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N°2/2022
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Die sechste Welle

Der Krieg gegen die Ukraine hat auch in Russland eine breite Emigration ausgelöst. Russische Künstler*innen, Intellektuelle, politisch Aktive sehen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die gegenwärtige Emigration aus Russland ist die Fortsetzung einer jahrhundertealten Tradition.

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(*1986) ist eine in Russland geborene Komponistin und Performerin, die derzeit in Bern lebt. Sie studierte 2012–2017 an der HKB Jazz Performance und Composition & Theory.

Berner Altstadt. In der Strasse herrscht Stimmengewirr. Menschen lachen, Gläser klirren, irgendwo wird schlecht Klavier gespielt. Zwischen dicht aneinanderstehenden Häusern hallen Satzfetzen hin und her … Es ist so friedlich und mühelos normal, aber in meiner derzei­tigen Weltwahrnehmung ist alles in einen klebrigen Schleier des Bewusstseins eingewickelt, dass, während meine Familie in Angst und Schrecken in Russland lebt, russische Bomben auf andere Angehörige in Charkow fallen.

Ich sitze im Backstage des Theaters, in dem ich den literarischen Abend musikalisch untermale. Vor der Autorin Mireille Zindel liegt das Buch Die Zone. In meinem Kopf ergibt sich eine sofortige Schleife zurück in meine Kindheit in einer geschlossenen Stadt, in der die Leute ein eingezäuntes Gebiet, in dem übrigens hunderttausend Menschen leben, tatsächlich «die Zone» nannten: «Hast du ausserhalb der Zone Pilze gesammelt?» «Haben Sie einen Gemüsegarten ausserhalb der Zone?» «Nein, wir sind zum See in der Zone gegangen.» Wenn ich davon erzähle, ziehen die Leute meist die Augenbrauen hoch, und beginnen – in der Vorfreude über den reichen Boden für Witze – über Tarkowskis Stalker zu ironisieren. Oft muss ich am Ende einen Wikipedia-Artikel vorweisen, der beweist, dass die Stadt Sarov wirklich existiert. Als Kinder war es für uns normal, dass im Matheunterricht zeitweise die Fenster­scheiben zu zittern begannen, «ah, am Übungsplatz wird wieder was gesprengt», dass man beim Eintritt in die Stadt spezielle Ausweise vorweisen musste, dass Eltern verboten wurde, das Land zu verlassen, dass Telefone abgehört wurden, dass das Radio immer eingeschaltet sein sollte, falls es Informationen über eine Strahlungsfreisetzung gab.

Umzug ist okay. Umzug ist hilfreich. Nun ist Umzug wieder unausweichlich.
Als Kind verinnerlicht man absurde, auf den Kopf gestellte Dinge als Norm, sie werden in den Stoffwechsel integriert und werfen keine Fragen auf. Wer die Umgebung wechselt, kann sie von aussen betrachten. Von einer kleinen Stadt nach Moskau ziehen. Von Moskau in ein anderes Land umziehen. Dann wieder in ein anderes Land. Der Wechsel der Kultur, der Mentalität und der Sprache des täglichen Lebens reisst einen aus seiner Komfortzone heraus, spornt die Neugier an und zerlegt das System des Urteilens in Bestandteile, die manchmal die engen Kokons von Menschen ausmachen, die sich nie an andere Umgebungen anpassen mussten.

Umzug ist okay. Umzug ist hilfreich. Nun ist Umzug wieder unausweichlich und keineswegs beschämend. Vor allem wenn du fliehst, um «deine Meinung offen äussern zu können, Geld an verschiedene Organisationen zu überweisen, die die Ukraine unterstützen – all das ist jetzt in Russland unmöglich und man kann dafür 15 Jahre ins Gefängnis gehen», sagt mein Freund Sergej Balashow, Schlagzeuger, Sprachwissenschaftler und Journalist, der kurz nach Kriegsbeginn aus Russland nach

Armenien geflohen ist. «Ich möchte in einem wirtschaftlich und kultu­rell offenen Raum leben. Ich vertraue den Einschätzungen verschie­dener Experten zu den möglichen Szenarien, darunter Sergej Gurijew, Professor am Institut d’études politiques in Paris. Er war wirtschaftspolitischer Berater des früheren Präsidenten Dmitrij Medwedew. Er sagt: ‹Wenn Sie in irgendeinem Bereich Karriere machen wollen, müssen Sie Russland jetzt verlassen. Die Diaspora kann mehr erreichen, wenn sie auswandert: Sie zahlt keine Steuern an das Regime, hat wirtschaftlichen Spielraum, nimmt ihr Humankapital mit usw.› Ausserdem beabsichtige ich, Kinder zu haben, und ich möchte nicht, dass sie in der Schule einen politischen Aufklärungsunterricht erhalten, in dem sie die Verbrechen des Putin-Regimes rechtfertigen.»

Ein anderer Kollege von mir, der Musiker Kirill Miloradowsky, antwortet auf die Frage «Warum bist du gegangen?»: «Es ist eine Kombination aus dem Wunsch, nicht für 15 Jahre ins Gefängnis zu gehen, weil man mit der offiziellen Agenda nicht einverstanden ist, und der Einsicht, dass die Opposition endgültig verloren hat und es folglich umso schlimmer wird, je weiter wir gehen. Hier habe ich bis zuletzt an das Gute geglaubt, habe versucht, auf die positiven Aspekte zu achten, bin zu Protesten gegangen. Die Geschichte hat mich ausgelacht.»

10 Millionen russische Auswandernde
Basierend auf den Ergebnissen einer unabhängigen Studie des Portals Takie Dela¹ belief sich die Auswanderung aus Russland für den Zeitraum von 2000 bis 2020 auf vier bis fünf Millionen Menschen. Insgesamt leben laut UNO mehr als zehn Millionen Auswander*innen aus Russland im Aus­land. Dies ist die drittgrösste Zahl nach Indien und Mexiko. Russland zu verlassen – oder, wie es im Slang heisst, «abhauen» –, ist seit Langem eine so gängige Praxis, dass dieses Phänomen seine eigene

Peri­odisierung, Statistik und Terminologie hat. Unter «Russland im Ausland» wird die Gesamtheit der Aktivitäten und Aufenthalte ehema­liger russischer Staatsbürger*innen im Ausland verstanden. Es ist üblich, von «Auswanderungswellen» zu sprechen. Vier im 20. Jahrhun­dert: 1917–1923, 1940–1945, 1961–1986, 1987–1999. Und im 21. Jahrhundert bereits zwei. In der fünften und sechsten Welle haben politi­sch aktive, junge, gebildete und erfolgreiche Grossstädter*innen das Land verlassen. Die sechste, letzte Welle, für die es noch keine Statistiken gibt, begann nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022. Viele meiner Freunde und Bekannten gingen in die Zwangsemigration, haben ihre Karriere, ihr Zuhause und ihre Verwandten verlassen, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll, ohne finanzielle Unterstützung, mit gesperrten Karten.

Es ist symbolisch, dass vor einem Jahrhundert, im Jahr 1922, die sogenannten «Philosophenschiffe»² mit wissenschaftlichen und kulturellen Persönlichkeiten, die in Opposition zum bolschewistischen Regime standen, die Sowjetunion verliessen. Es wurden drei Listen für die Ausweisung erstellt: Moskau, Petrograd und die Ukraine. Die Passagiere durften einen Sommer- und einen Wintermantel, einen Anzug und einen Hut, zwei Garnituren Unterwäsche, zwei Hemden, zwei Paar Unterhosen, Strümpfe und Schuhe mitnehmen. Sie durften weder Geld noch Besitztümer mitnehmen. Etwa zehn Personen kamen, um den Dampfer Oberburger Hacken zu begleiten. «Wir durften nicht auf den Dampfer. Wir standen auf dem Quai. Als der Dampfer in See stach, sassen die Abreisenden bereits ungesehen in den Kabinen. Wir konnten uns nicht verabschieden», erinnert sich Yuri Annenkov, ein russisch-französischer Künstler.

Parameter für das Verlassen Russlands
In der neuen Realität, in der wir uns alle nach dem 24. Februar befin­den, gibt es zwei Hauptparameter für das Verlassen Russlands, sagt Ekaterina Shulman³, eine bekannte Politikwissenschaftlerin, die das Land im April verlassen hat: physische Sicherheit und die Möglichkeit, zu arbeiten. «Neben der Inhaftierung gibt es viele andere Möglichkeiten, das körperliche Wohlbefinden eines Menschen zu stören, seine Gesundheit zu schädigen und sein Leben zu bedrohen. Es gibt

bezahlte Extremisten, die alles Mögliche tun können, einschliesslich Angriffe auf Menschen und ihre Angehörigen. Alles kann passieren, und mit härteren Sitten kann dieses Alles immer vielfältigere Formen annehmen. Jede Entscheidung, zu gehen oder nicht, wird für dich ein beträchtliches Mass an Leid mit sich bringen, also wählt man nicht zwischen Gut und Schlecht, sondern zwischen verschiedenen Arten dieses Leidens.»

Fast jede Russin, jeder Russe hat Verwandte in der Ukraine. Umso lauter die Fragen im Kopf: Warum unterstützen so viele Bürger*innen den Krieg? Wer kann überhaupt einen Krieg unterstützen, wenn er immer Böses und Tod bringt? Warum glauben die Menschen der Propaganda und warum sehen sie sich das alles an? In diesem Zusammenhang gibt es eine hervorragende Studie des Journalisten Shura Burtin, der mehrere Wochen lang mit Bürger*innen der Russischen Föderation gesprochen hat und nun in seinem Artikel «In die Dunkelheit eindringen und die Menschlichkeit darin ertasten»⁴ – leider nur auf Russisch, aber Google Translate hilft – erzählt, wie Angst und Gefühle der Demütigung die Menschlichkeit in ihnen überwunden haben.