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N°2/2022
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Der Schrei der Möwe

Die Zivilisation ist fliessend Wasser und Höflichkeit. Das ist zwar gut, aber bilde dir nicht ein, dass es mehr sei. Ein Wutausbruch.

Text

Ist Fachbereichs­leiter Theater an der HKB. Er reiste 2017 quer durch Russland und die Ukraine.

Etwas schreiben über den Krieg in der Ukraine, zu dem jetzt jede*r eine Meinung hat? Es ist wie die Mücken und das Licht oder die Fliegen und die Scheisse. Da wird ein Krieg geschissen oder eine Pandemie oder ein Hund rettet einen Rentner. Und wir drängen uns mit unseren Worten um das Geschehen wie die Fliegen.

Es ist egal: Alle fliegen hin und sagen etwas, weil sie etwas dazu denken. Und entweder wir sagen, was wir denken, um zu sagen, dass wir so denken, wie ein*e andere*r denkt, oder wir sagen etwas, weil wir anders denken, wie die*der andere denkt, und es ist wichtig, dass die andern wissen, dass wir so oder anders denken. Der Raum um die Lampe und um die Scheisse wird eng, immer enger, und jetzt soll ich mich da auch noch reinquetschen?

Ja, ich war in der Ukraine. Zweimal. In Russland. Dreimal. Hab’s am eigenen Leib erlebt. Die Potemkinsche Treppe in Odessa, auf der die Menschen hinuntergingen, es war niemand dabei mit einem Kinderwagen, da kann man nämlich gemütlicher aussenrum gehen oder man nimmt die Standseilbahn … und es hat niemand geschossen …

Ein orthodoxer Gottesdienst, in dem fünf Stunden schneller vorbeigingen als in einer Wagneroper. Männer sitzen im Park bei minus zehn Grad und spielen Schach, während sich Frauen bei minus zehn Grad ins Meer werfen und prusten wie Walrösser. Odessa lag da am Meer und erzählte, wie schön es einmal war, bevor der Kommunismus den fragwürdi­gen Charme des Verrottens verbreitete. Die Oper, kaum war die Ukraine dieses eigene Land geworden, in das ich einfach so mit meinem kleinen Personalausweislein einreisen durfte, da war sie schon renoviert, ein glänzender Dampfer an Land, Wien ist ein bemoostes gestrandetes Schiff dagegen.

Der Panzerkreuzer Potemkin, das wahllose Erschiessen der Bevölkerung auf der Treppe, und nun ist die «Moskva» gesunken. Und ich bin irgendwie damit verbunden und freue mich, dass die «Moskva» gesunken ist. So schnell und einfach spiele ich mit in dieser Oper «Krieg gegen die Ukraine», meine Gefühle beben. In solchen Opern ist immer ein Volk mit drin, das singt, und wird irgendwie auf der Bühne hin und her insze­niert, dann gibt es den anderen Chor mit dem Gegnervolk und die prügeln sich und gehen danach in die Kantine. Mehr ist es nicht, was stattfindet. Länger und mit echtem Blut und wir alle stehen in irgendwelchen Chören und singen schlecht und agieren peinlich.

Klar, in dieser Rolle finde ich Putin ein Arschloch. Aber ich bin dasselbe Arschloch. Gelogen hab ich auch schon, und wie er hab ich genau gewusst, dass ich lüge, und wie bei ihm sollte es zu meinem Vorteil sein. Als es rauskam, hat mein Vater mir den Hintern versohlt, aber das hat mich nicht grundsätzlich verändert. Dieser Putin –Trost: Mein Korrekturprogramm schlägt immer noch «Puten» vor – wurde gewählt. Und der andere ganz Grosse vor neunzig Jahren auch. Und jetzt die Kleineren, die noch gross werden wollen, auch. Wir wollen keine Eier aus Käfighaltung, wir in unseren selbst gewählten Käfigen wollen gefälligst Freilandeier.

Aber: Wir wollen diese Freiheit nicht, oder vielleicht wollen wir sie, aber wir können sie nicht. Wir erwachen alle eines Tages aus unruhigen Träumen, auf dem Rücken liegend, und haben keine Verantwortung mehr. Weil wir sie nicht wollen. Wir wählen die Orbans, die Berlusconis, die Le Pens, die AfD, die Trumps, in Deutschland und in der Schweiz gibt es noch eine Demokratie – finde ich – und da sind einige unbescholtene Menschen ernsthaft bemüht, aber sie haben Angst. Sie treffen keine Entscheidungen mehr, für die sie kämpfen, weil sie daran glauben, die sie den Bürger*innen erklären, zumuten müssten, sie schielen auf die Wiederwahl, wie die Künstler*innen auf die Nachwelt, Herr, lass mich bleiben, lass mich glänzen, Herr, schenk mir wenigstens einen Wikipedia-Eintrag.

Ja, was hab ich gesehen in sechs Monaten quer durch Russland? Dass das Land zerstört ist. Als sei da ein Krieg gewesen, in Gegenden, in denen der Krieg niemals war, es ist einfach der Zusammenbruch als Dauerzustand, und da das einfach so ist und da das am einfachsten ist, heisst es einfach liebevoll, unser russisches «Бардак» (Durchein­ander). An einer funktionierenden Zivilgesellschaft scheint ernsthaft niemand interessiert. Ich habe gesehen, dass die Regierung – und aus etwas anderem als aus Putin bestand sie ja schon 2014 nicht mehr – keine Zivilgesellschaft aufbaut. Er kann es nicht oder er will es nicht oder er will es nicht, weil er es nicht kann, oder er kann es nicht, weil er es nicht will. Egal. Der Schock der Perestroika hat als Schreckgespenst gereicht. Die Wirtschaftskrise in den 1920er-Jahren, es ist dasselbe. Kommt ein Hitin, kommt ein Putler, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Es ist alles gesagt und wir machen so lange etwas Kunst und erforschen den Triller im Spätbarock, sorgen für die Verzierung.

Ich halt’s nicht aus.
Wie unsere Gegenwart, so sind auch unsere Utopien gehaltlos. Wir loben uns fürs Design, aber wir straucheln hilf- und hoffnungslos vor einer Gestaltung des Inhalts, können auf den Mars fliegen und dort eine Zivilisation aufbauen. Klar, aber wir werden auch dort dieselben Idiot*innen sein und unseren sauerstoffüberdachten Städten gegenseitig die Stöpsel rausziehen, wie wir es als Jungs mit den Luftmatratzen getan haben, schreiben Romane, Textflächen und Weiteres, formulieren unser Elend kunstvoll und nicken mit den Köpfen.

Ob Utopie
Ob Dystopie
Es geht nie
über Walt Disney

Wir sitzen in der Höhle und über das Gleichnis kommen wir nicht raus. Aber ein Gleichnis ist nur ein Gleichnis. Und Gleiches hatten wir schon genug. Es bräuchte etwas Neues. Da kommen die Heilsbringer*innen ins Spiel. Das führt ja auch nicht zum Besseren. Katastrophen, aber mehr von Herzen. Also, weil wir ja schlau sind: sehenden Auges ins Verderben. Wir verstehen alles. Wir sind alle Putinversteher*innen, weil wir alle oft ein wenig mehr haben wollen, von dem Geld, von der Macht, von der Liebe, und weil wir alle schlechte Laune kriegen, wenn’s nicht klappt und dann unsere Intelligenz bemühen, damit es vielleicht doch noch klappt. Mehr ist da ja nicht. It is all so very simple.

Mein Vater war Gärtner. Bevor er das wurde, musste er das Notabitur machen und für den Endsieg kämpfen. Er wurde dann ziemlich schnell verwundet und mit dem Endsieg wurde es nichts. Es gab Zeiten, da war er ein vergnügter Mann, und andere, da war er das nicht, und dann sagte Mutter: «Das ist der Krieg.» Eines Abends rief er uns Geschwister an den Esstisch und sagte: «Ich erzähle jetzt einmal, was ich im Krieg erlebt habe, und dann nie wieder.» Ich erinnere mich nur noch der Spur nach. Aber der Abschluss war ungefähr: «Begib dich nie in eine grös­sere Gruppe. Es kann leicht sein, dass du vergisst, wer du bist, und dass jemand anderes dich benützt für etwas, was du nicht sein willst.» Und daran hielt er sich.

Womit wir wieder bei der Lampe wären. Wenn ich sie sehe, irgendwann einmal, die Mücke, die einfach denkt, das ist mir jetzt zu blöd, und vergnügt von der Lampe wegfliegt, dann habe ich Hoffnung. Ich habe es noch nie gesehen. Heftiges Hin zum Feuer und verbrutzelt zu Boden stürzen. Oder jemand macht das Licht aus.

Ostern, das Fest der Auferstehung. Um Himmels willen! Bitte nicht. Ich will das nicht noch mal.

Als Möwe vielleicht, aber auch nur, weil ich davon ausgehe, dass die Möwe nicht denkt und nicht spricht. Das und das Fliegen machen sie zu einem würdigen Lebewesen. Oder auch ein Igel, der schmatzt, ein wenig stachelig, und vor allem: Er hat die Vorderpfoten auf der Erde. Denn das mit dem aufrechten Gang, das war definitiv als Fortschritt nicht verkraftbar für das Menschtier.

Es braucht meine Meinung nicht.
Und auch nicht deine Deinung.
Nicht seine E(h)rung.
Unsere Wirung und
Eure Eurung.
Ihre Ihrung.
Das braucht es alles nicht.
Nicht in einfacher und auch nicht in komplexer Sprache.

Denn: Welcher Geiger hält uns in der Hand? Rilke, liebes Rilkechen, ein Geiger? Irgendein lustiger DJ spielt einen Algorithmus, den er selbst nicht begreift, dem er aber mit Freuden lauscht, und ab und zu dreht er an einem Rädchen und ist gespannt, was dann passiert, das ist die Maximalvorstellung, die ich mir von einem Gott machen kann. Er heisst Hall. Er und der Affe mit dem Knochen: Da sitzen die beiden und lachen uns aus, uns Anbeter*innen jeder Stele aus Pappmaschee. «Schau ihn dir an, diesen eingebildeten Schwachkopf», sagt er zu ihm und sie lachen sich schlapp.

Nein, ich dräng mich nicht um die Ukraine-Lampe und liefere einen nochmals ausdifferenzierten weiteren menschbeschränkten Gedanken dazu. Wir rennen alle gegen die gleiche Wand: dass wir alles und täglich besser verstehen und dass das nichts nützt. Immer und immer wieder.

Wenn ich die fahnenschwenkenden Deutschrussen sehe … kommen aus Russland, rackern sich ab, sind fleissig, was in einem einigermassen funktionierenden Staatswesen, wie momentan Deutschland immer noch eines ist, etwas bringt, wählen dann die AfD, damit nach ihnen nicht auch noch andere mit diesem Ziel, ein einigermassen geregeltes Leben zu führen, nach Deutschland kommen, und schwingen dann die Fahnen für ein Land, in dem sie zur Armut verdammt waren. Ich hätte nie geglaubt, dass ich es einmal selbst sagen würde: Geht doch rüber. Bonn, Demo gegen den NATO-Doppelbeschluss, 1981. Da wurde ich selbst dazu auf­gefordert: «Geh doch rüber.»

Ich werde grob, ich werde undifferenziert. So wütend bin ich. Über mich. Über dieses Tier, das aufrecht läuft und deshalb mit den Händen all diesen Mist machen kann, das die Sprachen erfunden hat, um sich gründlicher nicht zu verstehen. Der Affe, der den Knochen schwingt, wir können philosophieren, forschen, Bildchen malen, Textchen schreiben, Bücher drucken. Die Vorderpfoten hätten am Boden bleiben sollen und die Sprache sollte über den Schrei der Möwe im Flug nicht hinausgehen. Dabei kann ein einzelner Mensch sehr nett sein, aber: Die Menschen sind ein Arschloch. Es tut weh, wie früher einmal Liebeskummer wehgetan hat.

Als ich 2014, nach sechs Monaten dort, Russland verlassen habe mit einem Bus, der mich an die Grenze zu Nordkorea brachte, und einem Schiff, das mich an Nordkoreas Küste entlang nach Sokcho in Südkorea brachte, und nach einer Überfahrt von Busan nach Fukuoka in Japan, da war diese Reise wie ein Aufwachen aus einem düsteren Albtraum. Endgültig den europäischen Kulturraum verlassend, vollkommen ratlos vor Sprache und Schrift, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Anders kann ich Russland in der Kürze nicht beschreiben.

Unsere Utopien sind erbärmlich. Auch unsere Dystopien sind fad und üben sich einzig im Aufblasen von Altbekanntem, so mit Hass, Gier, Liebe, Eifersucht und so … Wir staunen über die technischen Verfeine­rungen des jeweiligen Untergangs, aber dass uns mal etwas wirklich anderes …

Menschen kaputtmachen, und die Sachen kaputtmachen, die die Menschen gebastelt haben, was soll der Scheiss? Unsere Religionen erreichen auch keine wirklich neuen Dimensionen. Und die Kunst ist ein Getänzel gegen den Tod durch Vergessen. Die Gegenwart: ab und zu nette Details, die dazu dienen, den Blick vom Ganzen abzulenken. Funktioniert. Nicht.

15.4.2022
Wanderweg von Evilard nach Twann, angegebene Zeit auf swisstopo: 02:21. Ich brauche 2 Stunden 33 Minuten.

16.4.2022Derselbe Weg 1 Stunde 35 Minuten. So wütend bin ich. Das ist der Zorn, der Kampf gegen das Gefangensein, dieses ewige Schwirren um die Lampe.