Das Ende ist ziemlich nah
Während das Finanzsystem taumelt, sind Literatur, Film und Theorie schon weiter: Warum wir endlich lernen müssen, die Katastrophe zu denken.
Diesen Text hat die HKB-Zeitung mit freundlicher Genehmigung aus der Die Zeit 13/2023 übernommen.
In den Deutungen unserer Gegenwart scheint sich ein neuer Katastrophismus zu verbreiten. Das «Ende der Geschichte» in den rosigen Farben von Francis Fukuyama war gestern. Droht nun stattdessen ein Ende der Geschichte ganz anderer, düsterer Art? In den letzten zehn Jahren folgen die Krisenmomente in immer dichterer Taktung: Finanzkrise, Pandemie, ein Putschversuch in den USA, Ukraine-Krieg und Energiekrise – und alles überlagernd der Klimawandel. Ganz aktuell sehen manche nach dem Bankrott der Silicon Valley Bank und den dramatischen Turbulenzen um die Credit Suisse – immerhin eines der 30 als global systemrelevant eingestuften Bankhäuser – bereits den Beginn einer neuen Finanzkrise. Wie aber reagieren Theorie und Kultur auf all diese Irritationen und Erschütterungen?
Aufschlussreich sind dabei Literatur und Film, denn sie bieten gewissermassen das kulturelle Imaginäre einer Gesellschaft. So existiert das Genre der Dystopie, also Erzählungen, welche die Zukunft der Menschheit als Ende der Zivilisation präsentieren, schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts; erinnert sei an H. G. Wells’ Roman Die Zeitmaschine und Fritz Langs Spielfilm Metropolis. Aber in den letzten Jahren haben Dystopien einen immensen Aufschwung erlebt: Beispielhaft sind Dale Pendells Roman The Great Bay. Chronicles of the Collapse von 2010 und die Serie The Handmaid’s Tale von 2017, die auf Margaret Atwoods gleichnamigen Roman zurückgeht.
Zu Beginn von Pendells verstörender Romanhandlung hat auf der Erde der nahen Zukunft die Katastrophe bereits stattgefunden, eine Pandemie, die nicht nur einen Grossteil der Menschheit ausgelöscht, sondern die Überlebenden auch dauerhaft der technischen und institutionellen Möglichkeiten beraubt hat, die zuvor in Jahrhunderten aufgebaut worden waren. Nach diesem grossen Zivilisationsbruch beginnen die Menschen noch einmal ganz von vorn, bauen ihre eigenen ebenso gewaltsamen wie spirituellen Lebensformen in kleinen Gruppen auf und leben in anderer Weise viele Jahrtausende weiter. Die Leitfrage des Romans scheint zu lauten: Wir werden verloren haben – aber was kommt nach der Katastrophe? Heute, nach der Covid-19-Pandemie, liest man Pendell wohl mit anderen Augen. Ähnliches gilt für die TV-Serie The Handmaid’s Tale, die nach dem Sturm aufs Kapitol beim Publikum zusätzliche Irritation hervorruft: Sie spielt in den USA der nahen Zukunft, in denen ein rechtsautoritäres Regime die Macht übernommen hat. In dieser Gesellschaft werden Frauen zu Gebärmaschinen degradiert, und die fundamentalistische Regierung lässt Andersdenkende routinemässig öffentlich hängen. Das Publikum betrachtet die Szenerie aus der Perspektive der von Elisabeth Moss dargestellten «Magd», die um ihre Freiheit kämpft.
Zukunft nach Zivilisationsbruch
Der Film und die Literatur der Gegenwartskultur übernehmen hier auf unheimliche Weise die Aufgabe, Details der Zukunft nach einem Zivilisationsbruch vorzustellen. Die Katastrophe als Ereignis spielt gar keine Rolle mehr, es geht vielmehr um die Herausforderungen der Welt danach, in der die Regeln der liberalen und technisch versierten westlichen Spätmoderne ausser Kraft gesetzt sind. Nun haben Dystopien immer auch die Funktion von Warnutopien: Sie zeigen einen Zustand, den es zu vermeiden gilt. Dies setzt allerdings voraus, dass dieses Szenario alles andere als unrealistisch erscheint. Bemerkenswert aber ist, dass der neue Katastrophismus in Film und Literatur inzwischen auch mit den intellektuellen Entwicklungen einhergeht. So gab es in den letzten Jahren prominente Sachbücher, in denen die Bedingungen des Untergangs vergangener Gesellschaften untersucht werden und zugleich die möglichen Bedingungen, unter denen der Gegenwart Ähnliches droht. Einflussreich waren zum Beispiel das Werk Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen des Evolutionsbiologen Jared Diamond und das Projekt der «Kollapsologie» der französischen Autoren Pablo Servigne und Raphaël Stevens, das sich um die Klimakatastrophe dreht.
Noch grundsätzlicher als die Kollapsstudien wollen es jene sozialwissenschaftlich ausgerichteten Theorien wissen, die seit den 1980er-Jahren eine zentrale Eigenschaft komplexer sozialer Zusammenhänge thematisieren: die Eigenschaft der Nichtlinearität. Nichtlinearität heisst: Eine kleine Ursache kann in der sozialen Welt eine überproportional grosse Wirkung haben. Oder: Viele kleine Ursachen können kaskadenhaft eine solche grosse, womöglich katastrophische Konsequenz haben. So stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus: Gerade zu den weitreichenden gesellschaftlichen Ordnungen, wie sie für die heutige Weltgesellschaft typisch sind, gehört ein hohes Mass an Unberechenbarkeit, die sich hinter der scheinbaren Stabilität verbirgt, welche die Institutionen im Routinemodus ausstrahlen. Die Theorien der Nichtlinearität bieten eine Batterie von Begriffen, um die Umschlagpunkte zu bezeichnen, an denen die Normalität des Bestehenden in eine ungewisse Zukunft «umkippt»: Der kanadische Publizist Malcolm Gladwell spricht vom tipping point, der ungarische Philosoph Ervin Lászlóvom chaos point, die amerikanischen Politologen Robert Axelrod und Michael D. Cohen reden von der «Schwelle», und der Meteorologe Edward Lorenz brachte in den 1970er-Jahren den berühmten Schmetterlingseffekt ins Spiel.
In der Soziologie war es insbesondere Charles Perrows grosse techniksoziologische Studie Normale Katastrophen von 1987, in der der in Yale lehrende Professor beispielhaft die Risiken der Grosstechnik herausarbeitete. Die beunruhigende These dieses Klassikers der Risikosoziologie lautet, dass in den komplizierten Strukturen der Technologie wie etwa der Raum- oder Luftfahrt aus systematischen Gründen Unfälle unausweichlich sind – nämlich dann, wenn triviale und an sich unproblematische Störungen gleichzeitig auftreten und auf unvorhergesehene Weise zusammenwirken. Die Störung wird dann nicht eingedämmt, sondern breitet sich rasch aus – bis zur Katastrophe.
Theorien der Nichtlinearität
Dem gleichen Prinzip «Kleine Ursachen – grosse Wirkungen» folgt das suggestive Konzept des tipping point: Einzelne ähnliche Ereignisse addieren sich demnach – das einzelne Ereignis wäre unbedeutend, aber die Zunahme und Verkettung solcher Ereignisse führt dazu, dass eine ganze soziale Situation «umkippt». Epidemien erscheinen dafür als klassisches Beispiel. Ervin László ordnete 2006 die mögliche Katastrophe einer Klimakrise in seinem populärwissenschaftlichen Buch The Chaos Point. The World at the Crossroads mithilfe der Chaostheorien ein: Sie erkennen auch in scheinbar stabilen Strukturen die Möglichkeit, dass diese infolge einer Störung an bestimmten Punkten in Instabilität umschlagen.
Die Theorien der Nichtlinearität verblüffen, weil sie Zusammenhänge aufzeigen, die kontraintuitiv sind. Der Alltagsverstand geht in der Regel vom beruhigenden Prinzip des Proportionalen aus: kleine Ursachen – kleine Wirkungen, grosse Ursachen – grosse Wirkungen. Nun stellt sich heraus, dass genau das Gegenteil der Fall ist. So wie es Lorenz formulierte, kann der Flügelschlag eines Schmetterlings indirekt auf der anderen Seite der Erde eine Wetterkatastrophe auslösen. Ebenso beruhigt sich der Alltagsverstand häufig dadurch, dass er Stabilität und Chaos einander diametral entgegenstellt: Wenn die Verhältnisse stabil sind, dann scheinen sie weit vom Zusammenbruch entfernt. Die Theorien der Nichtlinearität behaupten jedoch das Gegenteil: Gerade technische oder soziale Zusammenhänge, in denen scheinbar wohlgeordnet die Rädchen ineinandergreifen, sind äusserst fragil, nur wenige Schritte von der Katastrophe entfernt.
Das mag alles reichlich abstrakt und spekulativ klingen. Und tatsächlich haben die Theorien der Nichtlinearität lange eine Existenz am Rande des etablierten Wissenschaftsbetriebes gefristet oder waren ein Problem von Spezialisten der Techniksoziologie. Die Öffentlichkeit interessierte sich kaum für die Schmetterlingseffekte und normalen Katastrophen aus der Nerd-Ecke der Chaostheorien. Innerhalb weniger Jahre hat sich der Wind nun aber gedreht. Der «Game-Changer» ist die Einsicht in den Klimawandel. Dass erdgeschichtlich nach langer scheinbarer Stabilität eine oder mehrere Schwellen überschritten werden können oder womöglich schon wurden, wonach sich negative Klimaeffekte kaskadenhaft einstellen, ist mittlerweile ein Gemeinplatz der Forschung wie der politischen Debatte.
Aber auch die anderen globalen Krisenmomente, die wir seit mehr als zehn Jahren verstärkt erleben, ergeben mithilfe von Theorien der Nichtlinearität Sinn. Stichwort Finanzkrise: Das jahrzehntelang scheinbar stabil funktionierende globale Finanzsystem stand infolge der Verkettung lokaler Ereignisse, die in der US-amerikanischen Immobilienkrise ihren Anfang nahmen, innerhalb weniger Wochen kurz vor der Kernschmelze. Stichwort Covid-19: Der lokale Ausbruch des Erregers auf einem chinesischen Tiermarkt mündete innerhalb kurzer Zeit in eine Pandemie, welche die Welt mindestens zwei Jahre lang in Atem gehalten hat. Stichwort Invasion Russlands in die Ukraine: Zunächst lokal begrenzt, hat sie kaskadenhaft über den gesamten Globus das fragile Gleichgewicht der Energie- und Nahrungsmittelversorgung beeinträchtigt.
Naiver Glauben an Stabilität
Lässt man sich auf diese Perspektive ein, dann fällt es dem selbstkritischen Beobachter wie Schuppen von den Augen: Wie konnten wir nur so naiv sein? Aber diese Naivität eines Glaubens an die Stabilität der Verhältnisse wurzelte selbst in traditionsreichen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Vorannahmen, die man sich bewusst machen sollte. Zentral dafür sind jene Überzeugungen, die sich hinter den Metaphern der Sperrklinke und des Gleichgewichts verbergen. Namentlich die Modernisierungstheorien in den Sozialwissenschaften, die ihre Anleihen an die idealistische Geschichtsphilosophie kaum leugnen können, haben nahegelegt, dass einmal erreichte gesellschaftliche Errungenschaften langfristig stabilen Bestand haben werden und darauf aufbauend nur eine weitere Perfektionierung stattfindet. Seien Demokratie, Marktwirtschaft und Multilateralismus einmal installiert, dann wirke gleichsam der Effekt einer Sperrklinke, der vor dem Rückfall schütze. Ähnlich funktioniert der Glaube an das Gleichgewicht der Märkte in der Ökonomie: Vorübergehende Störungen mag es geben, aber am Ende strebt alles wieder dem Gleichgewicht entgegen.
Der neue Katastrophismus, die Theorien der tipping points und chaos points sowie die künstlerischen Dystopien müssen vor dem Hintergrund dieser Überzeugung, wonach die Geschichte zu Fortschritt und Gleichgewicht tendiere, als irrationale Weltuntergangsszenarien erscheinen. Aber die Theorien der Nichtlinearität sind wohl nur realistisch. Wenn die spätmodernen Gesellschaften nun aus dem Schlummer der Hyperstabilität aufwachen und die Möglichkeit der Katastrophe denken, werden sie gleichsam erwachsen. Es lässt sich ja kaum leugnen: Vielgliedrig vernetzte soziale Zusammenhänge, wie sie die heutigen Gesellschaften kennzeichnen, sind hochgradig anfällig für einzelne Irritationen, die sich kaskadenhaft verdichten und in die Katastrophe münden können. Rasend schnell kann dann alles zur Disposition stehen. Dass die künstlerische Vorstellungskraft in The Great Bay und The Handmaid’s Tale dafür ein Gespür entwickelt hat, macht ihre Faszinationskraft aus.
Dabei muss man keineswegs in jene Apokalyptik abgleiten, die, einer süffisanten Bemerkung Hans Magnus Enzensbergers zufolge, in das Handgepäck der modernen Intellektuellen gehört. Die Theorien der Nichtlinearität sind nicht als Einladungen zum Fatalismus misszuverstehen. Denn die Fragilität heutiger sozialer Ordnungen zu erkennen bedeutet nicht, vor ihr zu kapitulieren. Tatsächlich haben sich die Finanzkrise wie die Covid-19-Krise am Ende als beherrschbar herausgestellt – unter enormen Verlusten und Opfern. Dass man mit der eingebauten Möglichkeit des Kollapses unterschiedlich umgehen und dagegen durchaus Vorsorge treffen kann, ist ebenfalls bereits ein Thema der sozialwissenschaftlichen Theorien.
Namentlich Charles Perrow hat präzise herausgearbeitet, unter welchen Umständen die Anfälligkeit für Katastrophen stärker und unter welchen sie geringer ist. Soziale Einheiten, in denen Aufgaben hochspezialisiert sind und sich nicht leicht ersetzen lassen, erweisen sich als anfälliger. Das Gleiche gilt für jene, in denen die Elemente eng voneinander abhängen und sich gegenseitig bedingen. Das erklärt, weshalb sich die Weltgesellschaft mit ihren globalen Wechselbeziehungen wie Lieferketten und ihren hochspezialisierten Zusammenhängen wie den Finanzmärkten als so fragil erweist. Dagegen gilt Perrow zufolge: Grössere Ersetzbarkeit und geringere Interdependenz machen das Soziale weniger verletzlich. Es ist wohl kein Zufall, dass genau diese Aspekte in der Debatte um das Lernen aus der Covid-19-Krise und dem Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle spielen. Diversifizierung der Lieferketten und die Entkopplung von Abhängigkeiten sind konkrete Beispiele für eine Resilienzstrategie, um nichtlineare Effekte zu vermeiden.
Künstlerische Dystopien
Woher das zur Jahrtausendwende beliebte Bonmot «Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende» stammt, weiss man nicht. Der Satz passte gut ins Sprücheverzeichnis der stabilitätsverwöhnten Westeuropäer*innen am Ende des 20. Jahrhunderts. In seinem freundlichen Optimismus, hinter dem sich ein geschichtsphilosophischer Glaube verbirgt, wirkt er heute nicht mehr zeitgemäss. Es wäre hochgradig riskant, sich in der falschen Sicherheit zu wiegen, die sozialen Ordnungen seien automatisch stabil, statt sich der Verletzlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse bewusst zu werden. Darauf haben die künstlerischen Dystopien ebenso hingewiesen wie die Theorien der Nichtlinearität. Allerdings: Soziale Ordnungen so umzubauen, dass sie weniger anfällig für die grossen Wirkungen der kleinen Ursachen sind, ist eine enorme Herausforderung. Und so schmerzhaft es klingen mag: Eine vollständige Kontrolle der Katastrophen wird nie möglich sein.