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N°1/2021
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«Die Gesellschaft ist digital so stark verbunden wie noch nie. Und trotzdem driftet sie sozial auseinander.»

Jürg Halter ist Schriftsteller, Performer, Alumnus und Beirat der HKB und hat jüngst den Gedichtband Gemeinsame Sprache vorgelegt. Dorothea Baur ist selbstständige Ethikberaterin mit internationaler und interdisziplinärer Erfahrung im Bereich Verantwortung und Nachhaltigkeit. Die HKB Zeitung traf Dorothea Baur und Jürg Halter zur gesellschaftlichen Debatte über Trends, Werte und Argumente, Nachhaltigkeit und Greenwashing, Sagbares und Unsagbares. 

Der Arbeitstitel für dieses Treffen lautet in etwa: «Der Dissident und die Ethikerin – ein Gespräch über Trends». Dissident und Ethikerin sind Begriffe, die im Zusammenhang mit euch ja verwendet werden.
Jürg Halter: (lacht) Sitze ich jetzt auf der Anklagebank und darf mich ein letztes Mal vor der Hinrichtung äussern? Kann ich mit dem Begriff Dissident etwas anfangen? Ja und nein. Ich habe Wertvorstellungen und für die stehe ich ein. Und ich habe bekanntlich ein Problem mit der Doppelmoral. Wenn man grundsätzlich für etwas einsteht, kann man nicht im einen Fall dafür einstehen und im anderen Fall nicht. Ich kenne meine eigenen Werte. Und die vertrete ich nicht nur, wenn alle einverstanden sind, sondern auch, wenn’s Gegenwehr gibt. Und so wird man dann als Dissident beschrieben. Damit kann ich gut leben.  

Der Dissident gar nicht so weit weg von der Ethikerin? 
Dorothea Baur: Das war auch mein spontaner Gedanke. Ich fühle mich ja fast ein bisschen beleidigt, dass ich nicht als Dissidentin bezeichnet werde. Dissidenz ist nicht das Gegenteil von Ethik. Dissidenz und Ethik befruchten sich gegenseitig. Ethik bewegt sich zwischen Dissens und Konsens. Als Ethikerin muss ich bereit sein, mich unbeliebt zu machen. Weil ich meine eigenen Werte, genauso wie Jürg, nicht verkaufen darf. Aber Dissidenz ist kein Selbstzweck. In meiner beruflichen Tätigkeit als Ethikberaterin bin ich aber nicht auf der Mission, meine Werte zu verkünden, sondern meine Berufsethik ist, dass meine Kunden ihre eigenen Werte bewusst suchen und sich auch ihrer Widersprüche bewusst werden.

Dorothea Baur

«Dissidenz ist nicht das Gegenteil von Ethik. Ethik bewegt sich zwischen Dissens und Konsens.» 

JH: Wer beim Einstehen für seine Werte in einen Monolog verfällt, wird selbstgerecht. Man sollte seine eigenen Werte auch immer wieder kritisch hinterfragen. Es gibt viele Themen, bei denen ich so dazugelernt habe.  

Dissident klingt auch ein bisschen stur, quasi selbstgefällig, gefangen in einer Antihaltung.
JH: Darum würde ich diesen Begriff auch nicht für mich selber verwenden. Dissident ist eine Zuspitzung – die passt in gewissen Momenten und Diskussionen. Aus Prinzip eine Antihaltung einzunehmen, ist aber infantil und antiintellektuell.  

Dorothea, könntest du deine Feststellung, dass sich Ethik zwischen Konsens und Dissens bewegt, noch etwas genauer erläutern? 
DB: In einem Diskurs gibt es Konsens und Dissens. Weder das eine noch das andere ist ein Ziel an sich, sondern es geht darum, zu beleuchten und zu behaupten. Ethik sichtet die Werte in einer Gesellschaft und fragt, welche Werthaltungen zu einem Thema eingenommen und vor allem wie sie begründet werden. Einstellungen verändern sich dauernd. Das passiert auch mir. Ethik ist wie eine Taschenlampe, die das Licht auf neue Aspekte richten kann. Deshalb ist Ethik ein Diskurs. Die Kraft des besseren Argumentes finden. 

JH: Voraussetzung ist, dass es um sachliche Argumente geht und darum, mit diesen zu überzeugen. Genau dort beginnen die Probleme: Manchmal werden Argumente nicht akzeptiert, indem man zum Beispiel auf seine Identität zurückgeworfen wird. Das geht etwa so: Als weisser Mann darfst du so nicht sprechen. Sagte das Gleiche eine Frau, jemand aus einer anderen Kultur, würde das Argument aber zugelassen. Derart werden viele Diskussionen vergiftet: Man macht aus der Identität, dem Geschlecht oder der Herkunft ein Argument. So aber ist ein sachliches Gespräch nicht möglich. Damit meine ich selbstverständlich nicht, dass die eigene Identität und Herkunft keinen Einfluss darauf hat, wie man die Sachen sieht. Aber wenn man keinen sachlichen, vernunftbasierten Konsens findet, wie man miteinander sprechen kann, kommt es zu keinen konstruktiven Gesprächen. 

DB: Wir unterscheiden zwischen: Argumentierst du ad rem oder ad personam? Also zur Sache oder zur Person? Was Jürg beschreibt, ist ad personam: Wenn er als weisser CIS-Mann ein Wort sagt, wird ihm eine ganz andere Konnotation unterstellt als einer Frau aus einem anderen kulturellen Kontext. Diese Haltung fragmentiert. Argumente verbinden, derweil die Person für sich alleine steht. Ethik ist die Fähigkeit zum mentalen Rollentausch. Ohne die Fähigkeit, mir vorstellen zu können, was ich beim Gegenüber auslöse, wenn ich das und das tue, besteht keine Gemeinschaft mehr. 

JH: Jemanden zu verstehen versuchen heisst ja nicht, ihr oder ihm recht zu geben. Jemanden zu verstehen versuchen setzt eine nicht selbstgerechte, nüchterne Empathie voraus. Und Empathie meint eben nicht zustimmen, sondern dass man sich in jemand anderen hineinversetzen kann, um besser zu verstehen, wie er zu seiner Sichtweise kam. 

Du hast den Titel gesetzt: Gemeinsame Sprache. Ist die gemeinsame Sprache als gesellschaftsfähiger Kitt kaputtgegangen?
JH: Die Digitalisierung hat die Gesellschaft immer mehr zersplittert. Online findet man viel schneller Gleichdenkende, man macht es sich schneller bequem. Digital kann man immer ein perfekt auf sich selbst zugeschnittenes Angebot finden. Je tiefer man in eine spezifische Bubble reingeht, desto intoleranter wird man auch gegen alles, was ausserhalb passiert, und desto empörter reagiert man, wenn man dann mit jemandem zu tun hat, der oder die vielleicht nur zu 95 Prozent der gleichen Meinung ist. Dieses Freund*in-Feind*in-Denken ist gefährlich. In der Offline-Welt kannst du dir die Leute nicht immer aussuchen, musst lernen, dich mit ihnen zu arrangieren.  

Von dir, Dorothea, habe ich den Satz gelesen: «Es ist eine moralische Pflicht, sich zu beteiligen.»
DB: Die Corona-Krise hat – allem Digitalisierungsboom, Homeoffice und Online-Shopping zum Trotz – eine national oder sogar lokal fokussierende Wirkung. Wir stecken alle in derselben Gemeinschaft, in der wir uns auf Regeln einigen müssen, die einen direkten Impact haben auf unser Leben, unseren Alltag. Es nützt mir nichts, wenn ich mich mit anderen Leuten, die gleich über Corona-Massnahmen denken, aber online über die Welt verstreut sind, zusammentue, denn das Corona-Problem müssen wir lokal ausdiskutieren. Lange hatten wir kein derart akutes, politisch manifestiertes Problem, das uns so direkt und unmittelbar betraf. Es wird uns deutlich gemacht, wie wichtig es ist, die richtigen Leute in die Politik zu wählen, denn das sind die, die in solchen Krisen konkret über unser Leben oder unsere Lebensumstände entscheiden. Also sage ich: Engagiert euch! 

Die Krise – die passt ganz gut zu uns.
JH: Wir sind uns bewusster geworden: Dem eigenen Körper und den Räumen, in denen er sich bewegt, sind Grenzen gesetzt. Andererseits leben wir jetzt noch viel stärker im digitalen, grenzenlosen Raum. Einen der Hauptwidersprüche sehe ich darin, dass die Gesellschaft digital so stark verbunden ist wie noch nie. Und trotzdem driftet sie sozial auseinander.  

Ein Zitat aus Jürgs Buch: «Wir sind krank nach uns selbst und den schönsten Orten der Welt.»
JH: Gedichte entstehen im Irgendwo zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Was ich mit diesem Gedicht angesprochen habe: die Sehnsucht des heutigen Menschen, sich selbst als zu optimierendes Ideal zu sehen – am besten inszeniert an den schönsten Orten der Welt. Das fast schon Perverse daran: Wir lassen uns sagen, wo diese schönsten Orte liegen. Dieser ganze Individualmassentourismus, in dem sich alle in diesem einen hippen Café, das ein Geheimtipp ist, treffen. Alle sitzen mit ihren Smartphones brav dort und konsumieren nett. Dieser weltweite, endlose Globalisierungsdesignmischmasch ist eigentlich empörend. Die Innenstädte der wichtigen Metropolen gleichen sich immer mehr. Viele dieser vorab durchgeplanten Städtereisen könnte man tatsächlich zu Hause vom Sofa aus, im digitalen Raum, unternehmen … 

… machen wir ja jetzt …
JH: … aber unfreiwillig.  

Du, Dorothea, hast dazu gesagt: «Es geht der Generation Instagram um die Kontrolle des eigenen Contents.»
DB: Bei Jürgs Zeilen dachte ich an die Instagramers, die in dieser Bucht auf den Bahamas mit Schweinen schwimmen gehen. Ich bin sicher, da sind eigentlich 1000 Leute an diesem Schweinestrand, aber sie inszenieren sich als einzelne Person. Dieses Bild will mir nicht aus dem Kopf. Wir sind von Narzissmus ergriffen, und dieser generiert viele Widersprüche: Alles geben wir preis im Lifestyle, auf Social Media, wir inszenieren und optimieren persönliche Details. Aber wenn es beim Contact Tracing darum geht, einen minimalen Teil der Privatsphäre zu teilen, zugunsten der öffentlichen Gesundheit, werden wir stutzig, im Sinne von: «Das geht euch jetzt gar nichts an.» Diese Haltung ist extrem doppelbödig. 

Es gibt für Instagram diese App, mit der man mit dem Zeigefinger gewisse Dinge einfach aus dem Foto kippen kann. Du kannst Menschen, die dir im Bild nicht passen, einfach wegwischen.
DB Jede*r ist seine*ihre eigene Fernsehstation geworden, verrückt.  

Jürg, du hast den Widerspruch ja auch beschrieben: «Sie wischt zum millionsten Mal über den Bildschirm, nur diesmal verschwindet sie.» Was meinst du mit Verschwinden?
JH: Je mehr man sich selbst nur noch über sein digitales Abbild definiert und inszeniert, desto mehr verschwindet man als Mensch vor dem Bildschirm. Es ist eine Art Selbstauflösung. 

Dorothea, teilst du diese Beobachtung?
DB: Das Auto-Kuratieren führt zu einer Entkontextualisierung des Moments und letztlich zu einer Entfremdung. Es zerstört jegliche Unberechenbarkeit des Lebens. Wir sind umso geforderter, wenn etwas nicht nach Plan geht und wir nicht mehr die totale Kontrolle über Bild und Auftreten haben. 

JH: Es ist gut, dass du das sagst. Es geht hier nämlich nicht mehr um Selbstverwirklichung. Verwirklichungen haben doch etwas Freies, Unberechenbares, Suchendes. Beim sich selber Kuratieren geht es eher um absolute Selbstkontrolle. Das Gegenteil von Freiheit.  

Die Entfremdung ist das Generalthema in deinem Buch, in deinen Gedichten. Du schreibst zum Beispiel: «Wir werden wieder zum Nomaden, festgesetzt auf noch lebenswerten Inseln.»
JH: Das habe ich eher auf den Klimawandel bezogen und in die Zukunft projiziert: Immer mehr Teile der Welt sind nicht mehr lebenswert. Der Temperaturanstieg führt in Ländern wie Saudi-Arabien dazu, dass man nur noch in voll klimatisierten, überdachten Städten oder im Untergrund leben kann – oder man zieht weiter, als Nomad*in. In diesem Gedicht habe ich das zu Ende gedacht: Wir können irgendwann nur noch auf ein paar lebenswerten Inseln existieren. Wir ziehen weiter und treffen da auf ein paar weitere Nomad*innen. Eine Dystopie.   

Wachstum und Klimawandel sind sehr virulent in Jürgs Buch. Was sagt die Ethikerin dazu?
DB: Ob ich eine Lösung des Klimaproblems habe? Schön wär’s. Ich bin sehr, sehr froh, dass das Bewusstsein gestiegen ist. Dass jetzt sogar Firmen wie Blackrock über Nachhaltigkeit reden, finde ich nicht einfach zynisch, sondern grundsätzlich gut. Der Klimawandel ist in der Finanzbranche, im gesellschaftlichen Mainstream und überall angekommen. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Klimawandel nicht eine rein naturwissenschaftliche Herausforderung für Ingenieur*innen ist, in der es um CO2-Filter geht, um Kompensationsmodelle etc., sondern dass es auch eine Wertediskussion braucht. Der Klimawandel stellt Gerechtigkeitsfragen. Wer trägt die Kosten? Wer profitiert davon? 

JH: Ich habe das Gefühl, dass sich Bewusstsein und Verhalten immer mehr auseinanderdividieren. Immer eindringlicher wird vor der Gefahr des Klimawandels gewarnt. Alle grossen Firmen haben mittlerweile einen Nachhaltigkeitsbeauftragten. Das sind oberflächliche Massnahmen. Man produziert Honig auf dem Dach, lädt Klimaforscher*innen zu einer Diskussion ein. Aber wenn es dann um die harten Fakten geht? Man stelle sich vor, eine Regierung würde sagen, pro Jahr dürfe jede*r nur noch so und so viel fliegen. Und diese oder jene Produkte dürften hier nicht mehr konsumiert werden. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass das demokratisch durchsetzbar wäre. 

In der aktuellen Krise war es ironischerweise möglich, die Ökobilanz zu verbessern. Massive Einschränkungen des Flugverkehrs sind Tatsache geworden. Es war nicht der Staat, der das direkt verfügt hat. Aber der Staat hat Massnahmen verfügt, die wiederum zu Flugeinschränkungen geführt haben.
DB: Es war Zwang und das Interesse am Schutz der eigenen Gesundheit, keine ökologische Einsicht.   

JH: Und es ist temporär mit dem Versprechen, dass es nachher wieder normal weitergeht. 

Woher kommt der Trend zur Nachhaltigkeit? Was ist das für ein Phänomen?
DB: Die empirische Evidenz ist überwältigend. Die Klimaforscher*innen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und werden gehört mit ihren Warnungen.  

Der Bericht des Club of Rome erschien bereits vor 50 Jahren.
DB: Aber der Handlungsdruck war noch nicht so stark. Heute können wir sehr genau rechnen: So und so viel mehr Ausstoss an CO2 erzeugt so viel Klimaerwärmung, infolgedessen steigt der Meeresspiegel und viele Gebiete werden unbewohnbar. Die Häufung von extremen Wetterereignissen. So wird der Klimawandel spürbar. Man sollte nicht alles nur als Talk oder unverbindliche Diskussion abtun.

Aber das Thema ist im Detail sehr komplex: Dieser Jutebeutel, den du, Jürg, mir gegeben hast, hat ja eine 10 000-mal schlechtere Ökobilanz als Plastik.
JH: Der ist aus nachhaltiger Produktion …  

DB: Ich bin ja nicht gegen das gut Gemeinte. Aber ein*e Ingenieur*in würde jetzt sagen: Mit diesem Beutel musst du 10 000-mal einkaufen gehen, damit er die gleiche Umweltperformance aufweist wie eine Plastiktüte.  

Jürg, in deinen Gedichten zum Thema Wachstum und Nachhaltigkeit werden Widersprüche aufgezeigt.
JH: Die Situation erachte ich als widersprüchlich. In der sogenannten Klimajugend sind vor allem Student*innen und Gymnasiast*innen vertreten, aber kaum Lehrlinge, die nach wie vor auf getunte Autos stehen. Es ist eine elitäre Bewegung. Da sind sehr viele Menschen dabei, die sich das auch leisten können. Aber was ist, wenn sie auf etwas verzichten müssten, das ihnen lieb und angenehm ist? 

DB: Der ökologische Fussabdruck einer Fleisch essenden Sozialhilfebezügerin ist viel, viel kleiner als jener eines irgendwie nachhaltig orientierten Millennials, der um die Welt jettet. Die Klimafrage ist auch eine Klassenfrage. 

JH: Ja, und sie wird oft ausgeblendet. Man kann nicht sagen: «Wir wollen eine nachhaltigere Welt», und gleichzeitig versucht man möglichst nicht zu sagen: «Wir brauchen eine gerechtere Welt.» Wir brauchen eine Welt, in der die Einkommensunterschiede kleiner werden. Wir brauchen eine Welt, in der die Börsen eingezäunt werden. Wir brauchen eine Welt, in der der Staat auch mehr dafür machen muss, dass die ökonomischen Unterschiede in der Bevölkerung kleiner werden.  

Jürg Halter

«Man kann nicht sagen: ‹Wir wollen eine nachhaltigere Welt›, und gleichzeitig versucht man möglichst nicht zu sagen: ‹Wir brauchen eine gerechtere Welt›.» 

DB: Ohne soziale Gerechtigkeit keine Nachhaltigkeit. Bequem ist, sich auf diejenigen Dimensionen der Nachhaltigkeit zu fokussieren, wo man sehr schnell sogenannte Low-hanging Fruits in die Hände kriegt – zum Beispiel, wenn eine Bank ein Bürogebäude saniert und ein paar Tonnen Heizöl spart, statt ihr Geschäftsmodell zu hinterfragen, in dem sie je nachdem viele klimaschädliche Kredite vergibt und Anlagen tätigt. 

JH: Es sieht nicht gut aus mit dem Klimaabkommen von Paris: Die Bilanz ist sehr traurig. 

DB: Ja, natürlich geht es viel zu langsam, aber es geht etwas. Das sieht man auch in der Schweiz. Wir haben ein anderes Parlament als vor eineinhalb Jahren. Es tut sich auch auf EU-Ebene etwas. Ölkonzerne sagen, sie spüren schon den negativen Effekt der sogenannten Divestment-Bewegung auf ihre Kapitalkosten. Aber auch ich registriere eklatante Widersprüche: Jeff Bezos ist als Chef von Amazon zurückgetreten und gründet jetzt eine Stiftung, die Klimaschutz fördert und 10 Milliarden US-Dollar ausschüttet. Sein Nachfolger bei Amazon ist Andi Jassy, ein Anhänger der fossilen Industrie, und der will unbedingt Cloud-Lösungen für Erdölkonzerne pushen, damit die noch schneller und effizienter Erdöl extrahieren können. 

JH: Ein schönes Beispiel. Wie Bill Gates, der Anteile an Firmen hält, die zuckerintensive Lebensmittel produzieren, und gleichzeitig gross bei der WHO investiert.  

DB: Ich selber höre immer wieder: «Du machst Unternehmen für Nachhaltigkeit fit? Die machen doch alle eh nur Greenwashing.» Das beleidigt mich und ist unfair gegenüber vielen engagierten Menschen in den Unternehmen.  

 Dann frage ich den Dichter: Was konkret müssten wir denn tun, um den Klimawandel zu stoppen?
DB: Ich konnte das Problem des Klimawandels nicht lösen, jetzt bist du dran, Jürg. (lacht) 

JH: Es muss über Gesetze gehen. Auf freiwilliger Basis lösen wir das Problem nicht. Firmen müssen dazu genötigt werden, nur noch nachhaltig und weniger zu produzieren.  

Dorothea, du hast viel Erfahrung mit Firmen und Diskussionen um Nachhaltigkeit. Geht es nicht ohne rigorose Gesetze, international?
DB: International ist ein wichtiges Stichwort, denn es ist unsinnig, den Klimawandel national zu regeln. Man muss sich auch bewusst sein, dass eine Gesetzgebung für ein Riesenunternehmen mit einer Compliance-Abteilung einen ganz anderen Effekt hat als für ein KMU in der Schweiz. Ich war zu Gast in einer Bürstenfabrik, die spezialisierte Bürsten für die Pharmaindustrie liefert, etwa für die Reinigung von Reagenzgläsern. Dieses KMU sagt: Die Grossen, die wollen von uns alles dokumentiert haben, jedes Gramm Plastik. Die Bürstenfabrik hat 20 Angestellte. Die genaue Herkunft des Granulats zu dokumentieren, das sie verwenden, bedeutet einen grossen Aufwand. Diese Mehrkosten zahlen die Grosskund*innen nicht. Auch wir als Endkund*innen der Medikamente, die in den Reagenzgläsern entstanden sind, die mit diesen Bürsten geschrubbt wurden, möchten nicht mehr bezahlen. Man muss bei den Gesetzen genau schauen, wen sie betreffen und wie genau die Kosten verteilt werden. Wir müssen uns bewusst werden, dass es für jede*n Akteur*in entlang der Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zum*zur Endkonsument*in teurer wird. 

Ich möchte einen etwas sprachlicheren Schluss finden. Wir haben ja zu Beginn über Argumente gesprochen und darüber, wie man mit Argumenten umgeht. In deinem Buch gibt es eine rein optische Angelegenheit, nämlich: Das niemals niemanden verletzende Abc (der Rest ist Schweigen). Das klingt verzweifelt.
JH: Das Gedicht kann man verschieden interpretieren. Wenn wir alle nur noch schweigen würden, wäre dies das Ende des verbalen Hasses. Andererseits kann man es auch so lesen: Wenn man glaubt, nur noch sprechen zu dürfen, wenn sich niemand auch nur annährend beleidigt und verletzt fühlt, verstummt man besser. Und verdrängt alles. Dieses Gedicht ist also auch in Bezug auf Political Correctness und Cancel Culture zu lesen. Ich halte es zum Beispiel für fragwürdig, wenn ein Mensch für eine ganze Gruppe von Menschen zu sprechen vorgibt, obwohl er oder sie eigentlich für sich spricht und die Gruppe, für die er oder sie zu sprechen behauptet, aus unterschiedlich denkenden Individuen besteht.  

Werden wir zum Schweigen gebracht, weil wir nicht mehr wissen, wie wir korrekt reden sollen?
DB: Es ist zumindest ein Minenfeld. Wie wir zu Beginn festgestellt haben, werden Wörter je nach Identität ganz unterschiedlich interpretiert. Es wird nicht mehr der Mensch gefragt, was er*sie sagt, was er*sie damit meint. Sondern es wird von aussen zugeschrieben, was er*sie damit gemeint haben muss. Das fühlt sich schon sehr beengend an. Meine Forderung: Gebt mir das Recht auf Unberechenbarkeit, auf die Abweichung von der Norm, die ich scheinbar verkörpere, und hört mir wirklich zu, was ich sage. 

JH: Sprache ändert sich. Gewisse Worte, die soll man wirklich nicht mehr sagen, weil sie zum Beispiel eindeutig rassistisch sind. Wenn eine Grossmutter Zigeuner sagt, dann kann man ihr aber nicht per se unterstellen, sie sei Roma-feindlich. Wenn hingegen jemand, der sich mit dem Thema befasst, als Provokation extra Zigeuner sagt, nur um zu zeigen, dass er frei reden kann, dann ist es rassistisch. Anderes Beispiel, die Frage: Woher kommst du? Da gibt es Leute, die sind sehr empfindlich auf diese Frage, während es andere als Interesse sehen. Stell dir vor, eine schwarze Frau kommt in ein Café und dann sind da drei weisse Typen an der Bar und fragen: «Woher kommst du?» Das ist aggressiv und hat einen klar rassistischen Unterton. Aber wenn du der Frau die gleiche Frage stellst, weil sie sich aus einem Gespräch ergibt, dann ist es was anderes.  

DB: Jetzt argumentieren wir gerade sehr widersprüchlich. Ich glaube auch, dass die Grossmutter, die Zigeuner sagt, das nicht rassistisch gemeint haben kann. Vorher aber hatte ich gesagt: Schaut mich nicht an, sondern hört mir zu. Urteilt nicht aufgrund der Tatsache, dass ich eine Grossmutter bin, sondern hört mir zu, was ich mit dem Begriff Zigeuner meine.  

JH: Auch eine Grossmutter kann absolut rassistisch sein.  

DB: Die Frage «Woher kommst du?» hat im einen Kontext eine aggressive Komponente, im anderen Kontext signalisiert sie ein ehrliches Interesse. Aber das heisst ja, dass wir eben doch nicht das Argument und nicht den Inhalt der Sprache anschauen, sondern die Identität der Sprechenden. Es ist ein bisschen schwierig. 

JH: Ich bin dagegen, dass man jemandem abspricht, sich zu einem Thema zu äussern, nur weil er zum Beispiel ein weisser Mann ist. Das ist gegen die Wissenschaft. Gegen die Vernunft. Mehr Gleichberechtigung erreicht man nicht, indem man Zuteilungen macht, wer worüber sprechen darf. In diesem Kontext zum Beispiel ein Blick auf das Inaugurationsgedicht bei der Vereidigung von Joe Biden: Alle fanden das so wunderbar. Haben sie es genau gelesen? Nüchtern gesehen war es einfach ein ganz bewusst in einer politischen Inszenierung von Macht eingesetztes Element. Das Gedicht von Amanda Gorman ist formal sehr konventionell. Inhaltlich ist es höchst problematisch. Gorman sagte, «wir» seien geheilt und das Böse sei vorbei. Sie hat Millionen von Amerikaner*innen, die Trump gewählt haben, wie ausgeschaltet. Gorman betreibt so das Gegenteil von dem, was im Gedicht auch behauptet wird, dass es nämlich um Versöhnung und Heilung gehe. Eine verpasste poetische Chance.  

DB: Man hat die Identität der Poetin beurteilt, nicht den Inhalt.