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N°1/2022
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Cliquetis – Musique concrète culinaire

HKB-Zeitung ohne ein Rezept. Es empfiehlt sich, dieses zur Kunst – oder anders gesagt, zur Partitur – zu erklären, um von überkandidelten Hygienevorschriften der Lebensmittelkontrolle befreit zu sein.

Text

Roman Brotbeck (*1954) ist freier Musikwissenschaftler, Forscher und Publizist. Von 1997 bis 2014 war er im Management der HKB und ihrer Vorgängerinstitutionen tätig. In dieser Zeit hat er auch diverse Male für 100 bis 200 Leute nach Konzepten gekocht. Eben ist bei Brill Fink seine 660 Seiten umfassende Studie «Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen von 1912 bis 2021 erschienen.» Roman Brotbeck lebt im Südburgund und in Basel.

Letztes Jahr veranstaltete Jars – ein französischer Produzent hochwertiger Gebrauchskeramik – einen Fabrikverkauf, bei dem überschüssige oder nur leicht defekte Waren zum Kilopreis angeboten wurden. Wir schnappten uns Steingutteller, die – wie es die starken Fliessbewegungen der Ascheglasuren zeigen – an der obersten Temperaturgrenze gebrannt wurden und deshalb minimalst verformt sind. Wahrscheinlich hatten sie beim Glasurbrand in einer besonders heissen Ecke des Ofens gelegen. Der Effekt: Beim Essen wird das Besteck zu Schwengeln, die den Tellern helle Glockenklänge entlocken; sie erinnern an die in der neuen Musik beliebten und von Hector Berlioz erstmals eingesetzten Cymbales antiques, nur mit etwas weniger beissenden Höhen. Jeder Teller hat einen anderen Grundton, und man kann sich fürs Essen unterschiedliche Intervalle und Akkorde zusammenstellen, je nach Stimmung auch scharf dissonierende Mikrosekunden.Seither frage ich mich, weshalb die klangliche Seite des Kochens und Essens auch von angesagten Restaurants nicht genutzt wird; da konzentriert sich alles auf das Geschmackliche und Visuelle, schlimmer noch: Auch noch die rudimentärsten klanglichen Möglichkeiten beim Essen werden gemeinhin mit Background-Musik zugedeckt, die wie eine fade Béchamel-Sosse alle Rhythmen, Pausen und Klänge zukleistert. Die Augenässen mit, wird oft gesagt, aber die Ohren? Fehlanzeige. Dabei hat Bernd Alois Zimmermann in der Oper «Die Soldaten» in der als Toccata gestalteten Kaffeehausszene (II. Akt, 1. Szene) schon 1965 vorgeführt, welche polyrhythmischen Überlagerungen mit Geschirr, Gläsern, Tischen und Stühlen möglich sind.Und auch die wunderbaren Zisch-, Schnipsel-, Raspel- und Klopfklänge der Küchen verklingen ungenutzt, weil bis heute in den meisten Restaurants das Konzept des Streichquartett-Konzerts gilt: Backstage konzipieren die Komponierenden ausgefeilte Partituren in Form von Rezepten, die dann von einem Trupp von Interpretierenden aufs Peinlichste genau nachgespielt respektive nachgekocht werden. Wie beim Streichquartett-Konzert – ich könnte als Beispiel auch jedes andere traditionelle Klassik-Konzert nehmen – vernimmt bzw. merkt das Publikum nichts vom langen Üben und Pröbeln in der Küche, vom Streit und von den Diskussionen und von den freudigen Ausrufen, wenn etwas gelingt. Während allerdings beim Streichquartett-Konzert die Ausführenden in schwarzer Konzertkleidung Frontstage auf dem Podium stehen, beschränkt sich in Restaurants die Frontstage-Aktivität auf das schwarz livrierte Bedienungspersonal, welches einem streng reglementierten Bewegungscode folgen muss. Wehe, es würde da jemand beim Servieren (aus der Reihe) tanzen!Um etwas klarzustellen: Ich habe nichts gegen Streichquartette – sie gehören zum Besten, was die Menschheit musikalisch hervorgebracht hat! Und ich habe auch nichts gegen eine hochwertige Gastronomie. Seit die Spitzenköche des Hofs während der Französischen Revolution ihren Job verloren und eigene Restaurants gründen mussten, wurde gutes Essen breiteren Gesellschaftsschichten zugänglich und mit «Le Guide culinaire» brachte Auguste Escoffier die Haute Cuisine mit dem Mittel des Kochbuchs auch in die bürgerlichen Haushalte. Das hat unsere Sinne enorm verändert und differenziert. Aber obwohl die Gastronomie eine enorm innovative Phase durchläuft, sind an den Kochkünsten in den letzten 100 Jahren zentrale Strömungen von Kunst-, Musik- und Theatergeschichte fast spurlos vorbeigegangen: freie Improvisation, Instant Composing, Social Sculpture, Performance, Emanzipation der Dissonanz, Aktionismus, Fluxus, Konzeptkunst etc. Noch erstaunlicher ist, dass sich das Streichquartett-Prinzip des Kochens in den privaten Haushalten perpetuiert. Mit Wänden von Kochbüchern feiert dort das Kochen nach Partitur Urstände, und mindestens bei grösseren Einladungen gilt es, die Fiktion der Backstage-Küche aufrechtzuerhalten. Alle Speisen sind vorbereitet, sodass nicht mehr gekocht werden muss. Nur noch ein kurzes Wegtrippeln, nach ein paar Minuten das Klingpling oder Pipipip moderner Küchengeräte, und schon werden die Speisen mit dem üblichen «Hoffentlich ist es nicht missraten!» aufgefahren. Was sollte denn schon missraten, wenn man nach Partitur kocht?Das Fernsehen und die sozialen Medien haben seit einigen Jahren das Frontstage-Kochen entdeckt. Da wird das Kochen vor dem Studiopublikum bzw. dem Filmteam gespielt. Ich lasse mich davon auch verführen, aber letztlich bedeutet es noch die Steigerung des Streichquartett-Konzepts. Alles ist säuberlich geordnet, in unterschiedliche Schälchen und Löffelchen abgefüllt und abgemessen, und gekocht wird, als müsste man einem Operationsprotokoll folgen. Alles hygienisch sauber wie bei einer Leichensektion, als würden die Verantwortlichen unter einer schweren Mysophobie leiden. Und natürlich auch hier: Keine Klangerotik, keine Musik, das Anbrutzeln in der Bratpfanne bleibt das höchste der Gefühle.Zwar gibt es inzwischen zahlreiche gastronomische Neuerungsversuche, bei denen Backstage und Frontstage nicht mehr so streng getrennt sind und man den Kochprozessen zuweilen sogar zugucken kann. Aber die Exploration des Essens und Kochens fürs Ohr und die musikalische Interaktion zwischen Küche und Essenden ist meines Wissens nach wie vor noch kein Thema. Deshalb hier ein Rezept:

Ein interaktives Kochessklangkonzept für
– 2 Kochende
– 3 Tragende
– 5 frei Improvisierende (Stimme, experimentelle Elektronik, Schlagzeug, andere Instrumente)
– 55 Essende

Instrumentation
Kochstelle in der Raummitte mit Gasbrennern, unterschiedliche Rüstbretter, Kübel und Zuber mit Wasser, 5 grosse, um die Kochstelle herum platzierte Tische mit je 11 Stühlen, 55 Gedecke aus unterschiedlichen Materialien (Holz, Glas, Blech, Aluminium, z.B. auch Kamellen der Schweizer Armee oder Hundenäpfe, Porzellan, zu hoch gebrannte Steingutteller von Jars nach Belieben).

Partitur / Kochrezept
Die Kochenden haben auf beiden Handrücken oder Handgelenken drahtlose Mikrophone aufgeklebt. Sie werden elektronisch verstärkt und manipuliert. Die Gedecke sind klanglich differenziert auf den Tischen verteilt, sodass unterschiedliche Klangfarbenmixturen entstehen; eine sture Trennung von Holz, Glas oder Blech ist zu vermeiden. Auf den Tischen ist das Entrée schon verteilt, und zwar mit Speisen, die man nicht leise essen kann: knackige Salate, Nüsse, Salzbretzeln, Knäckebrot, Karotten, Radieschen etc. Die einzelnen Tische sollten vor dem Auftritt klanglich differenziert eingestimmt werden.Das Stück beginnt mit dem Kochprozess und mit dem Eintritt aller Beteiligten. Die Essenden verteilen sich nach Muttersprache/Dialektherkunft auf die 5 Tische; das muss nicht streng sein, aber doch so, dass jeder Tisch einen deutlich anderen phonetischen Grundklang aufweist.Die Kochenden wählen schnell zu kochende Gerichte, die spannende Rüst-, Brat-, Dämpfgeräusche etc. ermöglichen. Auch mit den Speisen sind Klänge zu erzeugen. Bei den Zutaten und Gewürzen sind die Fibonacci-Zahlen (1-1-2-3-5-8-13-21-34-55) einzuhalten. (Fibonacci-Zahlen sind ein Fetisch der neuen Musik, erhöhen mithin die strukturelle Relevanz und betonen den Kunstcharakter von «Cliquetis»!).Zu Beginn leiten die Kochenden den musikalischen Prozess des Stückes ein; ihre Geräusche werden von der improvisierenden Gruppe aufgenommen und weiterentwickelt und zunehmend auch von den die Vorspeise Essenden aufgegriffen. Die Kochenden sind ihrerseits angehalten, auf diese Entwicklungen zu reagieren und allenfalls den Kochprozess zu verändern. Zentral sind die musikalischen Prozesse; es darf also auch gustative Dissonanzen geben. Den musikalischen Entwicklungen ist freien Lauf zu geben. Die Essenden sind angehalten, miteinander zu reden, damit sich die Sprachklänge mit der Geräuschmusik verbinden. Das darf gerne auch unverständlich sein. Wenn die Speisen fertig gekocht sind, holen die Tragenden von den Tischen jeweils zwei Teller, füllen sie und bringen sie zurück. Es muss sofort gegessen werden und darf nicht abgewartet werden, bis alle bedient sind, damit ein langsames Esscrescendo bzw. -decrescendo entsteht.Während des Essprozesses improvisiert die Gruppe weiter und kann die Beteiligten in musikalisch langweiligen Partien auch zu einem musikalisch konsistenteren Essen auffordern. Nachdem die letzten Teller ausgetragen sind, beginnen die Kochenden im Sinne eines traditionellen Kontrapunktes, lautstark die Kochstelle zu reinigen, zum Beispiel in grossen Zubern. Zum Schluss bringen die Tragenden die Teller zurück und waschen das Geschirr ab. Nur die Gläser bleiben stehen. Bei Minute 55 bricht die Musik der improvisierenden Gruppe wie ein Filmriss ab. Idealerweise sollte dann der letzte Teller abgetrocknet sein.

Ausweitungen
Das Konzept darf frei ausgebaut und auf 89, 144, 233 oder 377 Minuten verlängert werden; weitere Interaktionen können erfunden werden; auch zusätzliche Mikrofonierungen können exploriert werden, z.B. würde ein hitzebeständiges und wasserfestes Mikrofon im Innern eines drei- bis fünfjährigen Suppenhuhns ein drei bis fünfstündiges Simmern und Blubbern à la Morton Feldman oder Brian Eno erlauben. Da bliebe also im Rahmen von «Cliquetis» noch viel zu tun!