«Die Vielfalt der Ordnungen und Unordnungen macht die Kunst aus»
Wie unterscheiden sich konservatorische und kuratorische Ordnungsversuche? Zum Roundtable der HKB-Zeitung trafen sich in der Mediothek der HKB Dörte Doering, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Konservierung und Restaurierung mit Vertiefung Moderne Materialien und Medien, und Kate Whitebread, Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Kuratorin der HKB Kunstsammlung.
In unser Gespräch möchte ich mit Paul Feyerabend einsteigen, dem österreichischen Philosophen, geboren vor 100, gestorben vor 30 Jahren. Eine seiner letzten Publikationen: Wissenschaft als Kunst. Der weltberühmte Polemiker vertritt die These, wonach die Wissenschaft wie die Kunst ihr eigenes Ordnungssystem pflegt, indem sie verschiedene Fächer, Fachbereiche oder Disziplinen definiert. Und in diesen Bereichen gelten jeweils eigene Arbeitsweisen. Feyerabend sagt, dass die Wissenschaft genauso wenig allgemeingültig und objektiv ist, wie es die Künste sind. Wir reden heute über konservatorische und kuratorische Zugänge zur Kunst – man könnte auch sagen: aus wissenschaftlicher und künstlerischer Sicht. Mich nimmt wunder, welche Perspektiven ihr einnehmt. Zum Einstieg aber eine persönliche Frage: Wo kommt ihr her und was macht ihr an der HKB?
KW: Ich bin seit einem Jahr Kuratorin der HKB Kunstsammlung. Diese Sammlung von Diplomarbeiten von Studierenden gibt es seit 15 Jahren. Meine Stelle wurde neu geschaffen, um Ordnung in die Sammlung zu bringen. Ich habe an der Universität Essex Kunstgeschichte und Philosophie und an der ZHdK Kulturpublizistik studiert. In Bern kuratiere ich seit 2015 unter anderem in der Galerie DuflonRacz, die als Schnittstelle zwischen Projektraum, Verkauf und Vermittlung funktioniert.
DD: Ich bin seit 10 Jahren an der HKB, im Atelier Moderne Materialien und Medien und betreue dort die Studierenden, Projektarbeiten, Einzelarbeiten. Vorher habe ich als Restauratorin an verschiedenen Projekten und in mehreren Institutionen gearbeitet. Ich habe Kunstgeschichte studiert und nach dem Vordiplom abgebrochen, weil es mir zu theoretisch war. Dann war ich an der Kunstgewerbeschule, die war mir dann zu kreativ oder ich war nicht kreativ genug. In der Restaurierung kamen dann meine verschiedensten Interessen zusammen. Das Naturwissenschaftliche, aber auch die Kunst. Für mich kam dabei nur die zeitgenössische Kunst infrage, weil die mich am meisten berührt.
Was löst das Wort Ordnung bei euch aus?
KW: Ordnung ist Voraussetzung, überhaupt etwas erarbeiten zu können. Aber auch etwas, womit ich auf persönlicher Ebene kämpfe. Wenn ich an Ordnung denke, verstehe ich es primär als Gedankenordnung und weniger als Anordnung von Objekten im Raum. Ich mag auch das Wort Einordnen – von Gedanken, von Ideen, von Dingen, die nicht so materiell greifbar sind. Struktur ist etwas, was ich brauche, um überhaupt einen Gedanken fassen zu können. Denken heisst, in eine Ordnung eingreifen, die man verändert, durcheinanderbringt, neu ordnet. Das ist grundsätzlich die Art, wie ich arbeite, ob ich einen Text schreibe oder kuratiere. Es geht immer auch um Ordnung.
DD: Mir geht es ähnlich. Persönlich bin ich ein unordentlicher Mensch, aber ich schätze Ordnung in verschiedenen Bereichen sehr. Ich finde sie hilfreich, um Sachen und Ideeneinzuordnen, auch Strukturen sind mir wichtig. Bei der Restaurierung ist ein ordentlicher Arbeitsplatz das A und O. Grenzen sind gut, weil man sie auch sprengen kann oder sich an ihnen manchmal reiben muss.
Du arbeitest ja in der Vertiefung Moderne Materialien und Medien. Kannst du für den Bildungslaien kurz erläutern, was eine Vertiefung ist?
DD: Eine Spezialisierung innerhalb des Fachbereichs Konservierung und Restaurierung. Bei den sogenannten «modernen Materialien» stand am Anfang das Bedürfnis, mit Kunststoffen, die in der zeitgenössischen Kunst verwendet werden, einen konservatorischen Umgang zu finden. Nach und nach hat sich aber herausgestellt, dass moderne Materialien weit über Kunststoffe hinausgehen. Das sind Lebensmittel, eingelegte Tomaten, Schokolade, das sind Pflanzen, das kann alles Mögliche sein. Es sind konzeptionelle Arbeiten oder auch digitale Kunstwerke, wo man sich fragen muss, wo überhaupt noch Material ist. Die Vertiefung Moderne Materialien und Medien hat sich entsprechend im Lauf der letzten 20 Jahre stark entwickelt.
Was greifen für Kategorien, für Begriffe, was für ein Ordnungssystem, um den Zugang zur zeitgenössischen Kunst zu finden?
DD: Aus konservatorischer Sicht ist es am besten, beim Ankauf der Kunst dabei zu sein. Das ist der erste Schritt für eine längerfristige Erhaltung und nicht erst, wenn etwas kaputt ist. Die Ausgangsfragen lauten: Was habe ich hier überhaupt? Was ist das für ein Kunstwerk? Zum Beispiel ein Kunstwerk in Form einer digitalen Datei. Es existiert in diesem Moment nicht einmal, sondern erst, wenn ich etwas tue. Oder auch bei einer installativen Arbeit muss ich mich fragen: Was ist das jetzt, was ich hier habe? Sind es diese drei Objekte? Ist es der Raum? Ist es die Anordnung? Ist es variabel, ist es nicht variabel? Das sind die allerersten Schritte, bevor ich überhaupt zu einem Konservierungskonzept kommen kann.
KW: Liegt das auch daran, dass bei diesen Kunstwerken die Grenzen von Anfang an weniger klar definiert sind als bei einer Malerei, wo die Materialien klar sind, der Träger klar ist? Bei einer Arbeit, die aus sehr vielen Materialien besteht, sind diese vielleicht auch ersetzbar oder sie ändern sich mit der Zeit. Anders als bei einem physischen Objekt, das bereits seine innere Ordnung hat, die unveränderbar ist.
DD: Die Variabilität des Kunstwerks ist auch ein Teil, der konserviert werden muss. Und das bedeutet, es braucht ganz andere Ansätze als zu sagen: Ich will nur das Glas als Glas erhalten. Wenn ich ein römisches Glas habe, geht es hauptsächlich um das Material, aber wenn ich das innerhalb eines Kunstwerks habe, geht es um etwas anderes.
Erinnert mich an die oft gestellte Frage: Was ist überhaupt Kunst? Ein Objekt, eine Präsentation oder Performance zu sichten, heisst auch, zu überlegen, was es ist und was daran Kunst ist. Salopp gesagt: Die Kunst, die für viele Menschen in eine Unordnung geraten ist und wo sie nicht mehr wissen, was das überhaupt soll oder was das ist.
KW: Die klassische Anekdote ist die Reinigungskraft, die Ordnung schafft und im Ordnungschaffen das Kunstwerk zerstört. Es ist ja nicht nur ein Mythos, es passiert tatsächlich ständig.
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Stellt sich für deine kuratorischen Arbeiten auch ab und zu die Frage: Was hat das mit Kunst zu tun oder was daran ist Kunst?
KW: Ja bestimmt, wobei sich eher die Frage stellt: Wie ist es Kunst? Ich verfolge den Ansatz, wenn jemand sagt, das ist Kunst, und sich diese Person Künstler*in nennt und wir das in einem bestimmten Kontext verhandeln, geht das in Ordnung. Aber das «Wie, was macht es zur Kunst?», das sind Fragen, die ich den Kunstschaffenden immer wieder stelle. Man bietet ja auch eine gewisse Reibungsfläche für die Kunstschaffenden, um selbst die Arbeit zu reflektieren, um zu schauen, was passiert, wenn sie die Arbeit jemandem erklären. Ein Beispiel, welches wir diesen Sommer in der Ausstellung der HKB Kunstsammlung hatten, war das Werk von Ivan Mitrovic. Das ist eine verschlossene Holzkiste, eine kleine Kunsttransportkiste. Man sieht nicht was drin ist und darf sie nicht öffnen. Sie ist mit einer Geschichte verbunden, mit einem Text den er geschrieben hat, der aber keinen direkten Hinweis auf den Inhalt gibt und der das Werk nicht erklärt. Die künstlerische Geste erschliesst sich, indem man den Text liest und sich vielleicht ähnliche Fragen stellt, die sich der Künstler gestellt hat, und dass man selbst Assoziationen hereinbringt.
Was war die kuratorische Arbeit bei diesem Objekt? Bist du mit dem Kunstschaffenden in eine Auseinandersetzung gegangen, wie dieses Kunstwerk entstanden ist?
KW: Nein, aber ich musste wissen, was und wie viel er darüber aussagen möchte, was in welchem Verhältnis steht. Darf die Kiste für die Sammlung geöffnet werden oder nicht? Was sind die Parameter des Werks und welche dieser Parameter definieren das Kunstwerk? Das erinnert mich an das, was du vorhin gesagt hast, Dörte. Was ist veränderbar und was nicht? Das muss auch ich als Kuratorin verstehen.
DD: Ich kenne das Werk, ich habe es an der Vernissage gesehen. Eine Holzkiste als mittelalterliche Truhe würden wir anders konservieren als dieses Werk. Dieses Werk existiert nur mit der Intention und den Aussagen des Künstlers. Dann stellen sich Fragen: Was ist es, was wir erhalten müssen? Sind es die Aussagen des Künstlers? Kann diese Kiste jedes Mal anders aussehen? Oder ist es genau die Kiste, die wir erhalten müssen? Es ist darum so wichtig, dass wir Künstler*innen-Interviews führen, um ein Restaurierungskonzept zu erstellen. Wir müssen diesen Prozess und diese Aussagen genauso dokumentieren, um das Werk erhalten zu können.
Auffällig zu hören, dass kuratorische Arbeit und konservatorische Arbeit – wir haben ein Objekt konkret beschrieben – ähnliche Fragen stellen.
KW: Das Gespräch, welches ich mit Ivan Mitrovic geführt habe, funktionierte nicht nach bestimmten Strukturen oder Kriterien. Es ging darum, das Ausstellungsprojekt zu definieren und zu begleiten. Es ist eine Auseinandersetzung und praktische Arbeit, welche auf einer persönlichen Ebene mit den Kunstschaffenden abläuft, im Sinne einer sprachlichen, inhaltlichen, manchmal auch affektiven Annäherung rund um das Werk. Dabei spielen oft auch andere Fragen mit: Wie gut kennt man die Kunstschaffenden und ihr Werk? In welchem gemeinsamen Netzwerk bewegt man sich?
DD: Unsere Arbeit ist auf die Zukunft ausgerichtet, und zwar auf eine lange Zukunft. Sie ist nicht nur für zwei oder drei Jahre gedacht, sondern eher für 50 oder 100 Jahre. Dabei stellt man andere Fragen und verfolgt die Prozesse anders. Bei der Interviewsituation mit den Künstler*innen haben wir daher auch eine andere Intention, wobei wir uns da natürlich auch an wissenschaftliche Standards halten, wie wir das Interview führen.
Der Zeithorizont ist ein anderer. Du sprichst von einer längeren Zukunft – sicher auch verbunden mit der Idee für die Ewigkeit?
KW: Kuratieren im Sinne von Ausstellungen machen ist auch eine Reaktion auf bestimmte Zeitströmungen, auf Momente, auf bestimmte Konstellationen von Menschen, von Gegebenheiten, von Gedanken und aktuellen Themen. Ja, es geht darum, Ordnung zu schaffen, Dinge zusammenzubringen und auseinanderzuhalten, aber auf eine Art und Weise, die oft näher am Journalismus liegt als an der Wissenschaft.
DD: Naja, die Ewigkeit, glaube ich, existiert nicht. Die Haltung ist: so lange, wie es geht. Es gibt Dinge und Situationen, wo von Anfang an klar ist, dass es nicht von langer Dauer sein wird, sei es von den Materialien her oder von der Intention her. Für unseren Beruf als Konservator*innen und Restaurator*innen gilt ein Ethikkodex, auch in der Ausbildung. Vieles ist darin geregelt. Genauso wie auch die Naturwissenschaften den bekannten Regeln folgen. Aber wie du vorhin erwähnt hast, ist auch die Wissenschaft immer subjektiv und es gibt einen Spielraum, wie man etwas tun kann.
Du hast einen Ethikkodex erwähnt. Wie würdest du den beschreiben?
DD: Die Abgrenzung zwischen Kunsthandwerk und Restaurierung ist historisch gewachsen, wobei Restaurierung keine geschützte Bezeichnung ist. Jede*r kann sich Restaurator*in nennen. Deshalb hat man sich zusammengesetzt und einen internationalen Ethikkodex verfasst, um Grundsätze und Verpflichtungen für Restaurator*innen zu definieren, an die wir uns halten. Und durch den Abschluss an einer Hochschule ist das garantiert.
Was sind die Kriterien?
DD: Zum Beispiel: Wie geht man an ein Kunstwerk heran? Mit Respekt vor dem Kunstwerk. Ein Kunstwerk besteht nicht nur materiell, sondern es hat auch eine Geschichte, die in einem sozialen, geschichtlichen Kontext entstanden ist. Dass man ein Konservierungskonzept auf naturwissenschaftlichen und kunstgeschichtlichen Erkenntnissen fussen lässt, ist auch eine Vorgabe – und dass man mit anderen Berufsgattungen zusammenarbeitet.
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Wie sieht das bei dir aus? Du stellst diese Holzkiste aus. Was passiert dann für dich als Kuratorin mit dieser Kiste, wenn die Ausstellung vorbei ist?
KW: Das Ausstellungsmachen und die Pflege einer Sammlung sind zwei unterschiedliche Aspekte kuratorischer Arbeit. Ersteres bedeutet für mich, Objekten Leben einzuhauchen –mit den Kunstschaffenden einen Bezug zu anderen Dingen, zu Räumen, zu Ideen, zu anderen Werken schaffen. Es kann sein, dass Werke anders ausgestellt werden als in einer vergangenen Form. In solchen Situationen muss man das mit den Kunstschaffenden besprechen. Darum teilen wir einen Wert: Der Respekt vor dem Werk. Wenn eine Umordnung passiert, geschieht dies bewusst und wird dokumentiert. Bei der Pflege einer Sammlung, zum Beispiel hier an der HKB, werden Werke langfristig begleitet. Nach der Ausstellung geht das Werk zurück ins Lager und wir betreuen es dort. Im digitalen Archiv wird es dokumentiert und aufgearbeitet.
Ich habe die Frage persönlicher gemeint. Du hast vorhin gesagt, Kuratieren sei auch persönliches Engagement. Man lässt sich auf Künstler*innen ein, es hat auch mit Emotionen zu tun, mit Setzungen, mit Respekt. Dann aber ist die Ausstellung vorbei. Ist das für dich persönlich auch immer wieder ein bisschen Abschied nehmen von bestimmten Kunstwerken?
KW: Bei der Betreuung einer Sammlung ist dieser Abschied weniger intensiv als bei Wechselausstellungen in der Galerie, zum Beispiel. In der HKB Kunstsammlung sind jetzt ungefähr 60 Werke, von denen wir bis jetzt 10 ausgestellt haben. Es kommen jedes Jahr neue Werke in die Sammlung und wir betreuen diese langfristig. Da gibt es viel mehr Kontinuität. Ansonsten: Ja, Abschied tut mir manchmal weh, aber es ist auch mit Freude verbunden: die Erleichterung, dass ein Projekt abgeschlossen ist, die Neugier auf den sich verändernden Raum.
DD: Bei uns sind die Objekte meistens viel länger im Atelier, weil sie in die Lehre eingebunden sind, auch mal über mehrere Jahre. So kann ein starker Bezug entstehen. Wenn es dann tatsächlich so weit ist, dass wir einen Prozess abschliessen und sagen: jetzt bringen wir das Werk zurück, heisst es auch für uns Abschied nehmen.
Kannst du etwas dazu sagen, wie viele Objekte im Fachbereich Konservierung und Restaurierung im Haus sind?
DD: Wir haben nur Kunstwerke hier, die wir gerade bearbeiten. Wir nehmen keine ins Depot. Aktuell sind es vielleicht 12 Werke im Atelier Moderne Materialien und Medien.
Was sind das für Methoden, mit denen ihr die Kunstwerke untersucht?
DD: Wir bedienen uns bei anderen Wissenschaften, bei den Naturwissenschaften Chemie und Physik, um die Werke mit bildgebenden Verfahren und mit analytischen Methoden zu untersuchen. Wir müssen ja sehr viel über Materialien und Herstellungstechniken wissen. Die Kunstwissenschaften helfen uns, das Kunstwerk im Kontext zu erfassen. Bei den Künstler*innen-Interviews greifen wir zu sozialwissenschaftlichen Methoden.
Wie unterscheidet sich in deiner Arbeit wissenschaftliches Denken von künstlerischem Denken? Gibt es da auch Widersprüche?
DD: Die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit und mit der Natur ist in einem künstlerischen Kontext ganz anders. Wenn ich mich als Künstlerin mit Flechten beschäftige, habe ich da sicher andere Methoden, als wenn ich mich als Biologin mit Flechten beschäftige. Für mich ist der Unterschied, dass die naturwissenschaftlichen Methoden in der Beschäftigung mit den Flechten viel enger gesetzt sind und auch das Resultat vielleicht schon definiert ist, im Gegensatz dazu bei einer künstlerischen Auseinandersetzung.
Inwiefern ist das Resultat schon definiert? Das Format?
DD: Im Rahmen der naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Flechten gibt es ja schon ganz viel, was erforscht worden ist, was ich bestätigen, ausbauen oder widerlegen kann. Wenn ich mich damit als Künstlerin beschäftige, kann ich sehr viel mehr andere Aspekte beleuchten, die vielleicht noch gar nicht klar sind oder entstehen können oder bei denen auch eine andere Intention dahinter ist.
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Die künstlerische Methode verlangt Offenheit. Kate, wie siehst du das?
KW: Ich stimme dem zu. Es hat nicht nur mit Offenheit zu tun, sondern auch mit einem ständigen Befragen der Bedingungen, die im künstlerischen Denken eher möglich sind als im wissenschaftlichen. In den Künsten ist das Vorgehen – von Experiment zur Erkenntnis – fragender und vernetzter. Man hat einen Gedanken, der sich mit einem anderen verknüpft, dann hat man etwas Drittes, das ins Spiel kommt. So kann man Fragen anders stellen und auch wieder anders beantworten. Das erscheint vielleicht sprunghaft, erfasst aber dadurch mehr Zusammenhänge. Das ist keine Unordnung, sondern ermöglicht, festgefahrene Strukturen aufzulösen.
DD: In den Naturwissenschaften geht es immer um eine Rechtfertigung, im Sinne einer Nachvollziehbarkeit. Man muss die Ergebnisse beweisen, das ist bei der Kunst nicht so.
KW: Wobei sich das in der Kunst gerade stark ändert: Professionalität und Kriterien sind in der Kunst ein grosses Thema. Es wird verlangt, dass man nachvollziehbare Ergebnisse oder eine gesellschaftliche Relevanz vorweisen kann, besonders um Fördergelder zu beantragen. Viele Menschen, die mit Kunst zu tun haben, auch ich persönlich, stehen dem kritisch gegenüber – aber andererseits wandelt sich der Kunstbetrieb und damit auch der Kunstbegriff immer in Bezug auf solche gesellschaftlichen Bedingungen.
Kunst erlaubt sich ja auch, eine Behauptung zu sein und gar nicht zu beweisen, dass es Kunst ist. Die Frage ist, ob das die Wissenschaft wirklich so lupenrein macht, wenn sie behauptet, jedes Resultat ist nachvollziehbar oder jede Aussage ist schliesslich beweisbar.
KW: Das ist eine wichtige Frage und eine berechtigte Kritik. Aber dass man innerhalb des bestehenden Ordnungssystems die Wissenschaft als Wissenschaft anerkennt – zu Subventions- oder Veröffentlichungszwecken, zum Beispiel –, beruht trotzdem stark auf dieser Behauptung einer Nachvollziehbarkeit, ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Was die Kunst als Wissensform ausmacht, ist hingegen ständig im Wandel – da sind nicht lineares Denken und offene Prozesse genauso möglich wie ein dreiseitiger Ergebnisbericht als integraler Bestandteil eines künstlerischen Projekts. Für mich macht die Vielfalt der Ordnungen und Unordnungen die Kunst aus.