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N°2/2021
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Christoph Schneeberger

Der Autor, Künstler und Aktivist Christoph Schneeberger (45) hat für seinen Debütroman Neon, Pink & Blue ein Stipendium der Stadt Bern sowie den Schweizer Literaturpreis erhalten. Im Gespräch erzählt der ehemalige HKB-Studierende, wie er als Dragqueen auftrat, zeitweise obdachlos wurde und schliesslich über viele Umwege zur Literatur fand. 

Christoph Schneeberger trägt bei unserem Treffen eine Kappe und einen Schal mit Totenköpfen. Die Nägel sind schwarz lackiert, allerdings so, als bräuchten sie dringend eine Auffrischung. «Manchmal habe ich auch perfekt lackierte Nägel», lacht Schneeberger, den manche auch als schicke Dragqueen oder als Aufsichtsperson in der Berner Kunsthalle kennen dürften. Aktuell steht Schneeberger als Literat mit seinem Debütroman Neon, Pink & Blue im Mittelpunkt. Er schrieb den Text für seine Masterarbeit, die er 2018 im Rahmen seines Studiums, im Bereich literarisches Schreiben, an der HKB einreichte.
Das Buch, das im Brotsuppe-Verlag erschienen ist, lässt sich in keine Schublade stecken. Für Leser*innen sind die Sprache und Form erst mal gewöhnungsbedürftig. «Er», «sie» oder auch «es» – die Pronomen, mit denen von der Hauptfigur berichtet wird, verändern sich laufend. «X Schneeberger», wie der Künstlername des Autors und des Protagonisten im Buch lautet, erzählt von einer Kindheit im aargauischen Vogelsang, von dem Wunsch, ein Mädchen zu sein, später von Auftritten als Dragqueen in Zürich, von Obdachlosigkeit und Ärger mit den Behörden. «Autofiktion»,nennt Schneeberger sein Werk, das nicht nur über Queer-Erfahrungen berichtet, sondern auch von Verdingkindern und anderen an den Rand Gedrängten. Aus seinem eigenen Leben zu schöpfen und dabei auch Privates über die eigene Familie preiszugeben, sei keine leichte Sache für ihn gewesen, so der Autor. Seine Verlegerin Ursi Anna Aeschbacher ermutigte ihn: «Wenn du einen Preis für dein Buch bekommst, wird deine Familie stolz in der ersten Reihe stehen.» Schneeberger hat nun tatsächlich Preise bekommen. Die Stadt Bern hat ihn mit dem mit 10 000 Franken dotierten Stipendium Weiterschreiben ausgezeichnet. Mit dem mit 25 000 Franken dotierten, vom Bundesamt für Kultur vergebenen Schweizer Literaturpreis hat Schneeberger als einer von acht Ausgezeichneten gar die wichtigste Auszeichnung für hiesige Schriftsteller*innen bekommen. Die Kritiken sind positiv bis überschwänglich. «Fast ein bisschen unheimlich, nicht?», findet Schneeberger. Und natürlich «muss» er jetzt weiterschreiben. Das tut er auch. In seinem Wohnatelier im Schwobhaus, in der Berner Länggasse, wo er gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden lebt. «Ich habe Lust, etwas ganz anderes zu schreiben. Es wird vielleicht ein Krimi», verrät er.  

Foto: Corinne Futterlieb

Aktivist für Flüchtlinge
Schneeberger scheint angekommen zu sein. Das war nicht immer so. «Das Buch resultiert aus einer riesigen Identitätskrise, klar», gibt er unumwunden zu. Er habe ursprünglich eine Wirtschaftsmatur abgeschlossen und angefangen, Philosophie und Soziologie zu studieren. «Als ich gemerkt habe, dass es nur um Zahlen geht, bin ich ausgestiegen.» Sein politischer Aktivismus sei ihm damals wichtiger gewesen. Schneeberger hat sich in den 90er-Jahren für bosnische Flüchtlinge stark gemacht. «Ich glaube, viele Schweizer*innen haben gemerkt, dass etwas nicht stimmt, wenn ein bestens integrierter junger Mensch ausgeschafft wird, statt seine angefangene Lehre abschliessen zu dürfen.» Er selbst reiste zweimal selbst nach Bosnien, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Schneeberger kennt das Prekäre aus eigener Erfahrung. Unter anderem, weil er mit Bürokratie auf Kriegsfuss steht, verlor er zeitweise seine Wohnung. «Ich habe praktisch nie draussen geschlafen, da ich immer bei Freund*innen übernachten konnte», relativiert er die schlimme Zeit. Er habe damals gemerkt: «Ich lebe ein Leben, das nichts mit mir zu tun hat.» Und er habe realisiert, dass in einer akuten Krise das Schreiben nicht zwangsläufig helfe. «Kunst und Leben sind am Ende doch zwei Paar Schuhe.» «Drag saved my life», steht in Schneebergers Buch mit dem Folgesatz «Travestie habe ihr das Leben gerettet.» Im letzten Teil des Buches übernimmt dann auch «X Noëme» die Funktion der Erzählerin. X Noëme ist Schneebergers Name als Dragqueen. Wer an schrille Perücken und künstlich gemachte Brüste denkt, liegt falsch. «Ich trage keine Schichten von Make-up, wie andere Queens das gerne tun, und hasse die in dieser Szene zelebrierte Konkurrenz.» Schneeberger versteht sich als Diseuse, also als eine Künstlerin, die fremde oder selbst geschriebene Texte vorträgt. Seinen ersten Auftritt hatte er im Kulturzentrum Baden. Die alternative Szene sei damals nicht sehr dragfreundlich gewesen und hielt glamouröse Looks für kapitalistisch. Doch als der 19-jährige Schneeberger auftrat, tobte der Saal. «Jedes Mal, wenn ich mich umzog, wurde die Menschenmenge, die mir zujubelte, grösser», erinnert er sich an das Spektakel. Er präsentiert einen Flyer aus dieser Zeit: Eine Schönheit in einem Kleid aus den Zwanzigerjahren ziert den verblichenen Zettel. Zeitweise wünschte sich Schneeberger, eine Frau zu sein. Doch tragische Schicksale, wie jenes der Transsexuellen Coco, die unter den Folgen ihrer angleichenden Operation litt, hielten ihn von diesem Schritt ab.  

Oft geprügelt
«Meine Freund*innen nennen mich Kris, das ist geschlechtsneutral.» Die Welt sei freundlicher geworden, glaubt Schneeberger. Doch die Politik hinke der Realität hinterher. Alte Herren, die einst Begriffe wie «Tschingg» oder «Fräulein» bekämpft hätten, täten sich jetzt schwer mit neuen Genderregeln. Schneeberger ist zweifelsohne ein politischer Kopf – selbst in eine Partei eintreten, das wollte er indes nie. «Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause wollte mich mal in die CVP holen, wahrscheinlich, weil ich wie er Aargauer bin», lacht er. Er habe abgelehnt. Die von Minderheiten erlangten Rechte könnten leider schnell wieder zunichte gemacht werden. «Trittst du als Frau auf, erlebst du fast zwangsläufig Gewalt.» Als Jugendlicher gab sich der in einem rauen Industriequartier wohnende Schneeberger betont männlich. «Ich habe mich oft geprügelt.» Männlich genug war er trotzdem nicht, zumindest nicht für seinen vom Leben verhärteten Grossvater, einen Verdingbuben. Immerhin fand Schneeberger einen Zugang zu dem alten Mann über die Liebe zu den Pflanzen. Das erklärt auch, warum in seinem Buch so viele Bäume und deren lateinische Definitionen vorkommen: «Eine Gemeine oder Gewöhnliche oder eben Hohe Esche – Fraxinus excelsior,» – wächst da etwa frech über einen Kirchturm hinaus. Schneeberger dazu: «Ich liebe Latein und mir gefällt die Idee, dass man mit diesen Bezeichnungen wenigstens etwas ganz genau definieren kann.»