Die 2. Bieler Altstadt
Die Robert Walser-Sculpture vonThomas Hirschhorn hat 2019 grosse Aufmerksamkeit auf Biel und zeitgenössisches Kunstschaffen vor Ort gelenkt. Was bleibt? Eine Recherche zum Nicht-Exklusiven.
geboren 1945 in Bern, ist ein Architekt und Publizist. Als Journalist schreibt er u. a. für die Zeitschrift Hochparterre, die er 1988 gründete. Loderer wohnt in Biel und amtet seit September 2023 für die Grünen als Stadtratspräsident von Biel.
Es war einmal ein Spital. Das lebte von 1930 bis 2020. Dann starb es den langsamen Tod durch Verkehrserstickung, genauer, es wurde aufgegeben, weil es so schlecht erreichbar war. Ein Neubau in der Ebene war besser zugänglich und ersetzte das Konglomerat der Spitalbauten oberhalb der Stadt Biel. Was tun mit den Altbauten im Beaumont? Das war die grosse Frage in den 2020er-Jahren.Zurückgeblieben waren das Gebäudekonglomerat und eine Hypothek. 55 Millionen Franken sei das Grundstück wert, hatte die Beratungsfirma Wüest Partner, heute Nice Intentional Ltd., ausgerechnet. Diese 55 Millionen setzte die Spitalzentrum Biel AG (SZB) in ihre Rechnung, sie sollten der Finanzierung des 200-Millionen-Neubaus dienen. Man dachte mit Immobilienverstand: Das Spital abreissen und auf der Tabula rasa, dem blank geputzten Tisch, Neubauten hinstellen. Die Lage ist hervorragend – ein Balkon gegen Süden und erst noch mit Alpenblick.Doch es gab schon in den 2020er-Jahren Leute, die von Abbruch wenig hielten. Zum Beispiel diejenigen aus der Architekturabteilung der Berner Fachhochschule, die damals von Burgdorf zurück nach Biel zog, und das mit ihr verbündete Stadtlabor. Die fanden schon bald heraus: Das Spital ist eine Stadt. Dieser Satz aus dem Jahr 2023 enthielt bereits alles, was noch kommen würde. Das Konglomerat Spital ist so vielfältig und in so vielen Etappen gewachsen wie eine Altstadt. Wir müssen diesen Komplex nicht als eine Ansammlung von Gebäuden betrachten, sondern als die zweite Altstadt von Biel, eine aus dem 20. Jahrhundert.
Erhalten, was ein Eigenleben hat
Eine Altstadt reisst man nicht ab. Man baut sie um und aus. Nicht wegen der vernichteten grauen Energie allein muss man das, was da ist, grundsätzlich stehen lassen, sondern besonders wegen der gewachsenen skulpturalen Einzigartigkeit. Nichts, was neu käme, würde diese räumliche Qualität erreichen. Es galt der Grundsatz des kritischen Erhaltens und der klugen Beseitigung. Zerstöre mit Verstand, predigte Luigi Snozzi. Die Spitalstadt gehört sich selbst. Sie ist ein Implantat, kein Bestandteil des angrenzenden, später dazugekommenen Einfamilienhausquartiers. Sie hat andere Bau- und Entstehungsregeln. Diesen Regeln muss man folgen, nicht jenen der Umgebung. Die Spitalstadt ist eine Insel im Landwirtschaftsgrün und liegt am Rand des Parc Beaumont, eines der neuen Parcs agricoles, die ab 2030 verwirklicht wurden.Die zweite Altstadt bestand aus einem riesigen Angebot. Die Räume waren bereits vorhanden, es ging darum, herauszufinden, was sie taugten. Die jungen Leute kehrten den Entwurfsprozess um. Sie gingen nicht von einem vorgefassten Programm aus, nein, sie fragten, was das Konglomerat Spital leisten könne. Wer meint, es brauche einen Masterplan, hat die Altstadt nicht verstanden.Als Ergänzung dieser kühnen Behauptungen setzten sich die Studis neue Regeln. Der Spitalkomplex, legten sie fest, ist eine Sonderzone. Hier gelten die Zonenordnung und die Bauvorschriften nicht mehr, mit Ausnahme der Sicherheitsbestimmungen und des Massenausgleichs. Weder Gefährdung des Lebens noch wilder Mehrausbau, ein Hochhaus zum Beispiel, sind gestattet. Was da ist, genügt, was abgerissen wird, darf ersetzt werden. Die Studien wurden von 2023 bis 2026 erarbeitet und stiessen auf grosses Interesse. Es gab sogar einen Film darüber. Damals leistete die Schule einen Beitrag zur Diskussion um die Stadtentwicklung, heute sitzt sie wieder im Elfenbeinturm.
Der Kauf des Spitalareals
Noch vor der Berner Fachhochschule war die Stadtregierung erwacht. Bereits im August 2019 hatten die Stadt Biel und die SZB eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Planung für das Spitalareal vorspurte. Darin steht, dass die Stadt Biel beabsichtigte, «die Aspekte städtebauliche Qualität und Wirtschaftlichkeit in eine bestmögliche Balance zu bringen». Übersetzung: guter Städtebau und die 55 Millionen, denn die Stadt Biel «schätzt diesen Wert als realistische Zielgrösse ein». Damit war klar: Die Gemeinde Biel kauft das Spitalgrundstück zum Marktpreis. Dafür räumt das SZB der Stadt ein Vorkaufsrecht ein. Noch bevor das Thema in der politischen Agenda auftauchte, hatte die Stadt einen entscheidenden ersten Schritt getan. Allerdings war offensichtlich, dass beide, Stadt und Spital, von einem Abbruch der bestehenden Bauten ausgingen, abgesehen von geschützten Bauten, etwa dem Bettentrakt von Hermann Fietz und Rudolf Steiger. Für den Immobilienverstand war es 2019 noch selbstverständlich: Abreissen – was denn sonst?Das Spital begann ab 2028 mit dem Umzug, schrittweise wurden Räume frei, die das SZB mit Zwischennutzungen zu füllen suchte. Weil man immer noch mit dem Abbruch rechnete, waren die Räume billig, was eine Fülle von Start-ups, Tüftler*innen, Erfinder*innen, Clusterbewohner*innen und anderes buntes Volk anlockte. Biel wurde ein Geheimtipp, die zweite Altstadt zum summenden Bienenkorb. Durch die Zwischennutzungen veränderte sich der Blick der Menschen auf das Spital. Sie besuchten Veranstaltungen und merkten: Hier tut sich etwas. Der Wind hatte sich gedreht. Die Geschichte der zweiten Altstadt hatte sich in den Köpfen der Menschen eingenistet.Es war auch kein potenter Investor da, der mehr als 55 Millionen geboten hätte. Wer rechnen konnte, sagte sich: Bevor ich nicht weiss, was ich bauen darf, weiss ich auch nicht, was ich zahlen kann. Ohne Projekt kein Preis. Mach ich ein Projekt, muss das Grundstück umgezont werden, dafür muss ich eine Volksabstimmung gewinnen. Die verliere ich, wenn die Linken «Gentrifizierung!» schreien, die Leute aus dem benachbarten Quartier sich vor dem Mehrverkehr fürchten, die Hüsli-Menschen kein Hochhaus wollen und die Unterstützung durch die Rechte nur lau ist. Ergo lass ich die Finger davon.So kam es, dass die Stadt die einzige valable Käuferin war, doch von 55 Millionen war nicht mehr die Rede. 2025 entschied die Stadt Biel, das Grundstück für 25 Millionen zu kaufen, sofern das Volk zustimmen würde. Die 55 Millionen, die Wüest Partner aus den Daten herausgemolken hatte, waren eine Schönwetterdiagnose, die die politischen Hürden nicht berücksichtigte. Auch wenn es ein kräftiger Rabatt war, so waren 25 Millionen für die verarmte, überschuldete Stadt doch ein grosser Brocken. Vor der Volksabstimmung sagten die Linken: Selbstverständlich kaufen wir. Schulden gibt es nicht, denn wir kaufen etwas, das einen realen Gegenwert hat, der mit der Zeit zunimmt. Wir könnten sogar mit Gewinn weiterverkaufen. Die Rechte sah bang ins Schuldenloch und prophezeite den Untergang der Stadt. Am 29. März 2026 nahm das Bieler Stimmvolk den Kauf mit 54 Prozent an. Das Grundstück und die Bauten darauf gehörten nun der Stadt – Abbruch oder zweite Altstadt, lautete nun die Frage.
Der bewahrende Entscheid
Unterdessen hatte die Architekturschule gezeigt, was alles in der zweiten Altstadt steckte. Sie planten Wohnungen, ein Hallenbad, wo früher die Operationssäle waren, und vor allem planten sie Projekte für die kreative Insel. Das Spital, sagten sie, wird zur Invention City; wir stellen es den Start-ups und Spin-offs zur Verfügung. Dort oben sollte eine Erfinderstadt entstehen, unterstützt und unterfüttert von der Bieler Präzisionsindustrie, begleitet und mit Hirnschmalz versorgt von der Berner Fachhochschule, deren Abteilung Technik 2029 in den Neubau von Pool Architekten hinter dem Bahnhof eingezogen war. Kurz: Es gärte. Das Architekturforum Biel veranstaltete eine Ideenkonkurrenz, die die zweite Altstadt erhalten wollte. Es ging vor allem darum, in das Konglomerat eine Erschliessung, sprich Gassen und Plätze, einzukerben. Die Ergebnisse zeigten, dass die zweite Altstadt kein Hirngespinst war, auch keine akademische Trockenübung, sondern eine handfeste, realistische Alternative zum Abbruch.Eine Volksinitiative für die Erhaltung der zweiten Altstadt Biels erzwang den Entscheid. Die Befürworter der zweiten Altstadt hatten viele verlockende Renderings veröffentlicht und schwärmten von der durchmischten und lebendigen Erfinder*innen-Stadt. Die Verfechter des Abbruchs zeigten grosszügige neue Wohnbauten, geschickt kombiniert mit den zu erhaltenden Gebäuden. Ihr Projekt werde die Stadtfinanzen sanieren. Sie hatten begriffen, dass ein radikaler Abbruch keine Chance haben würde, also passten sie ihr Projekt «Beaumont für alle» an die Zeitstimmung an. Der Abstimmungskampf war ein Bilderkrieg. Die Altstädter*innen gewannen: Ihre zweite Altstadt sah besser aus, erzählte die überzeugendere Geschichte. Die Abbruchfreunde wirkten altbacken. Mehr vom Gleichen, lautete ihre Botschaft. Im Oktober 2032 stimmten 58 Prozent für die zweite Altstadt.
Die städtebauliche Erschliessung
Die Stadtplanung stellte aus allen gesammelten Wünschen ein Wettbewerbsprogramm zusammen. Es war ein kakofonisches Wunschkonzert ohne Stimmführung. Da zeigte sich, dass die Aufgabe nicht durch Abfüllen zu bewältigen war. Nach längerem Hin und Her fand man gemeinsam heraus, was man schon wusste: zuerst die Erschliessung. Zu diesem Zweck veranstaltete die Stadt Biel einen Wettbewerb. Er umfasste auch die öffentliche Infrastruktur, eine der wenigen wirklich interessanten städtebaulichen Aufgaben der vergangenen Jahrzehnte.Gebaut wurde ab 2035. Man kerbte ein Gassenkreuz in das Konglomerat und schuf in der Mitte den städtischen Beaumont-Platz. Die Baumasse, die man herausriss, beigte man auf die bestehenden Bauten, was hervorragende Wohnungen erlaubte. Selbstverständlich war die zweite Altstadt autofrei, das musste in den 2030er-Jahren nicht mehr diskutiert werden. Die Bauvorschriften abzuschaffen, wagte man doch nicht. Die Rechtsgleichheit sei ein kostbares Gut und die Befreiung von den Vorschriften ein nicht zu begründendes Vorrecht. Was, wenn anderswo das Gleiche verlangt würde? Immerhin erliess man Sonderbauvorschriften, die mehr Baufreiheit schufen. Die nutzten die Zweitaltstädter mit Lust und Erfindungsgabe. Um 2045 herum waren alle Räume umgebaut und umgenutzt.
Das belebte Leben
Es gibt ein Leben nach dem Bauen. Heute, im Sommer 2050, schauen wir ihm zu. Eine belebte zweite Altstadt hatte man uns versprochen – ist sie es? Es gibt kein südländisches Gewimmel auf dem Beaumont-Platz, aber die zwei Beizen sind voll. Es gibt sogar spielende Kinder in den beiden Gassen, und Katzen schleichen um die Häuser.Die Gestaltungs- und Nutzungsfreiheit zog Menschen aus der ganzen Schweiz, ja aus dem Ausland an. Es sammelte sich eine kritische Masse, die Ausstrahlung erzeugte. Die Stadt vergab Baurechte, behielt aber viel vom Grundstück in ihrer Hand. Eine Madame Zweitaltstadt steuerte den jahrelangen Prozess. Sie organisierte die Vergabe der Baurechte, sorgte für eine kleinkörnige Mischung und legte besonderen Wert auf innovative Wohn- und Forschungsprojekte. Die Start-ups blühten. Innert zehn Jahren war jeder Quadratmeter besetzt und neu genutzt. Wer heute durch die zweite Bieler Altstadt geht, wandert durch einen Bienenstock. Nirgends in Biel ist mehr städtisches Leben als hier.Alt-Stadtpräsident Erich Fehr, der seit fünf Jahren auch hier wohnt, schreibt im «Bieler Jahrbuch 2050»: «Auf eine Errungenschaft in meiner Amtszeit bin ich besonders stolz: auf die zweite Altstadt. So wie es dem roten Biel unter Guido Müller gelungen war, nach 1923 das Bahnhofsquartier zu verwirklichen, so gelang dem rot-grünen Biel in den Jahren nach Corona die zweite Altstadt.»