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N°3/2021
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Die weisse Seite des Mondes

Auf einer Ausfahrt in den Aquaparc in der Romandie: Nachdenken über das popkulturelle Verhältnis von Nische und Mainstream. Und je länger er nachdenkt, desto mehr fragt sich Musiker und Autor Mirko Schwab, was das überhaupt sein soll – eine Nische? 

Text

Musiker und Autor in Bern. Er schreibt für das KSB Kulturmagazin und betreibt das Label Blaublau Records 

Neulich hat mir ein schüchterner Freund, den ich leider nur ab und zu treffe, von einem Ausflug in den Aquaparc erzählt. Ich habe ihn nicht gefragt, wie er überhaupt dazu gekommen ist, nach Le Bouveret zu reisen, ans Ostende des Genfersees, ich hielt es für eine zu persönliche Frage. Der verdammte Aquaparc in Le Bouveret: Ist Langenthal schon lange synonymisch für den Schweizer Durchschnitt, wie er einkauft, so ist Le Bouveret so etwas wie die Mainstreamschweiz auf dem Tagesausflug. Oder das Eldorado des White Trash mittelständisch-helvetischer Prägung. In Bouveret gibt es den Swiss Vapeur Parc, mit Eisenbahnen zum Draufsitzen und heimatlichen, kleinmassstäblichen Sehenswürdigkeiten zwischen Alpenmassiv und Juraketten. Daneben ragt der Aquaparc in den See wie ein bunter Oktopus.  

Als Kind hatte er die steilen Rutschbahnen und den Geruch von Chlor geliebt. Jetzt war er bald dreissig. Die Beleuchtung war ihm zu hell, die Kinder zu laut und die Erwachsenen blieben ihm ganz schleierhaft. Die Anlage schien baulich darauf ausgelegt, dass die Gäste vom Personal ständig beobachtet werden konnten. Jeder Winkel war ausgeleuchtet, jeder Weg entweder angezeigt oder versperrt und in manchen Ecken lugten Kameras in den Raum, hinter denen sich womöglich irgendwelche Spanner vom Sicherheitsdienst eine gute Zeit machten. Die Kinder, die davon noch keine Notiz nahmen, rannten die Hallen rauf und runter. Die älteren Gäste machten es sich auf weissem Plastik gemütlich oder lauschten der Dur-Pentatonik im Klangbad. Auf der Suche nach seiner kindlichen Erinnerung schlich er also durch die Anstalt, vielleicht eine halbe Stunde lang. Endlich fasste er den Entschluss, eine Rutschbahn auszuprobieren. Oben auf der Plattform blies der Wind und stellte ihm die Brustwarzen auf. Als die Ampel einwilligte, schickte er sich in die Röhre …

 

Ich sollte hier etwas zum Verhältnis von Mainstream und Nische schreiben, insbesondere auf dem Gebiet der Popmusik, wo ich mich gerne aufhalte. Aber jeder irgendwo angenommene Mainstream, wie er auch am Beispiel einer mehrheitsfähigen Freizeittechnologie aufscheint, wird erst mit der Frage nach seinen Gegenüberstellungen interessant. Sind es die Nischen, parallele Mainstreams oder alles gleichzeitig, was das Konzept von Mainstream und Nische konstituiert – oder aus dem Gleichgewicht bringt? But let’s have some music now, huh: 

Man kann sich zum Beispiel fragen, ob das wirklich so war, damals im 20. Jahrhundert, als alle auf den gleichen Mond geguckt haben – the white side of the moon. In Woodstock beispielsweise, das im kulturellen Gedächtnis der westlichen Welt bis heute für die historische Gleichzeitigkeit von Gegenkultur, Mainstream und Zeitgeist steht. Mythisch überblendet von Acid und Gewittern und einem historisch wenig haltbaren Dokumentarfilm. Und jetzt, wiederum dank einer Dokumentation, wird bekannt, dass Woodstock eine schwarze, sehr politische Zwillingsschwester hatte. Der Schlagzeuger und Regisseur Questlove erzählt in Summer Of Soul (…Or, When the Revolution Could Not Be Televised) vom grössten afroamerikanischen Musikfestival der Geschichte, das im Schatten der weissen Hippiebewegung vergessen gegangen war und dessen Dokumentation, 40 Stunden Film, ein halbes Jahrhundert in irgendeinem Keller verstaubte, weil sich damals kein Produzent für die Erzählung dieses Black Woodstock begeistern liess. 

Am porträtierten Harlem Cultural Festival, das nicht auf irgendeinem Rübenacker im Hinterland, sondern in New York City und vor 300’000 Leuten stattgefunden hat, traten mit Nina Simone, B. B. King, Mongo Santamaría, Stevie Wonder, Mahalia Jackson und vielen anderen wichtige Vertreter*innen der afroamerikanischen Pop- und Jazzgeschichte auf. Es ging um wirkliche Politik: Black Panthers schmissen den Sicherheitsdienst, weil sich die städtische Polizei geweigert hatte, der Prediger Jesse Jackson sprach im Geist Martin Luther Kings zu den Leuten und Nina Simone rezitierte in die Menge: Are You Ready, Black People? 

War das nun Mainstream oder Gegenkultur – oder im Hinblick auf die kulturelle Hegemonie weisser Deutung gar ein riesiges Nischenereignis? Wieso steht das erst heute in den Feuilletons der westlichen Welt (dafür aber in so ziemlich jedem) und was erzählt es uns, wenn die Streamingmaschine Disney+ den Film on-demand in die deutschsprachigen Stuben sendet? Und wenn wir schon bei antiquierten Empfänger*innen sind: Machen wir mal das Radio an, zum Beispiel im Auto, zum Beispiel an einem Wochentagsmorgen auf der Fahrt nach le fucking Bouveret am Genfersee.  

Auf SRF 1 läuft Nek, der italienische Schmusesänger, lascia che io sia. Der erste nationale Sender bringt den Mainstream der Babyboomer, Rockismus, «echte Musik», Country, Folk und Schlager. Es ist, grob gezeichnet, die Musik jener von Woodstock und der Hippiekultur geprägten weissen Mittelstandsgeneration, die zwar lange Haare getragen hat und ein paar Akkorde auf der Gitarre konnte, aber nichts angezündet hätte (auch nicht die Gitarre). 

Auf SRF 2, Zusatz Kultur, empfängt das Gerät zur selben Zeit Haydns Cembalokonzert in F-Dur. Der Mainstream des akademischen Kulturbürgertums, unaufdringlicher Jazz etwa, unter «Weltmusik» zusammenramisiertes oder eben einen Griff aus dem Kanon der klassisch-europäischen Kunstmusik. 

SRF 3 spielt Kanye Wests Love Lockdown – den zeitgenössischen angelsächsischen Popmainstream, ein paar ältere Hits und Spitzlichter auf arrivierte helvetische Künstler*innen. 

Dann, Röstigraben endlich überwunden, deutlich hörbar auf RTS Couleur 3: Da spielt die Sendung Brooklyn Maputo – urbane, zumeist black music aus verschiedenen Zeiten, les sonorités d’ailleurs, Musik von anderswo, viele Originale und Erben und Epigonen dieses vergessenen Summer of Soul, der heute endlich im Gespräch ist. 

In der vereinfachten Spiegelung mittels nationaler Radioprogramme auf der Ultrakurzwelle zwischen West- und Restschweiz erscheint die Beziehung von Mainstream und Nische bereits mehrfach verkompliziert. Wenn man erst die Internetradios befragen würde, die Streamingdienste und alle weiteren mehr oder weniger obskuren Kanäle menschlicher Verständigung mit und über Musik, auf allen Kontinenten – könnte man in dieser Unendlichkeit von parallelen Mainstreams und sendungsfähigen Nischen überhaupt noch von einem solchen Dualismus ausgehen? 

Der Mainstream sei überhaupt tot, hört man gerne sagen. Man kann diese und ähnliche Behauptungen ebenfalls als theoretischen Mainstream der Postmoderne bezeichnen. Die Argumentationslinie geht dann so: Was uns einmal geeint habe, das sei verschwunden. Michael Jackson ist tot. Und spätestens das Internet habe heute alle Paralleluniversen, Nischen und Zufluchtsorte erschlossen und das popkulturelle Andere, das Randständige, das Subkulturelle, das dem Mainstream immer gegenübergestanden habe und in dessen Schatten alternative Realitäten verhandelt wurden, verwertbar gemacht und nivelliert. Das Besondere sei heute generell. Das Singuläre jetzt das Normale. Der Mainstream, wie er das 20. Jahrhundert geprägt habe, sei einer unendlichen Vielzahl von personalisierten Streams gewichen, keiner so gross, wirklich Mainstream zu sein, wirklich Michael Jackson zu sein. 

Eigentlich nur noch Nischen – und damit keine mehr, weil alles verwertet werden kann, ausgeleuchtet ist und für alles ein Kanal, eine Kundschaft besteht? Ist die Nische tot, weil die Reibung mit ihrem Gegenstück, einer irgendwie konsistenten Idee von Mainstream, verloren ist? Vielleicht wirken die beiden Antipoden am besten noch im Aquaparc aufeinander ein, gewissermassen als Karikatur der weissen, wohlhabenden und gelangweilten Schweiz. Mein schüchterner Freund hatte den Gang der Dinge, wir erinnern uns, mit einer Rutschbahnfahrt zu akzeptieren versucht und kommt eben im Auslaufbecken angebraust: 

Er hatte leichte Rückenschmerzen, auch war ihm die Badehose verrutscht und er sah keinen Grund, den Ablauf zu wiederholen, wieder hochzusteigen, auf keine Rutschbahn dieser Welt. Er verlegte sich deshalb wieder aufs Schleichen. Er wollte ganz durchsichtig werden. Er wollte ganz in der Masse aus weissen Körpern und bunter Bademode absinken und es war ihm, als würde er in diesem Zustand ganz leicht. Er glitt luzid über die Fliesen. Auf einmal stand er vor einer verdächtig halbhohen Aussparung in der Wand, die ihn interessierte und aus allen Träumen riss. Er schaute sich kurz um und bückte sich, sodass er den Durchgang, der unter einer der schnelleren Rutschbahnen durchführte, in der Hocke durchqueren konnte. Eine kleine Treppe führte ihn in einen fast leeren, gedrungenen Raum, in dem es anders roch, nicht nach Chlor. Als einziges Objekt hing ein schwarzer Boxsack von der Decke. Er vergewisserte sich, vielleicht eine halbe Minute lang, dass niemand ausser ihm zugegen war und keine Kamera ihn beobachten konnte. Dann drosch er von einer wunderbaren Manie überkommen auf das Übungsgerät ein, eine halbe Stunde lang oder mehr. 

Es gehört zu den gängigen Erzählungen der Moderne, dass die einmal vor Ausdruck leuchtende Künstlerin zuerst in der Anonymität der Masse, typischerweise einer Grossstadt, versinken und verschwinden muss, um das Besondere zu werden. Nische und Mainstream bedingen sich. Sie stehen in einem Verhältnis der Reibung, das sich jedoch über ihr (nicht zwingendes) subversives Moment hinaus stabilisieren kann. Nischen können so im Mainstream arrivieren, ja, selbst Mainstream sein. Die Popkultur kennt viele Beispiele: Dem Nachtclub, dem Hardcorerap und einem guten Haufen Verschwörungstheorien um Michael Jacksons Tod ist gemeinsam, dass sie zugleich eine Nische bedienen und subversionslos im Hauptstrom stattfinden können. Die zu wirklichen Umstürzen fähigen, obskuren kulturellen Orte abseits des Mainstreams, die heute mit Sicherheit irgendwo existieren, zeichnen sich nicht durch ihre exemplarische Nischenhaftigkeit aus. Sondern gerade dadurch, dass wir sie (noch) nicht kennen.