ging um das Herstellen einer kritischen Öffentlichkeit, um selbst organisierte, experimentelle und forschende Kunst. Ich fing gezielt mit Künstlerinnen und ihren Archiven zu arbeiten an, mit Doris Stauffer, Liliane Csuka, Lis Kocher und mit einer Ausstellung zur Geschichte der Künstlerinnen in der Kunsthalle Bern.Am Anfang waren meine Texte oft grottenschlecht. Um schreiben zu lernen, kopierte ich die Struktur und teilweise die Satzstellungen und die Wortwahl von vorbildlichen Texten. Nach und nach lernte ich so schreiben. Nach über 50 publizierten Texten weiss ich immer noch nicht, ob ich dies genau richtig mache. Ich versuche für ein allgemeines Publikum verständlich zu schreiben. Aber es kommen jeweils nur wenige Rückmeldungen und es gibt nur bei wenigen Texten die Zeit, den Entwurf gegenlesen zu lassen und zu besprechen.Bei der Herausgabe von Büchern involvieren sich die anderen Beteiligten meist stärker, aber auch da liegt die Erstellung eines Manuskripts vom Buchtitel über das Inhaltsverzeichnis bis zum Impressum doch oft wieder bei mir. Neben den bisher rund zehn Büchern habe ich auch zwei Webplattformen betreut, eine davon, F+F 1971, als Archiv-Ausstellung zur Geschichte der F+F Schule für Kunst und Design. Im Internet braucht es kurze Texte, man hat aber recht grosse Freiheit in der Wahl der Themen. Durch die englische Übersetzung erhalten diese Texte teilweise eine überraschend grosse Reichweite. Ebenfalls wirkungsvoll ist das Publizieren auf Wikipedia, die Einträge bilden wichtige Referenzen. Wikipedia funktioniert aber recht restriktiv – ich muss genau ihren Vorgaben folgen.
Den Text imaginieren
Grundsätzlich kann Schreiben helfen, Realität überhaupt wahrzunehmen, deshalb ist es sehr schön, zu erleben, wie aus einer Performance, einem Konzert, einem Vortrag, einem Gespräch, einer Ausstellung, einer Begegnung, einer Zugfahrt, einem Scheissgefühl durch das Niederschreiben etwas Neues entstehen kann. Sehr relevant für den Text ist, wie er sein Publikum findet, dies definiert nämlich auch seine Form. Wenn ich weiss, wo der Text seine Leser*innen findet, stelle ich andere Fragen und Bedingungen an ihn. Wenn ich eine Idee habe für den Text, will ich ihn mir imaginieren können, von Anfang bis Ende, und notiere dazu erst einmal Stichworte, Schlüsselbegriffe für Kapitel und einfach mal einen Einstieg. Darauf folgt die detaillierte Recherche, um alle Begriffe und Namen korrekt genannt zu haben, und ich gliedere den Text in Abschnitte.Weil Schreiben, anders als Sprechen, immer den Beweis seines Inhalts liefert, zensurieren wir uns stetig und versuchen etwas zu konstruieren, das dem entspricht, was wir uns unter Text vorstellen. Deshalb war meine Zeit in der Punkszene, der Hausbesetzer*innen-Szene und bei anderen Ausgeschlossenen in der Gesellschaft sehr wichtig, gerade in den Notizheften und Tagebüchern schrieb ich einfach drauflos und entdeckte so, dass ich anderes schreiben kann, als es bereits schon gibt. Dies ist wohl auch ein Grund, weshalb das Archive of Swiss Independent Publishing ASIPP kürzlich meine Schweizer Fanzines der Sammlung Pablo Gerusa in den Bestand aufnahm und zugänglich machte.