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N°4/2021
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Christian Marcley

Bildender Künstler oder Performer: Mit seinen Arbeiten, die sich in vielen verschiedenen Medien ausdrücken und sich konsequent der Musik und dem bewegten Bild widmen, ist Christian Marclay zu einer wichtigen Stimme der internationalen Gegenwartskunst geworden. Nun besucht er die HKB, um mit 10 Pianist*innen seine Performance Investigations aufzuführen. 

Christian Marclay arbeitet mit Sound, Tonträgern, Partituren, gefundenem Material, bewegtem Bild, Fotografie, Malerei, immer wieder mit Plattencovern und vielem mehr. Trotz seiner medialen Offenheit gibt es eine Konstante in seinem Schaffen: Es ist die Musik. Seine Performance Tabula rasa (2003) mag dies illustrieren. Auf der Bühne steht Marclay an seinen drei Plattenspielern, jedoch ohne Vinylplatten. Neben ihm positioniert sich Florian Kaufmann an einer Schneidemaschine, mit der man Langspielplatten im Einzelverfahren herstellen kann (sogenannte Dubplates). Die Performance startet mit dem Grundrauschen und den Systemgeräuschen der Plattenspieler und der Verstärkeranlage. Marclay klopft, dreht, schüttelt, manipuliert die Plattenspieler auf vielfältige Weise, sodass sie noch mehr Geräusche produzieren. Florian Kaufmanns Schneidesystem zeichnet alles auf, nach rund 15 Minuten ist die erste Platte fertig geschnitten. Er reicht sie an Marclay weiter, der jetzt die erste – freilich nur einseitig bespielte – Platte auflegen kann, die ausschliesslich Sounds aus dem eigenen System enthält. Marclay spielt und traktiert nun diese Platte, während Kaufmann schon die zweite Platte aufnimmt. Nach einer Stunde hat Marclay bereits vier Platten zur Auswahl, auf denen die vielfach überlagerten Geräusche der eigenen Produktionsmittel enthalten sind. Es ist, als würden sich die beiden Performer an den eigenen Haaren aus dem musikalischen Sumpf ziehen. Tabula rasa verbindet Aspekte der Musique concrète mit der Performancetradition und produziert nebenbei Originalkunstwerke. Es erinnert in einigen Aspekten an die berühmte Arbeit I am sitting in a room (1969) von Alvin Lucier, in welcher ein Text in einem Raum immer wieder abgespielt und neu aufgenommen wird, bis die Eigenresonanzen des Raumes so stark werden, dass nur noch ein Klangrauschen übrig bleibt. Marclays Tabula rasa funktioniert quasi umgekehrt, sie geht nicht vom Konkreten ins Abstrakte, sondern vom allgemeinen Systemsound hin zum konkreten Original einer Schallplatte und nobilitiert das prinzipiell unerwünschte Geräusch zum zentralen Inhalt. Vor zwei Jahren entstand die Idee, Marclays Komposition Investigations an der HKB aufzuführen. Durch die Pandemie musste der Anlass zweimal verschoben werden. Auch diese Arbeit verbindet verschiedene Elemente des Musikmachens auf geschickte Weise und auch hier schlägt er die Brücke zwischen visuellem Material und klingendem Moment. 100 Fotografien von Händen von Pianist*innen in Aktion am Klavier bilden die Partitur. Die Interpret*innen – in unserem Fall Studierende und Dozierende – komponieren nun selbst die Musik, die sie auf den Fotos zu hören glauben, und notieren sie unter den Fotografien. Im Konzert geben die zehn Musiker*innen ihre musikalischen Untersuchungen – also ihre Investigations – simultan und in zufälliger Reihenfolge wieder. Investigations definiert damit das Rollenverständnis von Autor*in und Interpret*in, die Funktion von deterministischer Partitur und zufälliger Wiedergabe, das Verhältnis zwischen Fotografie und Geschichte auf ganz eigene Weise. Keine zwei Aufführungen werden je dasselbe Resultat liefern. Im März 2020 war Christian Marclay bereits einige Tage in Bern, um mit HKB-Dozent Antoine Françoise und Gastdozent Jacques Demierre sowie acht Studierenden die Performance zu proben. Am 15. und 16. Dezember 2021 ist es nun im Menuhin-Forum so weit, und mit beträchtlichem logistischem Aufwand werden zehn Flügel auf der vergrösserten Bühne installiert, was rein visuell ein eindrückliches Bild liefern dürfte. Nach den Konzerten besteht die Möglichkeit, sich mit den Musiker*innen und dem Künstler an der Bar auszutauschen, und in einer kleinen Ausstellung wird man auch die sehenswerte Partitur betrachten können.  

 

Bildhauer der Musik
Man könnte Christian Marclay durchaus als Bildhauer der Musik bezeichnen. Er hat in den letzten Jahrzehnten in diesem Zwischenbereich einige pionierhafte Werke realisiert, die in den Katalog der Kunstgeschichte eingegangen sind. Er widmet sich stets der Musik und ihrer medialen Vermittlung, spielt virtuos mit Inhalt und Trägermaterial, aktueller Erscheinung und Erinnerung, physischen und flüchtigen Aspekten des Musikmachens, auch wenn längst nicht alle seine Werke klingend sind. In der Schweiz wurde er bereits 1989 einem grösseren Publikum bekannt, als er die Shedhalle der Roten Fabrik Zürich mit 3 500 Langspielplatten als Bodenbelag ausstattete. Man lief über die Installation und hinterliess seine Fussspuren auf Platten, auf denen ebenfalls Schrittgeräusche festgehalten waren. Ja selbst lautlose Videoinstallationen, in denen der Soundtrack bloss im Kopf des Publikums losgeht, hat er geschaffen. Auch seine vielleicht berühmteste Videoarbeit, The Clock, mit der er an der Biennale Venedig 2010 den Goldenen Löwen gewann und die in Echtzeit unzählige Ausschnitte von Hollywoodfilmen aneinanderreiht, hat einen musikalischen Vorläufer: das Video Quartet von 2002. Hier laufen, parallel auf vier Grossleinwänden zu einem XL-Breitbild vereint, Clips aus der Kinogeschichte mit Musikausschnitten von Louis Armstrong über die Marx Brothers bis zu Meryl Streep in einer lustvollen Kakofonie, die man nie ganz zu fassen kriegt. Es ist ein Feuerwerk an popkulturellen Referenzen.  Christian Marclay, Jahrgang 1955, wuchs in Genf auf, studierte an der dortigen Kunsthochschule sowie in New York und Boston und lebt heute in London. Eine formale Musikausbildung hat er nie beansprucht. Bereits in seiner ersten Band, dem Duo The Bachelors (der Name spielt auf eine Arbeit von Marcel Duchamp an), setzte er den Plattenspieler als eigenständiges Instrument ein. Marclay hat früh das grosse Potenzial dieses für die Musikkultur so wichtigen (Re-)Produktionsmittels erkannt, noch bevor Hiphop sich dessen bemächtigte. Inzwischen werden seine Werke auf der ganzen Welt gezeigt, im Moment läuft gerade in Japan eine Show und nächstes Jahr widmet das Centre Pompidou in Paris dem Künstler eine eigene Ausstellung. Die Beispiele zeigen: Die Spannungsfelder von Klang, Bild und Raum, die Gegensätze von gespeicherter und Live-Musik, die Unterschiede zwischen klingender, visualisierter und materialisierter Musik und alle Übergangsstadien dazwischen sind Marclays Reservoir für fortlaufende Variationen eines Themas, dem er seit den Anfängen seiner Karriere treu geblieben ist. Mit Investigations, 2018 in Huddersfield, England, uraufgeführt und zum ersten Mal in der Schweiz zu erleben, gehen diese künstlerischen Untersuchungen wieder einen Schritt weiter.