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N°3/2022
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Die Baumeisterin

Gedanken über die Schnecke und ihren Einfluss auf die moderne Architektur. Die Kultur imitiert die Natur, der Mensch kopiert die Schnecke.

Text

Schriftsteller, Journalist in Berlin und Lehrbeauftragter an der HKB

Ein Freitagmorgen im April. Nach ein paar ungewöhnlich warmen Tagen ist es über Nacht wieder nieselig und kühl geworden, die Altstadt von Bern ist wie ausgestorben. Ich sitze in einem Café am Bärenplatz, auf dem Tisch vor mir zwei Tassen, dazwischen ein gugelhupfgrosses Gebilde, von Ferne könnte man es tatsächlich für einen Kuchen halten, der nicht lang genug im Ofen war, gelblich-weiss schimmert das Gewinde, es ist aber definitiv nicht essbar, sondern besteht aus Styropor, Leim und Balsaholz. Es handelt sich um das Modell eines Schneckenhauses.

Mir gegenüber sitzt der Erfinder und Erbauer der Kreation, Christian Hosmann. Er ist braungebrannt, als Geschäftsführer eines Vereins für Entwicklungszusammenarbeit ist er andauernd unterwegs, vielleicht sehnt er sich deshalb nach Heimat, Geborgenheit, einem Gefühl des Schutzes, wie es sonst nur Weichtiere empfinden. Ausserdem betreibt er zusammen mit seiner Frau – einer Architektin – ein Büro, das sich der Dokumentation und Erforschung organischer Architekturformen verschrieben hat. Bei dem spiralförmigen Gugelhupf auf dem Tisch handelt es sich denn auch nicht um das Modell einer in der Natur vorkommenden Schneckenart, sondern um den Entwurf für sein eigenes Einfamilienhaus. Christian Hosmann nennt es, in Anlehnung an die rastlosen Reisenden aus der griechischen Mythologie sowie die Gehäuseform der Nautilusschnecken, Argonautilus.

Im Argonautilus-Modell
«Ein Schneckenhaus hat eine grosse Symbolkraft», sagt der Entwerfer, während er das Dach von seinem Argonautilus-Modell entfernt, um den Blick auf das Innenleben freizugeben. «Es bietet einen maximalen Schutz für den Mollusk; es ist leicht, und es ist ästhetisch. Die Schnecke in einem Haus hat immer einen gewissen Jö-Effekt.» Ausserdem, so Hosmann, gemahne die Kalkschale den Menschen an seine erste und ursprünglichste Behausung: «Wir sind ursprünglich Höhlenbewohner*innen, wir kommen ja aus einer Gebärmutter, die war rund. Wenn man ein wohliges Wohngefühl haben möchte, kann man das maximieren, indem man runde, spiralförmige Formen einbaut. Das gibt eine andere Raumdynamik.» Entsprechend gibt es in seinem Argonautilus-Modell keinen rechten Winkel, keine einzige gerade Wand: Wie die Kammern eines Perlboots nehmen die Zwischenwände die konkave Wölbung des Schneckenhauseingangs auf und unterteilen den Grundriss in psychedelisch verzerrte Zimmerkuchenstücke.

Die runden, organischen Formen bringen allerdings nicht nur ein wohliges Wohngefühl, sondern auch eine Fülle an technischen Problemen mit sich. Zum einen kann man beim Bau nicht auf standardisierte Teile zurückgreifen: Der Sanitärbereich etwa stellt eine enorme Herausforderung dar, da vorgefertigte Röhren in der Regel gerade verlaufen, also erst aufwendig der Gehäuseform angepasst werden müssen. Das vermutlich grösste Problem aber ist die Statik: «Das Einfachste wäre, mit Stahlbetonstrukturen zu bauen», so Hosmann – als Verfechter organischen Bauens würde er allerdings lieber auf Material zurückgreifen, das direkt aus der Umgebung kommt. Zum Imprägnieren der Wände möchte er Casein verwenden, eine Mischung aus Milchproteinen, die auch in Quark und Käse enthalten ist; für die Fussböden Holz aus der Region, vorzugsweise dem Schwarzenburgerland. Als Erstes aber würde er den Baugrund mit einer Wünschelrute abschreiten, um sicherzustellen, dass das Haus nicht auf einer Wasserader steht. Mollusken mögen einen feuchten Lebensraum bevorzugen – für das Wohlbefinden menschlicher Schneckenhausbewohner*innen ist ein wasserreicher Untergrund eher nicht zuträglich.

Le Corbusier als Vordenker
Es wäre einfach, Christian Hosmann als freundlichen Esoteriker abzutun und seine Argonautilus-Pläne als Luftschneckenhaus − aber die Sehnsucht nach einer den Formen der Schalenweichtiere entlehnten Architektursprache steht in einer altehrwürdigen Tradition, gerade in der Schweiz: Etwa fünfzig Kilometer westlich von Bern, in La Chaux-de-Fonds, wurde 1887 der Architekt Le Corbusier geboren, der als Vordenker und Begründer der modernen Schneckenhausarchitektur gelten darf.

Die meisten Menschen werden mit Le Corbusiers Namen vermutlich die sogenannten Wohnmaschinen verbinden, jene seriell angefertigten Unités d’Habitation, die in den Fünfzigerjahren errichtet wurden, um die Wohnungsnot der Nachkriegszeit zu lindern. Daneben oder besser davor war Le Corbusier aber auch intensiv an organischen Formen interessiert, vor allem an jenen von Schnecken und Muscheln. So begann er bereits in den Zwanzigerjahren, eine Sammlung mit Molluskenschalen, Strandgut und anderen Naturobjekten anzulegen, die ihm in Folge immer wieder als architektonische Inspiration dienen sollte. Auf Basis der logarithmischen Spirale eines Schneckenhauses entwarf er in den Dreissigerjahren das (nicht verwirklichte) Welterkenntnismuseum Mundaneum, das in einem kilometelangen spiralförmgen Rundgang die Entwicklung allen menschlichen Schaffens dokumentieren sollte. Ausserdem das Musée à croissance illimitée, das wie die gewundene Schale einer Schnecke durch stetige Anbauten am Mund des Gebäudes beliebig erweiterbar sein sollte. «Die Form der Seeschnecke», so der Architekturkrtiker Niklas Maak, «zieht sich wie eine untergründige Denkspirale durch sein gesamtes Werk.»

Nicht zuletzt lag die Schneckenhausform Le Corbusiers einflussreichem Proportionssystem, dem sogenannten Modulor, zugrunde, mit dessen Hilfe Architekt*innen harmonische Masse für ihre Bauten errechnen können sollten. Auf der linken Seite der berühmten Zeichnung, die Le Corbusier zur Verdeutlichung dieses Systems anfertigte, steht ein Mensch mit ausgestrecktem Arm, er reicht genau 226 Zentimeter hoch − ein Idealmass, das Le Corbusier für die Bewohner*innen seiner Wohneinheiten annahm. Auf der rechten Seite sieht man eine Folge ineinander verschachtelter Rechtecke, die im Verhältnis des Goldenen Schnitts gegliedert sind. Im Zentrum der Zeichnung aber, als Mittler zwischen dem Menschen und der geometrischen Massleiste, steht suggestiv die sich zum Himmel wölbende Spirale einer Schnecke: Sie soll die kalte Arithmetik der Zahlenreihen mit den Proportionen des menschlichen Körpers versöhnen. «Unter meiner gestaltenden Hand», so Le Corbusier mystisch-verklärend über die Entstehung des Modulors, «verwandelten sich die mathematischen Verhältnisse auf einmal in eine harmonische Spirale, in ein ideales Muschelwerk.» Anders gesagt: Auch die streng zweckrational anmutenden Bauten beruhen auf naturgegebenen Proportionen. Die Unités d’Habitation sind keine kalten Wohnmaschinen, sondern Schneckenhäuser.

Die Spuren, die Le Corbusier − und durch ihn die Schnecke − in der modernen Architekturgeschichte hinterlassen hat, sind unübersehbar. Das New Yorker Guggenheim-Museum von Frank Lloyd Wright erinnert mit seinem markant gewundenen Aufgang an die Form der Japanischen Wunderschnecke Thatcheria mirabilis. Daniel Libeskinds Entwurf für die Erweiterung des Victoria & Albert-Museums in London basiert auf einer schneckenhausförmig gewundenen fallenden Spirale. Das von Ben van Berkel entworfene Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart – ausgerechnet diese Feier der Geschwindigkeit und Mobilität! – zeigt mit seinen Rampen den Einfluss von Le Corbusier und L’Escargot. Und seit seinem Umbau durch Norman Foster wird das Reichstagsgebäude in Berlin von einem Glasgehäuse mit spiralförmiger Rampe gekrönt. Das «Pathos der vertikalen Expansion», wie es für die moderne europäische Grossstadt typisch ist, also das zielstrebige Wachstum in die Höhe, ist bei solchen Entwürfen vielfach gewunden und gebrochen: «Sie setzen der linear vertikalen Organisation des Wolkenkratzers das an einer Spirale entlanggebaute Hochhaus entgegen», so Maak, «das keine Etagen, sondern nur noch Ebenen, Seitenarme, Verschränkungen kennt.»

Eine Ausstülpung des Ichs
Allerdings, muss man hinzufügen, besteht zwischen den Häusern der Schnecken und jenen ihrer menschlichen Nachahmer*innen eine gravierende ontologische Differenz – ein Unterschied, der all unsere Sehnsüchte, durch den Einzug in ein spiralförmig gebautes Haus in einen wie auch immer gearteten Naturzustand zurückkehren zu können, philosophisch fragwürdig erscheinen lässt. Eine Schneckenschale ist nämlich nichts, was sich von ihrer Bewohnerin trennen liesse: Sie beherbergt den Eingeweidesack mit Lunge, Leber, Herz und anderen lebenswichtigen Organen, der über einen dünnen Hals mit dem sichtbaren Fuss der Schnecke verbunden ist. Das «Haus» ist somit ein integraler Teil des Tieres, kein Gebäude, das man nach Belieben beziehen oder verlassen könnte, sondern eine Ausstülpung ihres Ichs. Wie es die Protagonistin des Märchens Die Schnecke und der Rosenstrauch von Hans Christian Andersen so wunderbar tiefgründig formuliert, bevor sie sich in ihr Gehäuse zurückzieht: «Ich gehe in mich selbst hinein.»

Womöglich eignet sich das Schneckenhaus mithin weniger als Vorbild für Architekt*innen, sondern eher als Inspirationsquelle für Künstler*innen − die, zumindest gemäss unserer romantisch geprägten Genievorstellung, ihr Werk ja ebenfalls aus sich selbst hervorbringen, es aus ihrem Innersten herausschwitzen wie der Mollusk seine Schale. «Vielleicht ist das, was wir Vollkommenheit in der Kunst nennen», schreibt der Dichter Paul Valéry, «nichts anderes als das Gefühl, in einem menschlichen Werk jene Sicherheit der Ausführung, jene Notwendigkeit inneren Ursprungs und jene unlösliche Verbundenheit zwischen Gestalt und Stoff ersehnt oder gefunden zu haben, welche uns die geringste Muschel vor Augen führt?»

Die Kultur imitiert die Natur, der Mensch kopiert die Schnecke: So wie diese Kalk absondert, arbeitet jener an seiner Kunst, sie entspringt seinem Leben und Erleben, ist untrennbar mit ihm verbunden. Und wenn sie tatsächlich gelungen ist, weist sie dieselbe innige Verbindung zwischen Schöpfer und Werk, Form und Inhalt auf, welche den Schalenweichtieren so provozierend mühelos gelingt.