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N°1/2023
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Aus der Halbdistanz

Der Pingpongtisch ist ein Spiegel: Sinnbild für die Einsamkeit des Menschen, aber auch Schlachtenmodell, Schauplatz kultureller Aushandlung und Arena des Feingliedrigen. Andi Schoon, Co-Leiter Y Institut, über sein Hobby mit mindestens globalen Dimensionen.

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Co-Leiter Y Institut

Ich habe Tischtennis von meinem Bruder gelernt, der ein gutes Jahrzehnt älter ist als ich. So kommt es, dass ich im Stil der 1970er-Jahre spiele. Nach dem Aufschlag mache ich einen Schritt nach hinten und spiele die Bälle aus der sogenannten Halbdistanz. Das tut heute kein Mensch mehr, es ist auch völlig ineffizient, ich bin aber der Meinung, dass es viel besser aussieht als das verbissene Spiel vorne an der Platte. Und mir scheint, dass dieser äusserliche Aspekt in der Weltgeschichte des Herren-Tischtennis eine gewisse Rolle gespielt hat (Damen-Tischtennis wäre eine andere Geschichte).

Im Einzelfinale der WM 1971 stand der 18 Jahre alte Schwede Stellan Bengtsson. Sein Einzug ins Endspiel war angesichts der asiatischen Konkurrenz bereits ein Sensationserfolg. Auf der Gegenseite der japanische Titelverteidiger Shigeo Ito. Dessen Prinzip war es, die Energie des Gegners umzunutzen. Die langen Noppen seines Schlägers waren gleichmütig, sie gaben das, was bei ihnen ankam, als Echo zurück. In den Satzpausen sassen Ito und sein Teamkollege schweigend nebeneinander, während Bengtsson und seine Leute sich lebhaft besprachen. Die Aufgabe hatte eine philosophische Komponente, denn der Schwede musste quasi gegen sich selbst spielen. Trotzdem wirkte er nicht überfordert. Bengtsson machte unablässig Druck, aber nicht mit der Brechstange. Nach dem Aufschlag entfernte er sich stets einen Schritt von der Platte und spielte seine Topspins in Seelenruhe. Irgendwie schaffte er es trotzdem, kompakt zu bleiben.

Vorbei die Zeiten, in denen Tischtennis ein Tanzsport für dünne Menschen mit dicken Brillen gewesen war, die Spieler leichtfüssig herumhuschten und sich gelegentlich nach einem Schlag um die eigene Achse drehten – fast so, als wollten sie den Gegner gar nicht ausspielen, sondern sich die Bälle möglichst formschön zuschanzen. In diesen Anfängen war die Herkunft aus dem englischen Adel noch sichtbar. Ab den 1920er-Jahren dominierte das schnörkellose Stakkato vornehmlich jüdischer Osteuropäer. Deutschland zog sein Team für die WM 1934 zurück, weil man befürchten musste, sich gegen aschkenasisch besetzte Mannschaften bis auf die Knochen zu blamieren. Erst in den 1950ern gingen Zepter und Stab an die Japaner, die das Spiel mit Effet – den angeschnittenen Ball auf abgelenkter Flugbahn – perfektionierten.

Stellan Bengtsson war durch ebendiese japanische Schule gegangen, er hatte in Nagoya trainiert. Seine Bälle flatterten, flogen um Kurven, und wenn er ihnen Unterschnitt gab, schwebten sie wie Seifenblasen. Vor allem aber kannte er das Prinzip der Effet-Spiegelung, und das kam ihm in diesem Einzelfinale zugute. Statt zu verzweifeln, steigerte Bengtsson Itos rotierende Rückgaben zu noch komplexeren Schnittmustern. Zeitweise wirkte es, als sei der Ball elektrisch geladen. Und obwohl das Spiel auf Messers Schneide stand, war dem Publikum bereits im zweiten Satz klar, Zeuge eines Machtwechsels zu sein, einer Staffelübergabe. Nach dem Sieg weinte Bengtsson, ein engelsgleicher Junge mit Brian-Jones-Frisur. Ito reichte ihm sein Handtuch, damit er sich vor den Interviews die Tränen abwischen konnte. Einem Reporter sagte Bengtsson mit gesenktem Blick ins Mikrofon: «Ich möchte mich vor meinem Gegner, seinem Team und dem gesamten japanischen Volk verneigen.» Dann verliess er die Halle.

Der Pingpongtisch ist ein Spiegel: Sinnbild für die Einsamkeit des Menschen, aber auch Schlachtenmodell, Schauplatz kultureller Aushandlung und Arena des Feingliedrigen. Allein die gängigen Schlägerhaltungen sind hochsymbolisch. In Europa wird bevorzugt mit Shakehand gespielt, so als sei die Geste eines Vertragsabschlusses in die Schlagtechnik gesickert. Im asiatischen Raum ist Penholder dominant, der Griff als Ausdruck und Verlängerung einer alten Schriftkultur. Legendär ist die Rolle der Sportart in der Ost-West-Annäherung: Während besagter WM 1971 befreundeten sich chinesische und US-amerikanische Spieler, woraufhin eine Einladung der gesamten US-Mannschaft nach Peking erfolgte. Wenig später verabredete sich Nixon mit Mao – das erste Spitzentreffen beider Länder seit dem Koreakrieg, vermittelt durch die als solche in die Geschichtsschreibung eingegangene Ping-Pong-Diplomatie.

Was übrigens gemeinhin übersehen wird: Auch Fred Perry war mal Tischtennis-Weltmeister, als 20-Jähriger. Das war lange vor der Gründung seiner berühmten Kleidermarke und den Siegen im Tennisturnier von Wimbledon, nämlich 1929 in Budapest. Perry entstammte der Arbeiterklasse, aber das Turnier war vom schwerreichen Bankenerbe Ivor Montagu organisiert worden, der nicht nur die London Film Society, sondern eben auch den Tischtennis-Weltverband gegründet hat. Im Zweiten Weltkrieg wurde Montagu vom MI5 beschattet, weil man die exzentrische Pingpongbegeisterung für ein Deckmanöver hielt. Was nicht stimmte, denn die Begeisterung war echt. Unabhängig davon arbeitete er tatsächlich für den russischen Geheimdienst, Codename Intelligentsia. Tischtennis spielte er – wie natürlich auch Fred Perry – in langen Hosen.

Mit dem athletisch-aggressiven Spiel der Gegenwart kann ich offen gestanden nicht viel anfangen. Technik und Tempo sind unglaublich, aber gerade das nervt beim Zuschauen. Die Ballwechsel sind kurz und intensiv, ein bisschen wie im Serve-and-Volley-Tennis der 1980er-Jahre. Ich möchte all diesen Kraftpaketen zurufen: Lasst ab vom Siegeswillen! Macht einen Schritt zurück und nehmt die Bälle erst an, wenn sie schon etwas an Geschwindigkeit verloren haben. Sieht einfach besser aus und könnte eventuell einem höheren Zweck dienen.